Der Ernstfall
Die Ereignisse im US-Wahlkampf überschlagen sich. Alles scheint nun möglich zu werden. Auch das Schlimmste.
Von Daniel Binswanger, 03.10.2020
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Er bleibt das Genie der Reality-TV-Groteske. Der Mann, der am Mittwoch in Minnesota die aus Somalia stammende Kongressabgeordnete Ilhan Omar, deren Vater im Juni an Covid-19 gestorben ist, mit obszönen, rassistischen Hassreden überzog; der Mann, der seinem ausschliesslich weissen Publikum zu verstehen gab, Covid-19 sei kein Problem, weil man «gute Gene» habe in Minnesota und das evolutionsbiologische «Pferderennen» gewinnen werde; der Mann, der auch an diesem Mittwoch wieder behauptete, dass das Virus «praktisch niemanden ansteckt» und dass die USA die Epidemie «hinter sich gelassen haben» – der Mann wurde am Donnerstag positiv getestet. Wir wünschen ihm und der First Lady, dass ihnen das Schicksal erspart bleibt, das inzwischen über 207’000 amerikanische Bürger ereilt hat, und dass ihre Gesundheit schnell und vollständig wiederhergestellt wird.
Kann die Führungsmacht der freien Welt noch tiefer sinken? Machen wir uns keine Illusionen: Der liberale Verfassungsstaat, die Wertegemeinschaft der westlichen Demokratien befinden sich in akuter Gefahr, und sie ist nicht primär medizinischer, sondern politischer Natur. Die Vereinigten Staaten haben mit der Präsidentschaftswahlkampf-Debatte ein traumatisches Medienereignis hinter sich und sind auf Kurs in eine Verfassungskrise.
Zu glauben, dass die Implosion des amerikanischen Politiksystems nicht auch für uns epochale Konsequenzen hätte, wäre von unverzeihlicher Naivität. Es liegt offen zutage, welche Kräfte sich in Europa mit Donald Trump identifizieren, und es steht ausser Zweifel, welche politische Dynamik es rund um den Globus befeuern wird, wenn der US-Regierungschef die Wahlen zum Entgleisen bringen kann. Was in den USA ausgefochten wird, ist nicht ein Kampf ums Präsidentenamt. Es ist ein Kampf um die Demokratie.
Bereits am Dienstag wurde eine entscheidende symbolische Grenze überschritten: Anders kann die tiefe Verstörung über die Beschimpfungs-, Beleidigungs- und Lügenorgie, die Trump während der Kandidatendebatten veranstaltet hat, nicht erklärt werden. Im Grunde ist kaum verständlich, weshalb der amerikanische Präsident überhaupt noch über die Fähigkeit verfügt, die Leute zu schockieren. In seinem Fernsehduell mit Joe Biden war sein Auftritt zwar noch aggressiver, als wir es bereits von ihm kennen, aber keine seiner Provokationen, nicht eine einzige seiner Falschbehauptungen war überraschend oder neu. Die Heftigkeit der Reaktionen lässt allerdings keinen Zweifel: Das war nicht bloss eine weitere Episode in der endlosen Kette von Peinlichkeiten, mit denen Trump uns nun schon seit über fünf Jahren traktiert. Das ist der Ernstfall.
«Es ist eine Schande», sagte ein aufgewühlter Jake Tapper über das Duell. Der Anchorman von CNN müsste theoretisch abgehärtet sein: Mehrfach hat er Interviews mit Trump geführt, in denen Trump die allerhaarsträubendsten Statements platzierte. Ezra Klein, der vermutlich scharfsinnigste Kopf der US-Medienlandschaft, sagte über die Debatte: «Sie war durchdrungen von Trumps Verachtung für die amerikanische Demokratie.» Bob Woodward, eine der erfahrensten und abgeklärtesten Stimmen in Washington, rief den Kongress dringend dazu auf, sofort mit einer überparteilichen Initiative die Kontrolle über das Wahlprozedere an sich zu reissen und einem Putschversuch durch den Präsidenten zuvorzukommen. Und Thomas Friedman schliesslich, der hochdekorierte «New York Times»-Kommentator, fällte dieses Urteil: «Unsere Demokratie ist in grösserer Gefahr als je seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg.»
Die Liste liesse sich beliebig verlängern. Seit Dienstagabend sind Zweifel, was es geschlagen hat, definitiv nicht mehr möglich. Was bis vor kurzem wie ein spekulatives Worst-Case-Szenario erschien – Trumps Versuch, gegen das Verdikt der Urnen die Macht an sich zu reissen –, ist heute die plausibelste Perspektive. Die Covid-Infektion des Präsidenten macht die Unsicherheit und das Chaos nun perfekt.
Weshalb hat sich die Bedrohungslage so dramatisch verschärft? Die Szenarien, wie Trump im wahrscheinlichen Fall einer Wahlniederlage das Resultat bestreiten und die Macht an sich reissen könnte, sind sehr konkret geworden. Der Schock der Debatte dürfte auch deshalb so gross sein, weil der Präsident mit seinen Plänen gar nicht hinter dem Berg hält. Es liegt alles offen zutage. Es reicht, Trump zuzuhören.
Bereits ergeben sich Hunderte Möglichkeiten, in einzelnen Bundesstaaten die Wahlergebnisse juristisch anzufechten, umso mehr, als viele Staaten die Briefwahl ausgeweitet haben und teilweise immer noch Unsicherheit darüber herrscht, was die präzisen Spielregeln sind, in welchem genauen Zeitraum etwa die Stimmcouverts per Post zurückgeschickt und in welchem Zeitraum die Bulletins gezählt werden können. Trumps legal team ist dabei, die Bundesstaaten mit einer Flut von Klagen zu überziehen, von denen jede einzelne das Potenzial hat, die Legitimität des Wahlverfahrens noch etwas stärker zu beschädigen.
Dass Trump auf dem Rechtsweg versuchen wird, die potenziell relativ lange dauernde Auszählung von Briefwahlstimmen vorzeitig zum Abbruch zu bringen und sich auf diesem Weg eine fiktive Mehrheit zu sichern, steht ausser Frage. Er hat auch ganz offen ausgesprochen, dass die Neubesetzung des offenen Richteramts am Supreme Court deshalb so dringlich ist, weil dort über die Auszählungen wohl letztinstanzlich entschieden werden wird. «Seine Richterinnen» sollen das entscheiden.
Das Einzige, was die juristischen Sabotageversuche noch unterbinden könnte, ist ein sehr eindeutiges Resultat. Sollte Biden einen Erdrutschsieg davontragen (oder Trump eine deutliche Mehrheit erreichen), würden alle diese Manipulationsversuche an den Mehrheitsverhältnissen nichts mehr ändern. Es ist nicht auszuschliessen, dass es tatsächlich zu einem deutlichen Biden-Sieg kommen wird – umso mehr, als Trump seine eigene Wählerbasis mit der Strategie der Hypereskalation noch einmal verkleinern dürfte. Immerhin: Mit viel Glück dürfte der Worst Case vermieden werden.
Doch selbst wenn es Trump nicht gelingen wird, den Wahlprozess juristisch zu sabotieren, bleibt immer noch die Frage, wie die gewaltbereiten Extremisten, insbesondere die zahlreichen rassistischen Bürgerwehren, auf seine Abwahl reagieren werden. Demonstrationen? Strassengewalt? Terrorakte? Das «Stand back and stand by» (Steht zurück und haltet euch bereit), das Trump in der Debatte mit Biden an die paramilitärischen Milizen richtete, die zu denunzieren er sich weigert, ist de facto eine Bürgerkriegsdrohung. Wozu sollen bis an die Zähne mit Kriegswaffen ausgerüstete, gewalttätige Rechtsextremisten sich bereithalten?
Auch wenn im Januar Joe Biden als nächster amerikanischer Präsident eingeschworen wird, ist der Schaden, den dieser Wahlkampf anrichtet, gar nicht abzusehen. Trump hat das Wahlprozedere schon heute für seine Anhängerinnen vollständig delegitimiert. Im Falle eines demokratischen Sieges werden die USA künftig mit einer mächtigen Minderheit leben müssen, die überzeugt sein wird, betrogen worden zu sein. Es wäre verblüffend, wenn das Land in den nächsten Jahren nicht ein massives Problem mit rechtsextremem Terrorismus bekommen würde.
Letztlich ist es sehr einfach: Politische Institutionen sind immer nur so verlässlich wie die Menschen, die sie kontrollieren. Öffentliche Debatten sind immer nur so demokratisch wie die Meinungsführer, die sie beherrschen. Demokratie ist nicht die zensurfreie Entfesselung der niederen Instinkte, sondern das gemeinsame Ringen um Vernunft. Nicht nur dass alle eine Stimme haben, ist entscheidend, sondern wie miteinander geredet wird. Wir können noch gar nicht absehen, wie nachhaltig die Trump-Präsidentschaft die demokratische Debatte beschädigen wird.
Wer allen Ernstes geglaubt hat, es diene seinen ideologischen Zielen, wenn die USA von einem zynischen Psychopathen regiert werden, ist definitiv kein Freund der Demokratie. Auch bei uns wird es darauf ankommen, sich dieser simplen Einsicht nicht länger zu verschliessen.
Illustration: Alex Solman