Wikileaks-Gründer Julian Assange wehrt sich in London vor Gericht gegen die Auslieferung an die USA. Phillip Toledano/Trunk Archive

«Julian Assange ist verantwortungs­voll mit den Daten umgegangen»

Ein Informatikprofessor aus Biel widerlegt im Auslieferungs­verfahren gegen den Wikileaks-Gründer den zentralen Punkt der Anklage. Begegnung in einem Berner Schnellimbiss.

Von Daniel Ryser, 01.10.2020

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Der Bieler Professor Christian Grothoff hat keine Ahnung, wer M. I. A. ist. Schade eigentlich. Schon allein wegen ihres spektakulären, verstörenden und kontrovers diskutierten Ausblicks auf das Trump-Zeitalter aus dem Jahr 2010, des zehn­minütigen Videos zu ihrer Single «Born Free». Darin werden in einer alternativen Realität Rothaarige als verfolgte ethnische Minderheit von para­militärischen US-Truppen zu Tode gejagt.

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M.I.A, Born Free

Dafür weiss M. I. A. aber, wer Christian Grothoff ist.

M. I. A. – jene englische Rapperin, die 2012 von der NFL auf eine Million Dollar Schaden­ersatz verklagt worden war, weil sie während ihres Super-Bowl-Pausen­auftritts mit Nicki Minaj und Madonna den Mittel­finger in die Kameras gehalten hatte. Oder 2016: Verklagt vom Fussball­club Paris Saint-Germain, weil sie im Video zu ihrem Song «Borders» ein T-Shirt des französischen Vereins trug und dabei den Schrift­zug des Sponsors «Fly Emirates» in «Fly Pirates» abgeändert hatte.

Die 45-jährige Musikerin und politische Aktivistin setzt sich derzeit mit zahl­reichen Künstlerinnen, darunter Ai Weiwei oder Designerin Vivienne Westwood, dafür ein, dass Wikileaks-Gründer Julian Assange nicht an die USA ausgeliefert wird. Seit dem 7. September läuft an einem Londoner Gericht die zweite Runde des Auslieferungs­verfahrens, das wegen Covid-19 im April unterbrochen worden war. Die USA beschuldigen Assange, mit der Veröffentlichung von 250’000 Depeschen aus US-Botschaften das Leben von Diplomaten und amerikanischen Helfern weltweit gefährdet zu haben.

Der Zeuge aus der Schweiz

M. I. A. war es möglich, das Verfahren per Video­stream live zu verfolgen – was alles andere als selbst­verständlich ist: Im Gericht waren für die neue Anhörungs­runde nur noch fünf Journalistinnen und ein paar wenige Gäste zugelassen, diversen Prozess­beobachtern wie Amnesty International wurde am ersten Anhörungs­tag kurzfristig der Zugang verweigert, zugesagte Beobachter­plätze wurden gestrichen, ihnen wurde zusammen mit vierzig anderen Organisationen oder akkreditierten Medien die Möglichkeit entzogen, das Verfahren wenigstens per Stream verfolgen zu können.

Dieser Vorgang wurde laut Amnesty International nicht weiter begründet und sei «sehr beunruhigend». «Mit diesem Schritt missachtet das Gericht das Grund­prinzip der Öffentlichkeit», schrieb die Menschenrechts­organisation: «Konkret, dass internationale Prozess­beobachterinnen nachvollziehen können, ob nationales und internationales Recht eingehalten wird.» Und dies in einem Verfahren, in dem die Recht­sprechung sowieso ziemlich eigenwillig interpretiert wird. Assange, dem der Zugang zu seinen eigenen Anwälten in den letzten sechs Monaten verweigert worden war, sitzt mittlerweile seit 16 Monaten ohne juristische Grundlage in Isolations­haft, was – Grundlage hin oder her – als Folter gesehen werden muss. (Sein Vergehen, der Verstoss gegen Kautionsauflagen, wird in Grossbritannien normaler­weise nicht einmal mit einer kurzen Gefängnis­strafe geahndet.)

M. I. A. also war es möglich, den Prozess live zu verfolgen.

Und am Morgen des 21. September twitterte die Rapperin:

«Ich beobachtete diesen Zeugen. Ziemlich intensive Befragung, sogar die Richterin wurde wütend wegen des schonungs­losen Kreuz­verhörs, das er zu erdulden hatte. Ich empfehle es allen: Studiert bei Professor Dr. Christian Grothoff. Grothoff ist Professor der Informatik in der Schweiz. Er war brillant.»

Tweet von @MIAuniverse

Am Tag darauf rief ich den Informatik­professor an.

«Mit dem nötigen Fach­wissen lässt sich alles Schritt für Schritt nachvollziehen»: Christian Grothoff. Martin Gross/youtube/gnunet

«Können Sie mir sagen, was da los war?», fragte ich.

«Ja, natürlich», sagt er. «Nach meinem Auftritt vor Gericht ist es mir jetzt erlaubt, meine Erkenntnisse mit der Presse zu teilen.»

«Sie waren Zeuge im Assange-Prozess?»

«Ja», sagte Professor Grothoff. «Ich habe meine Expertise dem Gericht zur Verfügung gestellt, einen dicken Stapel Unterlagen.»

«Was für eine Expertise?»

«Ich sollte im Auftrag der Verteidigung nach bestem Wissen und Gewissen analysieren, wie es dazu kam, dass die Diplomaten­depeschen, die Chelsea Manning Wikileaks übergeben hatte, später komplett ungeschwärzt im Internet kursierten. Das ist ja eigentlich einer der zentralen Anklage­punkte: Diese Publikation der gesamten Depeschen. Wer hat sie zuerst ins Netz gestellt? Wikileaks, wie es die USA behaupten?»

«Haben Sie eine Antwort gefunden?»

«Mit dem nötigen Fach­wissen lässt sich alles Schritt für Schritt nachvollziehen.»

Wir trafen uns einen Tag später zum Abend­essen in einem chinesischen Imbiss in der Berner Altstadt.

«Die Hauptschuld liegt beim ‹Guardian›»

Und die Geschichte, die der Bieler Professor Christian Grothoff an jenem Abend im September zu erzählen hat, ist höchst erstaunlich.

Assange-Unterstützerinnen: Chelsea Manning (Mitte) und Dame Vivienne Westwood, hier mit ihrem Mann Andreas Kronthaler. David M. Benett/Getty Images

Zehn Jahre lang behaupteten die US-Behörden (ohne jemals einen einzigen Beweis dafür zu erbringen), dass Julian Assange Menschen­leben gefährdet habe, weil er die ihm von Chelsea Manning anvertrauten diplomatischen Depeschen der US-Regierung komplett und einfach so ins Netz gestellt habe, und deswegen sei Assange kein Journalist.

Die Erzählung von der Gefährdung hat sich bis heute gehalten, obwohl Mitarbeitende des State Department bereits Ende 2010 gegenüber dem US-Kongress hatten durchsickern lassen (während die Obama-Administration öffentlich das Gegenteil behauptete), dass Wikileaks die USA zwar blossgestellt habe, dabei aber niemand zu Schaden gekommen sei.

Bei seiner Analyse fand Grothoff zudem heraus: Die Behauptung – ein zentraler Anklage­punkt der US-Justiz –, Wikileaks habe als erste Quelle die Depeschen komplett und unbearbeitet ins Netz gestellt und sei deshalb unter dem «Espionage Act» zu verfolgen, ist nachweislich falsch. Mit dem nötigen Fach­wissen sei im Netz nachvollziehbar und unzweifelhaft belegbar, so Grothoff in seiner Expertise, dass Wikileaks erst im Nachgang die gesamten Depeschen publiziert habe – nachdem diese von anderen Quellen bereits online gestellt worden waren.

Der Informatiker Christian Grothoff mit akademischen und beruflichen Stationen in Los Angeles, Denver, München und Rennes ist ein international angesehener Fachmann unter anderem für Verschlüsselungs­techniken, aber auch in der Analyse von Peer-to-Peer-Netzwerken und der Überlastung von Servern zum Beispiel durch sogenannte DDOS-Angriffe.

Kurz: Grothoff vereint so ziemlich das ganze Fach­wissen, das in dieser Angelegenheit gefragt ist.

«Es ist im Übrigen so, dass Assange die diplomatischen Depeschen derart gut geschützt hat», sagte Grothoff im Gespräch mit der Republik und auch vor Gericht, «dass sie auch von der NSA nicht hätten geknackt werden können.»

Das Bild, das Grothoff stattdessen zeichnet, ist ein Armuts­zeugnis für den Journalismus: Die Journalisten des «Guardian», mit denen sich Assange bald überwarf, hefteten sich wie Blut­sauger an den Wikileaks-Gründer, um mit seiner Hilfe die grossen Geschichten fahren zu können. Der «Guardian»-Journalist David Leigh übte dabei massiven Druck auf Assange aus: Er solle ihm das Passwort für die verschlüsselten Depeschen nennen, für den Fall, dass Assange verhaftet werde und dann keine weiteren Geschichten mehr publiziert werden könnten.

Die Quelle dafür: das Buch «Wikileaks: Inside Julian Assange’s War on Secrecy», das David Leigh im Februar 2011 selbst publiziert hatte. Dort steht auch, Assange habe schliesslich eingewilligt, Leigh das Passwort auszuhändigen – mit der eindringlichen Bitte, es niemals irgendwo als Ganzes aufzuschreiben.

«Assange, das steht in meiner Expertise für das Gericht, ist verantwortungs­voll mit den Daten umgegangen», sagt Grothoff. «Das lässt sich alles nachvollziehen und belegen.» Doch was nach der Passwort­übergabe passiert sei, könne er als Fachmann nur als «grob fahrlässig» bezeichnen, und zwar nicht von Wikileaks, sondern vom «Guardian»: «Der Journalist David Leigh schwatzt Julian Assange das Passwort ab – und dann publiziert er es ein paar Monate später als Kapitel­titel in seinem Buch ‹Inside Wikileaks›.»

Ja, Sie haben richtig gelesen.

Das Passwort, 58 Buchstaben, Ziffern und Sonder­zeichen, als Überschrift in einem Buch. Der «Guardian»-Journalist habe später behauptet, er sei davon ausgegangen, das Passwort sei veraltet gewesen. Als Verschlüsselungs­experte, sagte Grothoff, müsse er entgegnen, dass man in der Pflicht sei, sich zu informieren, mit welcher Technik man es zu tun habe, wenn man mit derartig sensiblen Daten operiere.

Es dauerte nicht lange, da wurde in den Medien (namentlich im «Freitag» und im «Spiegel») ein Zusammen­hang zwischen dem Passwort aus dem Buch des «Guardian»-Journalisten und der Depeschen-Datei hergestellt, die nach massiven sogenannten DDOS-Angriffen auf den Wikileaks-Server (Angriffe, um den Server lahmzulegen) und Spiegelungen ebenjenes Servers durch Dritte irgendwo unkontrolliert als Kopie in den Weiten des Netzes umherschwirrte. Am 1. September 2011 sei diese dann unverschlüsselt auf einer Plattform namens «Cryptome» aufgetaucht.

Tatsächlich sagte der Betreiber von «Cryptome» nun vor dem Londoner Gericht aus, er habe als Erster die Depeschen vollumfänglich, ungeschwärzt und unverschlüsselt hochgeladen – und bis heute habe die US-Regierung bei ihm nichts von sich hören lassen.

«Die Depeschen finden sich immer noch dort», sagt Grothoff.

Es sei problemlos chronologisch aufzuzeigen, sagte Informatik­professor Grothoff im Berner Imbiss, dass die Haupt­schuld für die Publikation der gesamten Depeschen beim «Guardian» liege. «Wäre man dort ordentlich mit dem Pass­wort umgegangen, wäre diese Datei niemals unverschlüsselt im Netz gelandet.»

Nachdem Grothoff dem Gericht seine Expertise übergeben hatte, publizierte der «Guardian» eine kurze Stellungnahme: Es sei «komplett falsch» zu sagen, die Nennung des Passworts im Buch von David Leigh habe zur Publikation der unbearbeiteten US-Depeschen geführt. Assange habe dem Journalisten damals gesagt, das Passwort sei nur temporär. Des Weiteren sei im «Guardian»-Buch nirgendwo darauf verwiesen worden, wo im Netz sich die entsprechende Datei befinde. Ausserdem habe Wikileaks schliesslich dann auch selbst im September 2011 die unbearbeiteten Dateien publiziert.

Unhaltbare Anklage

Wikileaks, der «Guardian» und US-Kriegs­verbrechen, die nie verfolgt wurden: eine Geschichte über Pressefreiheit, bei der es einem angst und bange werden kann.

Weist Symptome einer schweren Traumatisierung auf: Julian Assange (Januar 2020). Facundo Arrizabalaga/epa

Der ehemalige US-Präsident Barack Obama hatte darauf verzichtet, Julian Assange anzuklagen, weil man dann nicht darum herum­komme, auch den «Guardian» und die «New York Times» (welche die Depeschen ebenfalls teilweise publizierte) anzuklagen, wie Journalismus­professor Dan Kennedy schon 2010 ausführte: Wikileaks habe dem «Guardian» Daten weiter­gegeben, der «Guardian» dann der «New York Times»: Wenn das Erste als Konspiration gelte, wie dann nicht das Zweite?

Dann wurde Donald Trump zum Präsidenten gewählt, und kurz darauf wurde Assange angeklagt. Seine ehemaligen Kooperations­partner «Guardian», «Spiegel» und «New York Times» sind seither in dieser Angelegenheit noch leiser geworden als zuvor.

Dutzende Menschenrechts- und Medien­organisationen hingegen, «Reporter ohne Grenzen», der Europarat, Whistle­blower wie Daniel Ellsberg oder Edward Snowden, Dutzende Staatschefs und ehemalige Staatschefs fordern die sofortige Freilassung von Assange, weil eine Auslieferung an die USA die Presse­freiheit zerstören würde.

«Wenn das Gericht entscheidet, dass der zentrale Vorwurf der Erst­publikation der unbearbeiteten Depeschen entscheidend ist, dann muss die Anklage gegen Assange in sich zusammen­fallen», sagt Grothoff. «Wenn das Gericht entscheidet, eine Zusammen­arbeit mit dem ‹Guardian› oder dem ‹Spiegel› ist strafbar, dann fällt die Anklage nicht in sich zusammen.»

Nur, was dann?

Der Mann vom «Spiegel»

Vor das Londoner Gericht war in den vergangenen Wochen auch John Goetz geladen, ein ehemaliger Investigativ­journalist des «Spiegels», der für das Magazin an der Erst­publikation der Wikileaks-Depeschen gearbeitet hatte.

Was er erzählte, deckte sich mit der Expertise von Grothoff: Die Realität stimmt nicht überein mit den Geschichten, welche die US-Regierung seit zehn Jahren über Assange und Wikileaks wiederholt.

Das US State Department, sagte Goetz vor Gericht, sei vor der Publikation kontaktiert worden. Man habe sich in einer Konferenz­schaltung mit Assange auf Bearbeitungen der Depeschen geeinigt, in Absprache mit Wikileaks seien über 15’000 Dokumente zurück­gehalten worden.

«Die Sensibilität war eines der Themen, über die ständig gesprochen wurde», sagte Goetz. Assange sei es ein grosses Anliegen gewesen, dass die Medien vorsichtig mit dem Material umgingen, «sodass niemand zu Schaden kommt». Assange sei zutiefst frustriert gewesen, sagte der ehemalige «Spiegel»-Mann vor Gericht, als durch die Passwort-Publikation des «Guardian»-Journalisten das gesamte Material öffentlich geworden sei.

Die Zeugenanhörungen im Auslieferungs­verfahren enden diese Woche. Es ist davon auszugehen, dass der Entscheid der Londoner Bezirks­richterin von der Verlierer­seite in jedem Fall an ein höheres Gericht weiter­gezogen wird, voraussichtlich letztlich bis an den Europäischen Gerichts­hof für Menschen­rechte in Strassburg.

Doch die Frage stellt sich, ob dafür unter den jetzigen Umständen überhaupt noch Zeit bleibt: Die Isolations­haft, der Assange seit sechzehn Monaten ausgesetzt ist und die laut Nils Melzer, dem Uno-Sonder­beauftragten über Folter, und dessen Team aus spezialisierten Ärzten bereits vor mehr als einem Jahr zu Symptomen einer schweren Traumatisierung führte, scheint dem Wikileaks-Gründer immer stärker zuzusetzen.

Der psychiatrische Sachverständige im Assange-Auslieferungs­verfahren, Michael Kopelman, Professor für Neuro­psychiatrie am King’s College in London, der von der Verteidigung als Zeuge geladen wurde, sagte vor Gericht: «Ich wiederhole noch einmal, dass ich so sicher bin, wie es ein Psychiater jemals sein kann, dass Herr Assange im Falle einer bevorstehenden Auslieferung tatsächlich einen Weg finden würde, Selbst­mord zu begehen.» Assange höre inzwischen offenbar Stimmen, die ihn zum Selbst­mord aufforderten. Er habe, so Kopelman, auch bereits einen Priester bestellt und Abschieds­briefe an die Familie verfasst.

Beim Verfahren war Assange, wie ein extrem gefährlicher Krimineller in einen Käfig aus Panzerglas gesteckt, kaum zu hören und zu sehen.

Die 1947 gegründete internationale Vereinigung der Rechts­anwälte und Kanzleien, die International Bar Association, kritisierte in mehreren Statements und zuletzt am 17. September 2020, Assange werde ein faires Verfahren in «schockierender und exzessiver Weise» verunmöglicht, der Rechts­staat werde in schwer­wiegender Weise verletzt – und unter Berücksichtigung des Uno-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe dürfe Julian Assange unter keinen Umständen an die USA ausgeliefert werden.

Das Urteil wird am 4. Januar 2021 erwartet.

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