
Vom Ringen um ein Recht – Willkür bei der Staatsanwaltschaft?
Ein Zürcher Staatsanwalt gewährt einem SVP-Kantonsrat, was er einem Betroffenen verweigert: Einblick in Strafbefehle nach dem aufsehenerregenden Klimaprotest vor dem CS-Hauptsitz.
Von Dominique Strebel, 30.09.2020
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Christian Philipp, Leiter des Rechtsdienstes der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft, gewährte dem Zürcher SVP-Kantonsrat Claudio Schmid Einsicht in 41 nicht anonymisierte Strafbefehle von Klimaaktivisten. Einem betroffenen Aktivisten gegenüber zeigte sich Philipp weniger kulant: Ihm verweigerte er das verfassungsmässige Recht auf Justizöffentlichkeit. Der Fall zeigt, wie fragwürdig die Zürcher Staatsanwaltschaft mit diesem verbrieften Recht umgeht.
Ort: Zürich
Zeit: 7. Juli 2019 bis 23. September 2020
Fall-Nr.: G-6/2019/10023028
Thema: Einsicht in Strafbefehle, Willkür
Jede Person in der Schweiz hat das Recht, in Gerichtssäle zu sitzen und zuzuhören, wie Richterinnen Recht sprechen. Und weil heute mehr als 98 Prozent aller Strafverfahren nicht mehr von Gerichten, sondern von Staatsanwälten im einsamen Kämmerlein entschieden werden, darf auch jede Person diese Strafbefehle einsehen. Sie liegen bei den Staatsanwaltschaften auf – im Kanton Zürich 30 Tage lang, nachdem ein Strafbefehl rechtskräftig geworden ist. «Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung», schreibt das Bundesgericht in einer wiederkehrenden Formel, «bedeutet eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz und soll durch die Kontrolle der Öffentlichkeit dem Angeschuldigten und den übrigen am Prozess Beteiligten eine korrekte und gesetzmässige Behandlung gewährleisten.»
Alles klar? Mitnichten. Das zeigt der Fall des Klimaaktivisten Marco Bähler. Ein Bericht über den Kampf eines David gegen Goliath in drei Runden. Mit Aufwärm- und Dehnphase.
Aufwärmen: Klimaaktivist Marco Bähler spielt am 8. Juli 2019 vor dem CS-Hauptsitz am Zürcher Paradeplatz auf der Mundharmonika «This Land Is Your Land». Der 64-jährige Physiklaborant ist einer von 64 Frauen und Männern, die mit Velos und Pflanzenkübeln den Eingang der Grossbank verstellen. Wer in die Bank will, muss über die Ketten steigen, mit denen sich Aktivistinnen an die Kübel gefesselt haben. Sie protestieren gegen die Anlagepolitik der CS, die ihrer Meinung nach den Klimawandel beschleunigt. Die Polizei nimmt die Aktivisten fest, Marco Bähler sitzt 47 Stunden lang in Haft. Er verlässt das Polizeigefängnis mit einem Strafbefehl wegen Nötigung und Hausfriedensbruch, verurteilt zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 30 Franken und 800 Franken Verfahrenskosten.
Runde 1: Am 11. Juli, einen Tag nach seiner Freilassung, verlangt Bähler per Kontaktformular der Zürcher Staatsanwaltschaft Einsicht in sämtliche Strafbefehle, die bei jener Polizeiaktion ausgestellt wurden – «gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz und die Bundesverfassung». Er will wissen: Wie wurden seine Aktivistenkolleginnen bestraft? Und vor allem: Wurden ausländische Beteiligte härter angefasst? Bähler will auch kontrollieren, wie unterschiedliche Strafmasse begründet sind. Mit gutem Grund, wie sich später zeigen wird: In Zürich wurden die Aktivisten zu Geldstrafen von 60 bis 80 Tagessätzen verdonnert; in Basel, wo eine ähnliche Aktion stattfand, reichen die Strafen gar von 150 bis 170 Tage Freiheitsstrafe oder 180 Tagessätze Geldstrafe. In Lausanne hingegen wurden Klimaaktivistinnen im Januar 2020 wegen «rechtfertigenden Notstands» von der ersten Instanz zuerst freigesprochen, von der zweiten Instanz letzten Donnerstag aber zu bedingten Geldstrafen von 10 bis 20 Tagessätzen verurteilt.
Bähler erhält auf sein Gesuch keine Antwort. Wochenlang. Wieso reagiert die Staatsanwaltschaft nicht? «Einsichtsbegehren, welche über ein Kontaktformular der Website der Staatsanwaltschaft ohne genügende Identifizierung des Antragsstellers gestellt und auch nicht unterzeichnet sind, genügen der erforderlichen Form nicht», sagt Staatsanwalt Christian Philipp, Leiter des Rechtsdienstes und stellvertretender Medienverantwortlicher der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft. Das Kontaktmail sei nur für allgemeine Anfragen gedacht und nicht für Rechtsbegehren. Das sei auf der Website auch so vermerkt.
Entscheid des Ringrichters: Ein klares Foul der Staatsanwaltschaft. Sie informiert die Bürger zu wenig transparent darüber, dass sie gesetzlich während 30 Tagen die Möglichkeit haben, einen Strafbefehl einzusehen, und wie dieses Recht wahrgenommen werden kann. Darauf weist die Website nirgends hin.
Pause zwischen Runde 1 und Runde 2: Am 29. Juli 2019 stellt SVP-Kantonsrat Claudio Schmid als Bürger ein Einsichtsbegehren per simplem E-Mail, ohne sich zu identifizieren. Auf sein Gesuch antwortet Staatsanwalt Christian Philipp am 5. September 2019: «Ihr Einsichtsgesuch wurde innert dreissig Tagen nach Rechtskraft eines Teils der Strafbefehle gestellt, weshalb Sie ohne ein spezielles Einsichtsinteresse geltend machen zu müssen (…) Einsicht in die Strafbefehle nehmen können.»
Runde 2: Etwa eine Woche später, am 6. August, fragt Physiklaborant Bähler per Mail bei der Staatsanwaltschaft nach, was mit seinem Einsichtsgesuch passiert sei und ob er jetzt Einsicht nehmen könne. Staatsanwalt Philipp antwortet am 7. August, dass man in Strafbefehle nur «nach begründeter Geltendmachung des Einsichtsinteresses innert dreissig Tagen nach Eintritt der Rechtskraft» Einsicht nehmen könne. Zu Bählers konkretem Gesuch meint der Staatsanwalt: «Die unbegründete, pauschale Einsichtsforderung von Ihnen in die besagten, grösstenteils noch nicht rechtskräftigen Strafbefehle findet somit keine rechtliche Grundlage.»
Wieso könnte Bähler die Strafbefehle erst «nach begründeter Geltendmachung des Einsichtsinteresses» einsehen? Rechtsdienstleiter Philipp führt auf Anfrage aus, es gehe bei Bählers Gesuch «um Einsicht in Strafbefehle, welche es Drittpersonen ermöglicht, die politische Gesinnung bestimmter Personen und deren Weltanschauung offenzulegen (Klimaaktivisten)». Die Ausgangslage sei somit nicht die gleiche, wie wenn jemand Einsicht in einen Strafbefehl nehmen wolle, bei dem es nicht um die «gesinnungsbezogene Ausrichtung der bestraften Person» gehe. Philipp schreibt zudem: In solchen Fällen müsse man allen Verurteilten das rechtliche Gehör gewähren, ob sie in eine Einsicht einwilligen.
Eine Antwort, die Fragen aufwirft: Wieso soll das alles plötzlich bei Klimaaktivist Bähler gelten, nicht aber bei SVP-Politiker Schmid? Wieso muss Schmid kein begründetes Einsichtsinteresse dartun, sich nicht identifizieren, und wieso werden bei seinem Gesuch die Betroffenen nicht angehört? Gerade beim SVP-Politiker wäre ja ein Schutz der Gesinnung von Klimaaktivistinnen allenfalls wichtig. Spielt es eine Rolle, dass der SVP-Kantonsrat 2018 einen Vorstoss eingereicht hat, der der Staatsanwaltschaft vorwarf, Verfahren zu verschleppen? Staatsanwalt Christian Philipp will zu diesen Fragen keine Stellung nehmen.
Entscheid des Ringrichters: Ein mehrfaches Foul des Staatsanwalts. Philipp erfindet eine Beschränkung der Justizöffentlichkeit, die weder in Verfassung, Gesetz noch in den Weisungen seiner eigenen Behörde, der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, vorgesehen ist. Das kritisiert Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel: «Offenbart eine Straftat eine gewisse Gesinnung des Verurteilten», erklärt er, «so ist es im Gegenteil umso wichtiger, dass sich die Öffentlichkeit vom Verhalten des Gerichts oder des Staatsanwalts ein Bild machen kann.» Und zum Zweiten misst Staatsanwalt Philipp ohne Grund mit ungleichen Ellen. «Aufgrund der geschilderten Fakten ist kein Grund für die rechtsungleiche Behandlung ersichtlich», so Staatsrechtler Schefer. «Deshalb scheint es, dass der Staatsanwalt willkürlich gehandelt hat.» Zu diesen Vorwürfen will Philipp ebenfalls keine Stellung nehmen.
Pause zwischen Runde 2 und Runde 3: SVP-Kantonsrat Schmid nimmt Anfang Oktober 2019 Einsicht in die 41 rechtskräftigen Strafbefehle – nicht anonymisiert, also alle mit Namen versehen. Das ist sein gutes Recht. Er publiziert darauf Namen, Herkunft und Strafmass auf Twitter. So etwa am 8. Oktober 2019: «Angriff von Klimaaktivisten aus Deutschland gegen den Finanzplatz Zürich – U. B., Alter, Wohnort (von der Redaktion anonymisiert), 80 Tage Geldstrafe unbedingt, vorbestraft». Basierend darauf, erscheint am 18. Oktober 2019 in der rechtskonservativen «Schweizerzeit» der Artikel «Angriff der Klima-Extremisten», geschrieben von Schmids Parteikollege Hermann Lei, SVP-Kantonsrat aus dem Kanton Thurgau. Darin werden Herkunft, Tätigkeit, teilweise auch Namen der Aktivistinnen und die jeweiligen Strafen genannt.
Runde 3: Der Schlagabtausch zwischen Klimaaktivist Bähler und Staatsanwalt Philipp wird intensiv: Einer rechten Geraden folgt ein Haken, dann ein Aufwärtshaken. Und der Rechtsausleger gibt mit linker Gerade und Aufwärtshaken zurück. Es kommt zu einem Hin und Her von Gesuchen, Entscheiden, einer Beschwerde an die Justizdirektion und einer Rechtsauskunft des von Bähler angerufenen Datenschützers des Kantons Zürich. Dieser befindet: «Nach dem Willen des Gesetzgebers sowie nach herrschender Lehre ist für die Einsichtnahme in einen Strafbefehl kein Interessennachweis vorausgesetzt. Eine zeitliche Beschränkung des Einsichtsrechts ist weder der Bundesverfassung noch der Strafprozessordnung zu entnehmen.» Schliesslich verfügt Staatsanwalt Philipp am 3. August 2020, dass Bähler sämtliche 41 rechtskräftigen Strafbefehle anschauen darf – aber in anonymisierter Form.
Er habe das Einsichtsverfahren nicht verschleppt, wehrt sich Philipp. Das lange Verfahren sei darauf zurückzuführen, dass Bähler erst im November 2019 ein formal gültiges Gesuch gestellt und danach Beschwerde erhoben habe. Zudem habe der Rechtsdienst der Oberstaatsanwaltschaft jährlich mehrere tausend Einsichtsbegehren zu beurteilen.
Schlussentscheid des Kampfrichters: Ein klarer Sieg nach Punkten für Klimaaktivist Marco Bähler. Ein Jahr und 23 Tage nach seinem ersten Gesuch erhält er Zugang zu den Strafbefehlen, wenn auch in anonymisierter Form. Staatsanwalt Christian Philipp liegt angezählt auf der Matte. Transparenz und Justizöffentlichkeit leider auch.
Dehnphase: Klimaaktivist Marco Bähler wird eine Aufsichtsbeschwerde an die Zürcher Justizdirektion einreichen. Er will damit das Verhalten des Leiters des Rechtsdienstes der Zürcher Staatsanwaltschaft sowie dessen Umgang mit dem verfassungsmässigen Recht auf Justizöffentlichkeit grundsätzlich überprüfen lassen.
Illustration: Till Lauer