Der Wunnicke-Flash

Keine Lesungen, kaum Interviews und Auftritte: Christine Wunnicke mag ihre Bücher nicht bewerben – und schon gar nicht erklären. Jetzt soll sie den renommierten Wilhelm-Raabe-Preis erhalten und steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zeit für eine Werkschau.

Von Katharina Teutsch (Text) und Monika Höfler (Bilder), 24.09.2020

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«Ich weiss meistens nicht, warum mich etwas interessiert. Ich bin irgendwie geflasht»: Christine Wunnicke.

In einem der wenigen Interviews mit Christine Wunnicke, die in den Zeitungs­archiven zu finden sind, begegnet man einem Satz von sympathischer Selbst­sabotage: «Ich weiss meistens nicht, warum mich etwas interessiert. Ich bin irgendwie geflasht.»

Und so lehnt die Autorin historischer Miniatur­romane sogenannte Werkstatt­gespräche ab. Sie gibt keine Interviews, in denen man sie zur literarischen Selbst­auskunft nötigt. Vergeblich sucht man irgendwo eine Recht­fertigung ihrer Interessen für schwule Cowboys, säbel­schwingende Samurai, postpuritanische Poeten – oder für Astrolabien­schmiede aus dem Morgenland, wie in ihrem neuen Roman. Und weil sie mit diesem soeben auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist, weil sie seit Jahren unter Kennerinnen ihres Werks regelrecht verehrt wird und weil ihr Name, trotz allem, ausserhalb dieses Kreises noch immer quasi unbekannt ist, kommt man um die etwas unliterarische Frage nicht ganz herum:

Wer ist Christine Wunnicke?

Christine Wunnicke hat ab Mitte der Achtziger­jahre in Westberlin studiert. Linguistik und Mediävistik. Aber eigentlich sei dauernd Streik gewesen damals, erzählt sie. Deswegen habe sie die meiste Zeit nur in der «Stabi», der Staats­bibliothek, gesessen und Texte aus dem Barock­zeitalter gelesen. Fast wahllos. Die englische Restauration sei dabei zu ihrer Lieblings­epoche geworden. Besonders John Wilmot, der untreue Earl von Rochester, wurde zu einem ihrer treuesten Begleiter. Vor fünfzehn Jahren hat Christine Wunnicke eine zweisprachige Auswahl seiner Gedichte, Satiren und Briefe heraus­gegeben. Der Klappen­text sagt alles:

Am besten stellen wir uns Rochester als einen nur selten nüchternen Gentleman vor, der frohgemut sämtliche Karriere­chancen über Bord warf, das Theater über alles liebte und sich ständig verkleidete, in einem idyllischen Wald­schlösschen seltsame Orgien feierte und Anfang dreissig an der Syphilis starb. In bester Mantel-und-Degen-Manier entführte er zweimal (!) mit sechsspännigen Kutschen eine reiche Erbin, die ihn dann schliesslich heiratete. Er hatte unzählige Affären mit Männern und Frauen und zeichnete sich durch eine hektische Energie und Spontanität aus, die sich durch mögliche Folgen nicht im Geringsten beirren lässt.

Aus: Christine Wunnicke, «Der beschädigte Wüstling».

Im Grunde ist das der Stoff, aus dem alle Wunnicke-Romane gemacht sind – vielleicht ist es auch der Stoff, aus dem sie selbst gemacht ist. Ihre Bücher jedenfalls handeln von Exzentrikern, Einzel­kämpfern, Erotomanen, kurz: von flashy Persönlichkeiten der Zeitgeschichte.

Christine Wunnicke hat seit zwanzig Jahren treue Leser. Aber sie ist nicht Teil des deutschen Literaturbetriebs.

Sie tritt nicht auf, nimmt keine Einladungen in Literatur­häuser an und liest nicht auf Festivals. Damit verzichtet sie auf einen heute völlig selbst­verständlichen Teil der Selbst­vermarktung. «Entschuldigung!», sagt sie im Telefon­gespräch, aber es liegt ihr einfach nicht, über ihre Bücher zu reden. Es liegt ihr nicht, auf einer Bühne zu sitzen. Es liegt ihr nicht, über innere Antriebe zu spekulieren.

Da es heute fast keine Autorinnen mehr gibt, die sich mit derart entwaffnender Ehrlichkeit einem ganzen Geschäfts­zweig der Schrift­stellerei verweigern, muss es hier einmal erwähnt werden. «Es ist echt scheiss­schwer zu verkaufen, mein Zeug», sagt sie im eingangs erwähnten Zeitungsinterview.

Wir können also vorerst zusammen­fassen: Die Autorin Christine Wunnicke schreibt über Dinge, von denen sie geflasht ist. Woraus Romane entstehen, die ihrerseits flashen. Literatur mit Zündschnur!

… und mit Aberwitz

In Wunnickes voraus­gegangenem Roman «Katie» war es beispiels­weise ein flüchtiger Bild­eindruck, der gleich ein ganzes Wort­reich zum Blitzen brachte. Das Foto, von dem sie damals ausging, stammte aus dem viktorianischen England. Es zeigte William Crookes – den Entdecker des Elements Thallium – mit seinem Medium Florrie bei der Arbeit.

Wunnickes Roman handelt nun davon, wie Crookes exakte Messungen an dem damals populären Medium Florence Cook vornimmt, das in immakulatem Weiss auf der Fotografie abgebildet ist. Florrie war eine Verrenkungs­künstlerin aus Nordlondon. Ihr Spezial­gebiet war, neumodisch gesagt: Bondage. Sie konnte sich selbst in einem Schrank verstauen und dort von Seilen eingeschnürt einen Geist aus dem sechzehnten Jahr­hundert materialisieren. Die Suche nach dem sogenannten zweiten Gesicht, der vierten Dimension oder auch einem Stoff namens Ektoplasma beschäftigte in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr­hunderts aber nicht nur okkulte Spinner, sondern auch Vertreterinnen der sogenannten hard science. Seriöse Wissenschaftler rückten dem, woran sie selbst nicht glauben mochten, mit technischem Gerät zu Leibe. Es galt, das irgendwie Unerklärliche zu messen. Wenigstens das.

Einer dieser Vermessungs­experten war Sir William Crookes, Alters­präsident der Royal Society, der ehrwürdigen Gesellschaft zur Beförderung experimenteller Gelehrsamkeit. Aus dieser historischen Figur, dem Medium Florrie und Crookes tumbem Assistenten Pratt hat Wunnicke einen aberwitzigen Gelehrten­roman von nur knapp 180 Seiten gemacht.

Finally: Expedition auf der Shortlist

Jetzt ist Wunnickes neuer Roman erschienen, «Die Dame mit der bemalten Hand», jenes Buch, für das sie nun den renommierten Wilhelm-Raabe-Literatur­preis erhalten wird. Und das ihr, nach der dritten Longlist-Nominierung, auch einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises eingetragen hat. Auch dieser Roman handelt von der Schönheit des Wissens – und von der Boden­losigkeit einer Suche, die vorerst ohne klare Ziele auskommen muss.

Der junge Carsten Niebuhr aus dem Bremischen steht im Zentrum dieses neuesten Wunnicke-Werks. Niebuhr wurde von seinem Göttinger Lehrer, dem Aufklärer Johann David Michaelis, auf eine Arabien-Expedition geschickt. Dorthin macht sich der scheue Mathematikus 1761 unter dänischer Flagge auf den Weg – zusammen mit einem Physikus, einem Philologus, einem Medicus, einem Artifex und einem Famulus, die aber alle nach und nach am Malaria­fieber sterben.

Von Professor Michaelis hatte Niebuhr den Auftrag erhalten, der biblischen Heils­geschichte an ihren Original­schauplätzen auf den Grund zu gehen. «‹Facta!› schrie Michaelis. ‹Beglaubigte, historische Facta!›» sollte Niebuhr einsammeln. Konkret: Es galt, biblischen Tieren nachzuforschen, wunder­tätigen Hölzern und Gewässern, religiösen Ritualen, sozialen Konventionen und Sexual­praktiken jenseits des Abend­lands. Und warum ausgerechnet in Arabien? «Palästina ist zu Tode erforscht! Dort sitzt schon ein Christ unter jedem Kamel.»

Wunnickes tragikomisches Werk ist einzigartig.
Öffentliche Auftritte vermeidet sie lieber.

Also lautet Niebuhrs Pflicht, «zu messen: die Länge und Breite und Höhe von allem und wie lang alles dauert und wo sich alles befindet und wie sich alles zueinander verhält». So erklärt er seine Mission dem neu gewonnenen Freund Musa al-Lahuri aus Jaipur. Wie Niebuhr ist der berühmte Astrolabien­schmied aus Hindustan vom Weg abgekommen und «zweieinhalb deutsche Seemeilen» vor Bombay auf einer struppigen Insel gestrandet. Auf Elephanta gibt es einen verfallenen heidnischen Tempel mit allerlei Getier, das darin haust. Dort liegt auch Carsten Niebuhr im Fieber­delirium. Meister Musa findet Gefallen an dem seltsamen Kerlchen, das sich ihm als «Kurdistan Nibbur» aus «Almanya» einprägt – obwohl dieser Nibbur wahrlich keinen ansehnlichen Anblick bietet: «Das Gesicht des Europäers war bläulich weiss wie entrahmte Milch.» Als der Fieber­anfall vorüber ist, entschuldigt sich Nibbur. Er sei nieder­gesunken «wie ein Weib gebrochenen Herzens, dem alles zu viel wird».

Ausgehend von dieser Zufalls­begegnung zweier Abenteurer entspinnt Christine Wunnicke nun eine kurze Geschichte über kulturelle Miss­verständnisse. Schon bei den Stern­bildern ist man unter­schiedlicher Auffassung. Während man im Okzident eine Dame mit bemalter Hand am Firmament erkennt – die Griechen nannten sie Kassiopeia –, erkennen die Orientalen in ihr nur die Hand dieser Dame.

Christine Wunnicke entzückt ihre Leser aber nicht nur mit solchen Paradoxien. Der Sprit all ihrer Romane ist die Erotik des Unbekannten. Denn auch zwischen Meister Musa und Carsten Niebuhr scheinen sich irgendwelche fiebrigen Dinge zugetragen zu haben. Nur andeutungs­weise ist davon zu lesen, doch kann sich die Wunnicke-Leserin ihren eigenen Reim darauf machen.

Zwei Triebfedern

In Wunnickes Roman «Missouri» aus dem Jahr 2006 wird die Sache mit der Männer­liebe konkreter: «In einem bescheidenen Miet­quartier in der Great Ancoats Street zu Manchester färbte sich der Gerichts­schreiber Douglas Fortescue im August 1832 die Haare schwarz und beschloss die englische Dicht­kunst zu reformieren.» Christine Wunnicke lässt nämlichen Reformator der englischen Dicht­kunst auf einen halbstarken Eisenbahn­räuber aus Missouri treffen. Dort, in Missouri, wird alles hoch zu Pferd erledigt: geschossen, geflohen, verhandelt – auch begehrt. Joshua Jenkyns entführt Douglas Fortescue aus einer Post­kutsche voller Mormonen. Wozu, das ist ihm selbst nicht ganz klar. Erst beim Läuse­knacken am Lager­feuer ergeben sich neue bilaterale Perspektiven. Und wie man noch einen ironischen Wildwest­roman mit viel Pulver­geruch zu lesen glaubt, ist man schon knietief drin im unironischen Ernst einer maladie à deux:

Joshua wollte vieles und alles zur selben Zeit. Er wollte Douglas halten und wollte, dass Douglas ihn hielt. Er wollte die Augen schliessen und wollte doch nicht blind sein. Er wollte stehen und fallen, kämpfen und die Waffen strecken, er wollte den Schreck, die Wonne, den schon erprobten Schmerz und das bislang nur geahnte Entzücken, er wollte das alles sofort und wollte doch, dass es dauerte, Minuten, Stunden, bis zum Ende der Welt – sie waren schlimm in Unordnung, die Wünsche des Joshua Jenkyns, und er seufzte oder fauchte, denn er wusste nicht, ob er seufzen wollte oder doch besser fauchen, und dann hörte Douglas, wie er Luft holte, heftig, als mache er sich bereit für einen Kampf.

Aus: Christine Wunnicke, «Missouri».

Es ist nötig, aus diesem Liebes­gebalg so ausführlich zu zitieren, weil sich zwei Haltungen darin entfesseln, die die Trieb­federn von Christine Wunnickes Prosa sind.

Punkt eins: Kampf!

In «Katie» kämpft ein Gelehrter im Zeitalter der Natur­wissenschaft gegen den Mode­glauben an Geister­erscheinungen. Er will etwas messen, damit beweisen oder verwerfen. Das gelingt mehr oder weniger. Und doch ist auf einmal ein Geist aus der Flasche. Florries Geist. Wodurch erotische Schwingungen die Mechanik des crookeschen Haushalts ins Stottern bringen. Das Ganze endet in einer ekstatisch-okkulten Bühnen­schau am Piccadilly Circus. Das ist ganz grosser Slapstick. Aber auch ganz grosses Drama, bei dem die Wissenschaft vor dem élan vital in die Knie geht.

Selbst Goethe spricht in seiner Farben­lehre nicht wie jeder vernünftige Wissenschaftler von einem Spektrum, sondern vom «Gespenst» des Lichts. Es ist ein Kampf zwischen Gefühl und Genauigkeit.

Womit wir bei Punkt zwei wären: Lust!

Der alte Crookes lässt seine Frau Nelly gerne zu ihrem Pläsier mit Quecksilber­perlen hantieren. Etwas Ähnliches treibt Christine Wunnicke mit der Sprache. Man macht in sämtlichen Wunnicke-Büchern die schönsten Entdeckungen.

In der Novelle «Nagasaki, ca. 1642» nimmt jemand eine «degradierte Haltung» ein. Soldaten schauen mit «nicht sehr verbindlichen Mienen», andere mit «detachiertem Interesse». Über den Gerichts­schreiber Fortescue heisst es im Roman «Missouri»: «Er überflog das Lamento einer ledigen Tante, sie hatte Sorge getragen für die Kinder der Schwester, zuletzt mit Arsen.» In «Der Fuchs und Dr. Shimamura» schildert Christine Wunnicke einen japanischen Arzt auf Europa­tour; der junge Forscher soll die Früchte der europäischen Klinik dem japanischen König­reich zugute­kommen lassen. Und weil das ein Roman über die Hysterie ist und weil ihn eben Christine Wunnicke und niemand anderer geschrieben hat, sorgt man sich im Japan dieses Romans wegen dieser seltsamen Fuchs­besessenheit, mit der sich Shimamura selbst angesteckt zu haben scheint.

Bei diesem Fuchs – und es war in der Tat ein Fuchs, nicht etwa ein Verhörer für «Fluch» – handelte es sich um eine schlecht zu fassende Behelligung, welche in den Kulten des Shintoismus ihren Ursprung hatte, vor allem Frauen befiel, und diese vor allem im Sommer.

Aus: Christine Wunnicke, «Der Fuchs und Dr. Shimamura».

Die Beherrschbarkeit der Welt

Christine Wunnickes Romane handeln alle vom Wunsch, die Welt beherrschbar zu machen – sei es durch Schiess­eisen, Labor­befunde, Kartografie oder durch Sprache. Natürlich geht das nie glatt auf. Allerlei Ungeplantes – und sei es die vermaledeite Liebe – schiesst quer, bei Wunnicke auch gerne queer.

Wissenschaft, das zeigen auch die aktuellen Diskussionen um die Pandemie, ist ein Teilgebiet der Leidenschaft. Und Leidenschaft ist bekanntlich die Grundlagen­forschung der Literatur. So ist Christine Wunnickes Lust-Spiel mit der Sprache des Wissens voller Hintersinn. Denn sie führt vor, dass alle Sprachen zu allen Zeiten nichts anderes wollten, als «exakt» zu sein. Die Frage­stellungen ferner Zeiten kommen uns heute oft fremd und daher komisch vor. Der Drang nach einer abschliessenden Erklärbarkeit der Welt nicht.

Christine Wunnickes tragikomisches Werk ist einzigartig in der deutsch­sprachigen Gegenwarts­literatur. Und obwohl man sich sehr für den Menschen hinter diesen Büchern interessieren würde, ist es schon auch so: Der Flash der Lektüre hat keine Erklärungen nötig.

Zu den Büchern (Auswahl):

  • Christine Wunnicke: «Die Dame mit der bemalten Hand». Roman. Berenberg-Verlag, Berlin 2020. 168 Seiten, ca. 31 Franken.

  • Christine Wunnicke: «Katie». Roman. Berenberg-Verlag, Berlin 2017. 176 Seiten, ca. 31 Franken.

  • Christine Wunnicke: «Missouri». Roman. Männerschwarm-Verlag, Berlin 2006. 96 Seiten, ca. 20 Franken.

Zur Autorin

Die Literatur­kritikerin und Kultur­wissenschaftlerin Katharina Teutsch schreibt unter anderem für die FAZ, die «Zeit» und das «Philosophie-Magazin». Für den Deutschland­funk moderiert sie regelmässig die literarische Abend­sendung «Studio LCB». In Buch­form erschien von ihr eine Kultur- und Naturgeschichte des Mopses. Teutsch ist Jurymitglied des Wilhelm-Raabe-Literatur­preises, welcher Christine Wunnicke soeben zugesprochen wurde. Sie lebt in Berlin.

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