Witzig, kreativ, grob – und Donald Trump ein Dorn im Auge: Die chinesische Video-App und ihre Millionen Nutzer weltweit. Philippe Lopez/AFP via Getty Images

Tanzen bis zum Umfallen

Die USA verbieten Tiktok, eine beliebte Videoplattform aus China. Die Geschichte der App wird zum geopolitischen Drama und zur Gefahr für das freie Internet.

Von Ronja Beck, 19.09.2020

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Ein Mann steht in der 56. Strasse in New York City – Kaffee in der Hand, Anzug montiert, es ist ein sonniger 1. August – und brüllt den Trump Tower an. «Der Präsident stellt Tiktok ein, weil er Angst hat vor einer Video-App für Kinder!»

Dinge wie diese geschehen auf der Video-App Tiktok seit einiger Zeit öfter. Eigenartige Dinge – noch eigenartiger, als die Dinge auf Tiktok ohnehin schon sind.

Einige erklären sich selbst und den Zuschauerinnen da, wieso das, was gerade passiert, alles gar nicht sein müsse, könne, dürfe. Andere bitten mit Hunde­augen, dass man ihnen unbedingt auf anderen sozialen Netzwerken folgen soll. Und Leute wie der Schauspieler Walter Masterson sehen sich zu roher Konfrontation gezwungen – mit Donald Trump, der, Masterson hat es schon gebrüllt, die Schuld an dem ganzen Aufruhr in der Tiktok-Welt trägt.

Am Freitag dieser Woche nun der vorläufige Höhe­punkt des Dramas. Das US-Handelsministerium erlässt die Order: Ab Sonntag darf Tiktok in den USA nicht mehr zum Download angeboten werden. Ab Mitte November soll die App in den USA praktisch funktions­unfähig sein. Ein Todesurteil auf Raten – verfügt von Donald Trump.

Wochenlang hatte er darauf gedrängt, dass die App entweder an eine amerikanische Firma verkauft oder gleich ganz verboten wird. Selbst wenn nun in letzter Minute noch einer von Trumps berüchtigten Deals zustande kommen könnte, Bytedance – die chinesische Besitzerin von Tiktok – wird ihren zweit­wichtigsten Markt ausserhalb Chinas im Mindesten zu Teilen, im Maximum gleich ganz verlieren.

Tiktok ist die erste chinesische Plattform mit weltweiter Ausstrahlung. Kein anderes soziales Netzwerk wurde in so kurzer Zeit so erfolg­reich. Nicht Facebook, nicht Youtube, erst recht nicht Twitter. Über 2 Milliarden Mal wurde die App ausserhalb von China herunter­geladen (in der Schweiz 500’000-mal) – in nur etwas mehr als drei Jahren.

Und genau das kommt die Gründer­firma nun teuer zu stehen. Der chinesische Tech­konzern Bytedance wird zum Spielball im grössten geopolitischen Zerwürfnis unserer Zeit.

Man könnte meinen: Das ist einzig das Problem von Bytedance und dieser lustigen App. Doch die Eskalation reisst tiefe Gräben. Sie markiert nicht nur einen Markt­eingriff von unwahrscheinlicher Härte. Sie ist ein kräftiger Tritt ans Schien­bein eines globalen und freien Internets, das wegen politischer Interessen immer mehr zersplittert.

Die Geschichte von Tiktok ist wie ein wilder Abend in der Dorfdisco. Was mit ausgelassenen Tänzen beginnt, endet unversehens mit ausgepumptem Magen im Spital.

Wie die Geschichte begann? Nun, mit tanzenden Teenagern.

Eine chinesische App erobert die Welt

Charli D’Amelio ist die beliebteste von ihnen. Ein Tanz namens «Renegade» – der Name bezieht sich auf den Text des Hinter­grund­songs – hat die 17-jährige Amerikanerin global bekannt gemacht. 87 Millionen junge Frauen und Männer folgen ihr inzwischen auf Tiktok – und tanzen nach ihrem Vorbild.

D’Amelios Aufstieg ist Zhang Yimings Ernte. Für den Bytedance-Gründer sind sie und ihre Gefolgschaft der ultimative Beweis, dass sein Plan funktioniert hat. Sein Tochter­unternehmen Tiktok sollte wachsen und wachsen. Ein globaler Erfolg war keine Option, er war schon immer Bedingung.

Der Durchbruch kommt 2016 – in China. Bytedance lanciert damals im September Douyin, den chinesischen Vorläufer von Tiktok. Die App wird schnell beliebt, heute sollen sie über 400 Millionen Menschen täglich nutzen.

Dass Bytedance ein Händchen hat für Trends, ist da schon lange klar. Denn spätestens 2012, als das Unter­nehmen die News-Plattform Toutiao lanciert, die bald zu einer der beliebtesten News-Apps auf dem Festland wird, gilt Bytedance als chinesische Erfolgsstory.

Mit Tiktok nun sollte dem 37-jährigen Unter­nehmer Zhang der Sprung über die grosse Firewall gelingen, das strenge Zensur­instrument der chinesischen Regierung. Für geschätzt rund eine Milliarde Dollar kauft er im November 2017 Musical.ly, eine App aus Shanghai, mit Büros in Kalifornien und beachtlichen Nutzer­zahlen in den USA.

Der Deal ist für Zhang in doppelter Hinsicht wegweisend.

  • Einerseits öffnet er ihm den amerikanischen Markt auf einen Schlag.

  • Andererseits liefert er damit einem mächtigen, aber kaum bekannten Komitee die Legitimation für den späteren Zugriff: Der Ausschuss für ausländische Investments der US-Regierung, das Committee on Foreign Investment in the United States (CFIUS), bestückt mit Vertretern vom Aussen­departement bis zur Homeland Security, wird Trump später in Sachen Tiktok eine entscheidende Empfehlung geben.

Doch dazu später. Noch ist Zhang Yiming euphorisch. Er eröffnet Büros in den Vereinigten Staaten, in Gross­britannien, Australien und Singapur. Server werden ausserhalb der chinesischen Staats­grenzen platziert, zum Beispiel im US-Bundes­staat Virginia. Das soll, in weiser Voraussicht, das Unter­nehmen vor Rechts­streitigkeiten bewahren – was aber nicht gelingen wird.

Im August 2018 verschmelzen Tiktok und Musical.ly, übrig bleibt Tiktok. Die Video­app Tiktok ist damals schon auf dem globalen Markt erhältlich, aber ausserhalb Asiens kaum bekannt. Nun schlägt die App so richtig ein. Es dauert bloss einen Monat, dann ist Tiktok die am häufigsten heruntergeladene Gratis-App im amerikanischen App-Store. Tiktok macht die Besitzer Bytedance zeitweise zum wertvollsten Start-up der Welt.

Bis auf eine so spontane wie kurz andauernde Verbotsaktion in Indonesien bleibt es um Tiktok trotz rasantem Wachstum erstaunlich ruhig. Zur gleichen Zeit wird jedoch eine andere chinesische Erfolgs­story radikal umgeschrieben. Und wird für Tiktok zur bitteren Prophezeiung.

Der chinesische Telecom-Gigant Huawei verkauft erstmals mehr Smartphones als Apple, als ihn die USA im August 2018 zum Staats­feind erklären – mal wieder. Der US-Regierung sowie Firmen, die in ihrem Auftrag arbeiten, soll verboten werden, Technologie von Huawei zu nutzen.

Ein Jahr später tritt das Verbot in Kraft. Amerikanischen Firmen ist es zu dem Zeit­punkt bereits untersagt, ohne Erlaubnis der Regierung mit dem Unter­nehmen zu geschäften. Begründet wird immer gleich: Huawei gefährde die nationale Sicherheit. Der Konzern soll über sogenannte Hinter­türen, also Schwach­stellen in der Software, Spionage durch die chinesische Regierung ermöglichen. Der Verdacht ist nicht neu. Aber langsam geht er Huawei an die Substanz.

Tiktok wird er später fast k. o. schlagen.

Das Erfolgsrezept

Zuvor aber, im Februar 2019, knackt Tiktok die Marke von 1 Milliarde Downloads weltweit (ohne China). Über 40 Prozent der Downloads im Jahr 2018 stammen aus Indien.

Tiktok wächst nicht. Es explodiert.

Die App ist ein Welthit. Meist junge Menschen in den verschiedensten Ländern üben sich in denselben sogenannten Challenges: Häufig tanzen sie zu einem Song eine spezifische Choreo­grafie – wie zum Beispiel den Tanz zu «Renegade». Oder sie machen eine Transformation durch: Zuerst zeigen sie sich im Schlabber­look, harter Schnitt, dann sind sie plötzlich aufgestylt.

Auf der «Für dich»-Seite – dem Start­bildschirm von Tiktok – bekommt man ein Video nach dem anderen gezeigt, mit künstlicher Intelligenz auf die eigenen Bedürfnisse gebürstet. Ein Stream of Entertainment sozusagen. Man findet Comedians, Cosplayerinnen, Comic­zeichner. Hoch im Kurs: Zwillinge.

Oder – wir befinden uns schliesslich auf einem sozialen Netzwerk: Schminkvideos.

Aber nicht alles ist süsse Zucker­watte in der Tiktok-Welt. Nutzerinnen dokumentieren auch gerne mal einen Heul­krampf. Oder einen Drogentrip.

Tiktok ist ein wildes Potpourri von allem, was unsere Welt heute definiert. Aufnahmen der Explosion in Beirut gehen genauso viral wie junge Männer, die mit der Kamera flirten. Es findet sich Lustiges, Trauriges, Gescheites, Dämliches, Frag­würdiges, Abartiges, verpackt in 15- bis 60-sekündige Clips.

Und es findet sich auf Tiktok, wie in jedem anderen sozialen Netzwerk, auch ordentlich Kommerz. Tiktoker nutzen die Plattform für Product-Placement – also gut getarnte Werbung – oder verdienen während Live­streams dank Spenden der Zuschauerinnen. Grosse Firmen schalten prominent Werbung oder bezahlen Tiktok, um Challenges für sie zu starten. Der grösste Profiteur der App ist aber die Musik­industrie. Weil ihre Songs auf der App viral gingen, schafften junge Künstler wie Lil Nas X oder Lizzo den inter­nationalen Durch­bruch. Lieder, die auf Tiktok die Runde machen, finden sich schnell in den Top Ten der Charts. Musiklabel-Chefinnen adeln Tiktok mit dem Titel einer «kurzfristigeren Version von Youtube».

Genau auf diese Rolle hatte es Bytedance-Gründer Zhang abgesehen. Doch er tut sich langsam schwer damit, sie auszufüllen. Seine App leidet an immer heftigeren Wachstums­schmerzen: Die US-Behörden haben es auf Tiktok abgesehen.

Die ersten Skandale

Im Februar 2019 verdonnert die Handels­kommission FTC Bytedance zu einer Strafe von 5,7 Millionen US-Dollar. Tiktok hatte unerlaubter­weise Daten von unter 13-Jährigen gesammelt. Das Unternehmen zahlt und beteuert, man werde die App anpassen.

2020 wird die Behörde gemäss Medien­berichten erneut eine Untersuchung starten.

Davor wird Thema, was bei China so oft Thema wird: Zensur. Der «Guardian» berichtet, wie gemäss internen Dokumenten Peking-kritischer Content auf der App versteckt oder gelöscht wird.

Anschaulich zeigt das ein Video von Feroza Aziz. Die junge Frau weist in einem als Schmink­video getarnten Clip auf die Deportation von Uiguren in China hin. Während sie eine Wimpern­zange an ihrem Auge ansetzt, spricht sie davon, wie «unschuldige Muslime in Konzentrations­lager» gesteckt und «gekidnappt, ermordet, vergewaltigt» werden. Ihr Monolog geht viral.

Tiktok löscht das Video und sperrt den Account von Aziz. Nach einem Aufschrei in amerikanischen Social-Media-Plattformen macht das Unter­nehmen die Schritte rückgängig. Es habe sich um einen «menschlichen Moderations­fehler» gehandelt, schreibt die Pressestelle und gibt sich reumütig.

Die App hat mit auffälligen Lücken zu kämpfen. Regierungs­kritische Themen wie die Deportationen aus Xinjiang oder die Proteste in Hongkong sind auf Tiktok kaum Thema. Vorwürfe der Zensur weist das Unter­nehmen streng von sich: «Lasst uns ganz klar sein: Tiktok entfernt keine Inhalte wegen Empfindlichkeiten im Zusammen­hang mit China», schreibt die Pressestelle.

Da hilft es auch nicht, dass ein Brief von 2018 wieder die Runde macht. Tiktok-Gründer Zhang Yiming entschuldigt sich darin bei der chinesischen Regierung für den «vulgären» Inhalt einer seiner chinesischen Apps. In dem Beitrag auf Weibo, einem chinesischen Pendant zu Twitter, schreibt Zhang: «Wir haben es versäumt, sozialistische Grundwerte zu realisieren».

Sozialistische Grundwerte – eher schwierig auf dem amerikanischen Markt. Dabei gibt sich Zhang so viel Mühe, sich diese eben nicht ansehen zu lassen. Der 37-jährige Software­ingenieur tritt am liebsten in T-Shirt und Jeans auf, seine Mitarbeitenden rufen ihn beim Vornamen – Yiming. Er gibt sich wie die grossen amerikanischen Tech­unternehmer: nerdig, aber nahbar. Einen seiner ersten grossen Jobs hatte er bei Microsoft. Anders als beispiels­weise Huawei-Chef Ren Zhengfei ist er, laut eigenen Aussagen, nicht Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas.

Zhangs westliche Attitüde vermag das amerikanische Establishment aber nicht zu beruhigen. Dort brodelt es Ende 2019 immer heftiger. Sowohl demokratische als auch republikanische Politikerinnen machen Druck auf Tiktok: Sie vermuten hinter der App einen direkten Draht nach Peking. Sie fordern den Direktor der Nachrichtendienste auf, eine Unter­suchung zu starten. Im Senat wird ein Tiktok-Verbot für Beamte gefordert.

Der Datenabfluss nach China, wie ihn die Amerikanerinnen vermuten, lässt sich bis heute nicht festmachen. Weder sauge die App mehr Daten ab als amerikanische Platt­formen wie Facebook oder Instagram, schreibt der französische Sicherheitsforscher Baptiste Robert. Noch gebe es Beweise für die Verbindung nach Peking, sagen gemäss der «New York Times» Experten beim US-Auslands­geheimdienst CIA.

Die Vorwürfe an die Adresse von Peking wecken Erinnerungen an 2013 – und lenken damit den Blick zurück gen Westen.

Damals macht ein Geheimdienst­mitarbeiter den grössten Überwachungs­skandal in der Geschichte der USA publik. Whistle­blower Edward Snowden zeigt anhand von Dokumenten, wie amerikanische Geheim­dienste zusammen mit ihren ausländischen Partnern alles bespitzelten, was sich irgendwie bespitzeln liess – von der Regierungs­chefin bis hin zum einfachen Bürger. Über das Telefon­netzwerk, aber auch über direkte Schnitt­stellen zwischen Techfirmen und Geheim­diensten. Wer Facebook, Skype oder Youtube nutzte, wurde also observiert.

Speziell spannend für den Tiktok-Disput sind die geheimen Dokumente zu China. Diese zeigten, wie sich die NSA, ein weiterer Auslands­geheimdienst, ins chinesische Telefon­netzwerk und in mehrere chinesische Techkonzerne gehackt hatte. Zu den Opfern zählte auch Huawei. Die NSA sollte vermutete Verbindungen zwischen den Firmen und der Kommunistischen Partei aufdecken. Über technische Hinter­türen wurden das Management sowie Kundinnen der Firma observiert.

«Die Ironie ist, dass sie (die USA) uns genau das antun, was sie den Chinesen immer vorgeworfen haben, durch uns zu tun», kommentierte William Plummer, damals Huawei-Manager in den USA, in der «New York Times».

Mächtige Feinde

Wie viel sich seither geändert hat, weiss man nicht mit Sicherheit. Klar ist: Die Bande zwischen Big Tech und der US-Regierung sind bis heute eng.

Und Tiktok kriegt das besonders zu spüren.

Im Oktober 2019 schaltet sich Facebook-Gründer Mark Zuckerberg persönlich ein. Bei einem Dinner im Weissen Haus warnt er den Präsidenten vor der Bedrohung, die chinesische Internet­firmen für den amerikanischen Markt bedeuteten. Das berichtet das «Wall Street Journal». Zuckerberg will die protektionistische Seite in Trump noch stärker herauskitzeln.

Der Facebook-CEO lässt zudem eine neue Lobby­organisation auf den Kongress los, um gegen Tiktok Stimmung zu machen. Im ersten Halbjahr 2020 soll Facebook mehr für Lobbying ausgegeben haben als jede andere börsen­kotierte US-Firma.

Zuckerberg geht noch weiter. Er aktiviert das 2-Stufen-Modell, das er immer aktiviert, wenn ihm die Konkurrenz zu erfolgreich wird: aufkaufen – oder kopieren.

Im August 2020 erscheint «Reels», Facebooks Antwort auf Tiktok. Facebook hat das neue Feature auf Instagram in Schnellst­arbeit entwickelt. «Ein Flop», resümiert die «New York Times». Für Tiktok-Profis sind die Video­funktionen zu schlecht, für Neulinge ist die Navigation zu verwirrend.

Für Bytedance sind die Verrisse ein kleiner Trost. In seinem Ehrgeiz hat sich der chinesische Konzern ein paar sehr mächtige und, fast noch schlimmer, eitle Feinde gemacht.

Bei dem ganzen Brimborium darum, was Tiktok nun macht, machen könnte oder machen müsste, darf man fairer­weise nicht vergessen: Die Spionage­vorwürfe gegen chinesische Firmen, wie sie die amerikanische Regierung unablässig äussert, kommen nicht aus dem Nirgendwo. Die Geschichten um chinesische Hacker, die im Auftrag der Regierung arbeiten sollen, sind ernst. Die Welt weiss, wie Präsident Xi Jinping mit Minderheiten und freier Meinungs­äusserung umgeht. Das Land ist keine Demokratie, auch auf Biegen und Brechen nicht.

Doch demokratische Werte sind auch für Donald Trump Neben­sache. Er hat seine Augen auf dem wachsenden Handels­defizit gegenüber China. Er blickt auf serbelnde Firmen in seinem Land. Und er sieht, wie der kommunistische Staat China einer der wichtigsten Branchen in den USA den Boden abgräbt: der Techindustrie.

Zhang Yiming ist in einen handfesten Stellvertreter­krieg geraten. So tut der Tiktok-Gründer das, was er in seiner Position tun kann: Er sucht die Versöhnung.

Der Rettungsversuch

Vor vier Monaten – Tiktok hat soeben die Grenze von 2 Milliarden Downloads geknackt – stellt er einen neuen CEO vor: Kevin Mayer, breiter Kiefer, breiter Hals, breite Schultern, Amerikaner, lange Jahre ein Erfolgs­garant bei Disney, einem Konzern, der wie kein anderer für amerikanische Werte stehen will.

Mayer bleibt drei Monate.

In diesen drei Monaten kühlt das Verhältnis zwischen den USA und China – mal wieder – ab. So stark, dass es Minus­temperaturen erreicht. Donald Trump nutzt die Pandemie für gezielte Provokationen Richtung Osten. Am Ende treten die USA aus der Welt­gesundheits­organisation aus – wegen China, sagt Trump.

Das entgeht auch der Tiktok-Community nicht:

Und erst recht nicht Zhang Yiming. Die Spannungen kommen für seine Firma zum denkbar schlechtesten Zeit­punkt. Ende Juni 2020 bricht auf einen Schlag sein wichtigster ausländischer Markt weg: Indien verbietet 60 chinesische Apps, darunter Tiktok. Es geht um ein Viertel der 800 Millionen Tiktok-User.

Der Verdacht der indischen Regierung: Die Apps klauen Nutzer­daten und überspielen sie auf ausländische Server. Das Verbot erfolgt kurz nach einem Vorfall an der indisch-chinesischen Grenze, bei dem zwanzig indische Soldaten sterben. International wird die Direktive als klare politische Vergeltung gelesen. Tiktok verhandelt bis heute.

Damit ihm der US-Markt nicht auch noch wegbricht, geht Zhang in die Offensive. Eine Armada an Lobbyisten soll in Washington das Bild gerade­rücken. Wie seine amerikanischen Investorinnen dem Bytedance-Chef rapportieren, wünscht sich die Trump-Regierung die Garantie, dass die Nutzer­daten wirklich in den USA bleiben. Und, essenziell: Sie will eine amerikanische Firma an seiner Konzern­tochter Tiktok beteiligt sehen.

Zhang Yiming reagiert, bevor das Wollen zu einem Fordern wird. Eine Beteiligung von Google oder Facebook steht für Zhang ausser Frage – also beginnt er Gespräche mit seinem ehemaligen Arbeit­geber: dem Social-Media-Novizen Microsoft.

Kurz bevor die Gespräche anlaufen, geht im Juni auf Tiktok eine gewisse Mary Jo Laupp viral. Sie hält ihr Gesicht in die Kamera und fordert die Community auf, Tickets für eine Trump-Rally in Tulsa zu bestellen – aber dann nicht am Wahlkampf-Event aufzukreuzen. «Reserviert jetzt die Tickets und lasst ihn allein auf der Bühne stehen, was meint ihr?», sagt sie.

Fast eine Million Menschen hätten Tickets reserviert, tweetet Donald Trump wenige Tage vor der Rally. Doch die Halle ist am Ende nicht mal zu einem Drittel voll. Die Feuerwehr in Tulsa spricht von 6200 Besuchern.

Trumps erster grosser Auftritt seit der Pandemie wird so zum PR-Desaster. Und die verpatzte Show hilft der sino-amerikanischen Beziehung nicht. Das Verhältnis der beiden Welt­mächte verschlechtert sich weiter. Journalistinnen werden verbannt und Botschaften geschlossen. Gut vierzig Jahre diplomatische Beziehungen stehen auf dem Spiel.

Gleichzeitig macht das sogenannte Sicherheits­gesetz in Hongkong weltweit Schlag­zeilen: Das autoritäre Festland­china entzieht der Sonder­verwaltungs­zone langsam ihre Freiheiten. Als Reaktion darauf cancelt Trump per Dekret den Sonder­status des wichtigen Finanz­hubs Hongkong und kündet bilaterale Verträge auf.

Für die US-Regierung ist das neue Gesetz aus Peking ein Fressen, serviert auf dem Silber­tablett. Und am 6. August beisst Donald Trump kräftig zu.

Der Showdown

An diesem Datum unterschreibt er zwei Dekrete, die Tiktok jegliche Geschäfte in den USA verbieten und ihre Mutter­firma Bytedance zum Verkauf ihres amerikanischen Geschäfts zwingen. 45 Tage gibt er ihr Zeit für den Deal – und 45 weitere, um die Zelte tatsächlich abzubrechen. Dasselbe gilt für die in China beliebte App Wechat, mit immerhin 19 Millionen täglichen Usern in den USA.

Es sind diese Dekrete, die das Handelsministerium gestern Freitag umgesetzt hat – damit hat es den langsamen Tod der App in den USA beschlossen. Ganz besiegelt ist die Sache für Tiktok, im Gegensatz zu Wechat, noch nicht. Noch laufen komplizierte Übernahmeverhandlungen zwischen verschiedenen US-Grosskonzernen und Bytedance. Aber die Trump-Regierung hat die Erpressung wahr gemacht: Entweder die App wird an Amerikaner verkauft, oder wir machen sie zu.

Rechtsexpertinnen sehen in den Dekreten wenig von juristischem Gehalt. Sie fussen auf Sorgen um die nationale Sicherheit. Und diese fussen wiederum auf Verdacht, Vermutung, Vorurteil – jedenfalls auf nichts Handfestem.

Offiziell handelt Trump auf Empfehlung des CFIUS. Der Ausschuss für ausländische Investments darf seit Ende der 1980er-Jahre Deals in den USA blockieren, sollte eine ausländische Firma beteiligt sein. Erst vor wenigen Monaten so geschehen bei der Dating-App Grindr, zuletzt in chinesischer Hand.

Die Eingriffe in den freien Markt werden mit Bedenken zur nationalen Sicherheit legitimiert. Erst 2018 hat Trump mit einem neuen Gesetz den Spiel­raum des kaum bekannten Ausschusses, der mit völliger Intransparenz operiert, nochmals erweitert.

Nun will Donald Trump ernten, was er gesät hat. Und er will mehr.

Anfang August präsentiert das US-Aussen­ministerium unter dem sperrigen Titel «Clean Network Initiative» einen Plan, das amerikanische Internet von allem Chinesischen zu säubern. Nicht vertrauens­würdige Apps sollen aus amerikanischen App-Stores fliegen und Daten nicht mehr auf chinesischen Clouds gespeichert werden.

Clean Network soll «die Privat­sphäre der Bürger und die sensitiven Daten der Unter­nehmen» vor Angriffen durch «bösartige Akteurinnen wie die Kommunistische Partei Chinas» schützen. Ungläubige Kommentatoren schreiben von einer «grossen Firewall» wie in China.

Clean Network ist bisher als dringlicher, aber nicht zwingender Appell zu lesen. Für Tiktok gilt das nicht.

Die Ironie daran ist einzigartig. Denn das Verbot ausländischer Software, Kopien eigener Firmen – das alles ist im autoritären China längst Realität. Die USA brüsten sich nun damit, gegen Peking vorzugehen. In Wirklichkeit nähern sie sich aber dem chinesischen Modell an.

Am Ende ist das nicht nur ein Angriff auf Tiktok. Sondern auf das ganze Internet. Macht das Beispiel Schule, so wird dieses weiter zersplittern. Die Vernetztheit, wie sie ursprünglich gelebt wurde – auch von der Tiktok-Community –, endet dann immer öfter an Landesgrenzen.

Tiktok wollte sich diesem Spiel entziehen. Am 24. August hat das Unter­nehmen beim amerikanischen Bundes­gericht gegen die Dekrete geklagt. Die Vorwürfe seien unbegründet. Zudem habe die Regierung die grossen Schritte ignoriert, die Tiktok gemacht habe, «um unser Bekenntnis zum amerikanischen Markt zu demonstrieren», so das Unter­nehmen. Die Klagen sind hängig.

Und die chinesische Regierung? Auf Härte aus den USA reagiert sie in aller Regel mit – Härte. Und so veröffentlichte das chinesische Handels­ministerium Ende August kurzerhand neue Regelungen, die einen Verkauf von Tiktok (und vor allem des so erfolgreichen Algorithmus der Firma) ans Ausland nur mit Einverständnis der Regierung ermöglichen.

Und so droht Tiktok nun vollends zerrieben zu werden. Die USA bestehen auf dem Verkauf. Ob und was China unter­schreiben wird, ist unklar. Derweil dreht das US-Handels­ministerium der App langsam den Saft ab.

Epilog

Die Quintessenz dieses geopolitischen Dramas findet sich, wo sonst, auf Tiktok.

Ende August berichten amerikanische Medien über eine problematische Challenge, die seit Wochen viral geht. Eltern zeigen ihren Kindern ein Foto ihrer angeblichen neuen Lehrerin und filmen sie dabei. Häufig zeigt dieses Foto: eine reale Person mit einer körperlichen Behinderung. Die Kinder erschrecken, und die Eltern haben ihren Spass.

Für die betroffenen «Lehrerinnen» ist die «New Teacher Challenge» deutlich weniger spassig. Eine von ihnen ist Lizzie Velasquez. Die Amerikanerin wurde mit einer Binde­gewebs­erkrankung geboren und ist eine weltweit bekannte Aktivistin für die Rechte und die Anerkennung von Menschen mit Behinderung. Auf Tiktok rät sie den Eltern – in Ruhe und mit einem Lächeln im Gesicht –, wie sie ihren Kindern Empathie beibringen können für Menschen, die anders aussehen als sie selbst:

Auf Tiktok passiert das, was eben passiert, wenn gut 700 Millionen Menschen von einer Maschine zusammen­gewürfelt werden: Es wird witzig, es wird kreativ, und es wird grob und menschen­verachtend. Manchmal ist Tiktok wildes Tanzen, und manchmal die Nacht im Spital.

Tiktok ist das, was man daraus macht.

In Pittsburgh, Peking, Poona und Paris – eben überall.

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