«Die Schweiz ist nicht irgendeine Demokratie. Das vergessen Sie als Schweizer vielleicht manchmal»: Fionnuala Ní Aoláin im Videocall.

«Die Schweiz sendet ein fatales Signal in die Welt hinaus»

Mit den geplanten Anti-Terror-Gesetzen werde die Schweiz für autoritäre Regimes zum Vorbild – um Oppositionelle verfolgen zu können. Wir sprachen mit der Frau, die diese scharfe Kritik formuliert hat: der Uno-Sonderbeauftragten Fionnuala Ní Aoláin.

Ein Interview von Daniel Ryser (Text) und Ella Mettler (Bilder), 17.09.2020

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Fionnuala Ní Aoláin, wir führen dieses Gespräch ausgerechnet am 11. September. Vor fast zwanzig Jahren hat der damalige US-Präsident George W. Bush wegen der Anschläge in den USA den Ausnahme­zustand ausgerufen – der bis heute andauert. Zwanzig Jahre Ausnahme­zustand – was bedeutet das für einen Rechtsstaat?
Wir erleben seit zwanzig Jahren die Normalisierung des Ausnahme­zustands. Nicht nur auf nationaler Ebene in den USA. Die Anschläge vom 11. September haben auf globaler Ebene zu Strukturen der Terrorismus­bekämpfung geführt, die Menschen­rechte und den Rechts­staat kaum berücksichtigen. Auch bei der Uno selber.

Die Uno berücksichtigt in gewissen Bereichen Menschen­rechte und den Rechts­staat kaum? Wie meinen Sie das?
Im Nachgang zu 9/11 wurde ein Gremium geschaffen, ein Nebenorgan des Uno-Sicherheits­rats und eigentlich eine Kopie davon, mit denselben fünfzehn Mitgliedern: das Counter-Terrorism Committee (CTC). Die Mitglieder haben sich nach 9/11 verpflichtet, ihre rechts­staatlichen Bestrebungen zur Terrorismus­bekämpfung zu verbessern und im CTC darüber Berichte vorzulegen. Doch während die Berichte im Uno-Menschen­rechts­rat von Staaten zwar häufig zu spät und unvollständig eingereicht werden, aber trotzdem aufzeigen, welche Staaten wie mit Menschen­rechten umgehen, sind die Berichte dieses Gremiums geheim. Niemand hat Einblick. Das Komitee sichtet die Berichte, und dann verschwinden sie. Wir wissen nicht, ob hier jemals ein Staat verurteilt wurde, weil er Massnahmen zur Terrorismus­bekämpfung missbraucht hatte gegen die Zivil­bevölkerung, gegen Medien und Oppositionelle. Was wir wissen, und das ist ein interessanter Fakt: dass sich im Gegensatz zum dysfunktional wirkenden Uno-Sicherheits­rat die Mitglieder im CTC immer einig sind.

Und was heisst das?
Ich spreche von «Menschen­rechten light». Staaten und Gremien, zum Teil sogar Uno-Gremien, haben manchmal die Vorstellung, dass man den Begriff Menschen­rechte nur zu verwenden braucht und schon sind sie auf magische Art und Weise gegeben. Während es in der Realität keinen verpflichtenden Mechanismus gibt, der dafür sorgt, dass die Menschen­rechte eingehalten werden. «Menschen­rechte light» bedeutet, dass Menschen­rechte deshalb eine Rolle spielen, weil man darüber spricht, aber nicht, weil man mit Transparenz oder konkreten Mechanismen dafür sorgt, dass ihre Einhaltung auch wirklich garantiert ist.

Die Uno ist Teil eines gravierenden Problems?
Nicht die Uno. Aber ihre Mitglieds­staaten: Sie haben über den Sicherheits­rat ein Gremium geschaffen – und damit das einzige Uno-Gremium, das regelmässig Anti-Terror-Massnahmen überprüft –, das jedoch geheim ist. Dabei geht das Problem tief. Wir haben vor zwei Jahren einen Bericht publiziert, der auf diese Normalisierung des Ausnahme­zustands als Folge von 9/11 fokussiert. Dafür gibt es unzählige Beispiele: Der Ausnahme­zustand, den Präsident Erdoğan in der Türkei nach dem gescheiterten Putsch ausgerufen hat, wurde schliesslich in einen rechtlichen Normal­zustand überführt. Dazu ändert sich aber auch eine grund­sätzliche staatliche Praxis: Notstands­gesetze werden zu regulären Gesetzen. Erdoğan sprach noch von einem Ausnahme­zustand, und auch Frankreich verabschiedete nach den Terror­anschlägen in Paris Notstands­gesetze, deren Titel schon warnt, dass es sich um eine ausser­gewöhnliche Massnahme handelt, dass Rechte beschnitten werden, weil der Staat mit einer akuten Krise konfrontiert ist. Doch derartige Gesetze werden heute als normale Gesetze verabschiedet, ohne leuchtend angestrichen zu sein als Ausnahme­gesetze, die den Staaten extreme Macht geben und die deshalb befristet sind. Diese schädliche Praxis stellt global ein Problem dar. Und mit der Pandemie hat sich das Problem noch einmal verschärft, denn zahlreiche Staaten benutzen jetzt ihren Sicherheits­apparat und ihren Anti-Terror-Apparat, um Covid-19 in den Griff zu bekommen.

Können Sie das ausführen?
Es gab Staaten, die mussten wegen Covid-19 Sonder­gesetze erlassen, um die Krise in den Griff kriegen zu können. Irland beispiels­weise. Oder Frankreich. Diese Notstands­gesetze zu erlassen, war nötig, um angesichts der massiven Gesundheits­krise die Bewegungs­freiheit der Menschen temporär so massiv einzuschränken. Oder die Meinungs­freiheit, die Privat­sphäre, die Wirtschafts­freiheit. Andere Staaten wiederum konnten angesichts dieser Krise einfach auf bestehende Gesetze zurück­greifen, die man zur Terrorismus­bekämpfung geschaffen hatte. Wir haben in Zusammen­arbeit mit zwei NGOs einen Tracker aufgeschaltet, der die jeweiligen Einschränkungen in den einzelnen Ländern dokumentiert. Man kann dabei beobachten, dass es eine Reihe von Ländern gibt, die Covid-19 benutzten, um die Kapazitäten der eigenen Demokratie dauerhaft erheblich einzuschränken.

Ein Beispiel?
Ungarn. Mit Beginn der Pandemie hat Viktor Orbán eine Struktur der Exekutiv­macht geschaffen. Alle Entscheidungen im Staat müssen über sein Büro laufen. Der Europa­rat hat deutlich kritisiert, dass eine solche Form mit den Grund­sätzen einer Demokratie nicht vereinbar ist.

Die Strategie der Uno zur Bekämpfung von Terrorismus besteht aus vier zentralen Säulen. Eine davon: sicher­zustellen, dass dabei die Menschen­rechte aller respektiert werden und dass der Rechts­staat die fundamentale Basis dieser Handlungen bildet. Können oder wollen sich Demokratien im Kampf gegen den Terrorismus Menschen­rechte überhaupt noch leisten? Was antworten Sie Leuten, die sagen, wir können doch nicht Menschen, die uns im Strassen­café niedermähen, rechtliches Gehör zugestehen?
Ich bin in Nordirland aufgewachsen, wo wir jahrzehnte­lang mit einem bewaffneten Konflikt konfrontiert waren. Ich spreche als jemand, für den alltägliche Gewalt und Angst eine Lebens­realität waren und keine abstrakte Bedrohung. Aber ich sage Ihnen das klar und deutlich, und ich sage das allen, die behaupten, Menschen­rechte stünden einer effizienten Terrorismus­bekämpfung im Weg: Nur wenn man Terrorismus mit den Mitteln des Rechts­staats bekämpft, wird man die Gewalt beenden. Wenn Sie im Kampf gegen den Terrorismus das Gesetz brechen und die Menschen­rechte missachten, dann begeben Sie sich in einen endlosen Kampf, den Sie nicht gewinnen können. Unzählige Studien und Auswertungen zeigen, wie schädlich staatliche Verstösse in dieser Auseinander­setzung sind. Sie alle zeigen, dass die nie endende Spirale der Gewalt, die zahlreichen, zum Teil schweren Konflikte mit bewaffneten Gruppen durch die Rechts­brüche der involvierten Staaten nicht nur verlängert, sondern regelrecht befeuert wurden.

Heisst das, dass es gerade auch aus einer Sicherheits­perspektive fahrlässig ist, Menschen­rechte und Rechts­staatlichkeit zu missachten?
Wir wissen heute ohne Zweifel, dass eines der grossen Probleme in der Terrorismus­bekämpfung die Rechts­brüche der Staaten sind, die in diesen Kampf verwickelt sind. Somit ist es in der Tat auch aus einer Sicherheits­perspektive extrem kurzsichtig, Verletzungen der Menschen­rechte in Kauf zu nehmen oder sich daran zu beteiligen. Das Einzige, was diese Staaten damit tun, ist, mehr Öl ins Feuer zu giessen.

Zur Person

Fionnuala Ní Aoláin ist Anwältin und Rechts­professorin mit Schwer­punkt Menschen­rechte. Sie lehrt derzeit in Minneapolis (USA) und im nord­irischen Ulster. Sie publizierte mehrere Bücher, darunter «The Politics of Force», in dem sie die Morde staatlicher Agenten im Nord­irland­konflikt untersuchte. 2003 ernannte der Uno-General­sekretär die in Nordirland aufgewachsene Ní Aoláin zur Sonder­expertin zur Frage der Geschlechter­gleichheit in Konflikten und Friedens­prozessen. Später war sie Beraterin der Vereinten Nationen für Gleich­stellung und Ermächtigung der Frauen sowie des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte bei der Studie über Wiedergut­machungen für konflikt­bedingte sexuelle Gewalt. 2017 ernannte der Uno-Menschen­rechts­rat Ní Aoláin zur Sonder­bericht­erstatterin für den Schutz der Menschen­rechte und der Grund­freiheiten bei der Terrorismus­bekämpfung.

Sie sagen, wenn wir die Spirale der Gewalt durch­brechen wollen, dann muss sich der Staat an geltendes Recht halten. Das sagen Sie, während gleichzeitig mit Gina Haspel eine Frau CIA-Direktorin ist, von der wir heute wissen, dass sie in Thailand ein Geheim­gefängnis geführt hat, in dem Menschen gefoltert wurden, und die damit bis heute kein moralisches Problem hat. Was heisst das, wenn wir wissen, dass Folter einen nicht ins Gefängnis bringt, sondern im Gegenteil: dass sie im mächtigsten Land der Welt sogar der Karriere dienlich sein kann?
Als Akademikerin habe ich sehr deutlich und wiederholt betont, dass es mit einem Rechts­staat nicht kompatibel ist, eine Person in ein solches Amt zu berufen, die Folter­programme verantwortet hat. Und dass die Message an Regierungen in der ganzen Welt dabei nur eine ist: «Es ist Jagd­saison. Folter ist erlaubt. Es gibt keine Konsequenzen.» Gleichzeitig stehe ich im Dialog mit vielen Staaten. Nicht wenige sind entsetzt darüber, dass man Menschen, die folterten, befördert, statt sie für ihre Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Es ist unsere Aufgabe, stetig daran zu erinnern, dass Gina Haspel Folterungen verantwortet hat. Und es ist unsere Aufgabe, uns bewusst zu sein, dass Recht und Gesetz einen langen Atem haben. In Guatemala oder Argentinien beispiels­weise dauerte es zwanzig und dreissig Jahre, Folterer zur Rechenschaft zu ziehen. Aber dann ist es geschehen. Und das bringt mich zurück zum fundamentalen Kern: Niemand steht über dem Gesetz. Auf keinen Fall werde ich die Möglichkeit ausschliessen, dass das Gesetz auch irgendwann in den USA Menschen zur Verantwortung zieht, bis in die höchsten verantwortlichen Ämter.

Und in der Zwischenzeit?
In der Zwischenzeit arbeiten wir mit jenen Staaten weiter, die an diese Werte glauben und sie fördern und die überzeugt davon sind, dass ihre Gesellschaften sicherer und geschützter sind, wenn die Menschen­rechte geachtet werden. Ich arbeite im Rahmen meines Uno-Mandats sehr viel mit Geheim­diensten, mit Polizei, mit Militär, dem Sicherheits­sektor. Viele von ihnen verstehen die kontra­produktive Natur von politischen Entscheiden, Menschen­rechte zu missachten. Und viele betrachten auch Sicherheit und Menschen­rechte nicht als zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Häufig ist man sich einig: Sicherheit und die Achtung der Menschen­rechte sind untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig.

Trotzdem: Fast jede Gesetzes­verschärfung in diesem Bereich scheint von den Parlamenten befürwortet zu werden. Auch in der Schweiz. Als hätte sich in den Gesellschaften das Gefühl verinnerlicht, dass der Rechts­staat Terrorismus nicht besiegen kann.
Und dieses Gefühl ist auch nicht neu, was es nicht richtiger macht. Aharon Barak, ehemaliger israelischer General­staats­anwalt und dann der höchste Richter des Landes, nannte es die grosse Heraus­forderung von Demokratien, mit einer Hand auf dem Rücken kämpfen zu müssen. Demokratien, die sich dem Rechts­staat verpflichteten, hätten das Gefühl, sie seien gegenüber jenen im Nachteil, die keine Regeln beachteten. Das, sagte Barak, ist letztlich der springende Punkt: Man kämpft nicht mit denselben Mitteln. Es gibt einen Unter­schied. Und es ist wichtig, diesen Unterschied zu betonen als Gesellschaften, die Meinungs­freiheit wollen, Versammlungen wollen und Privatsphäre: Wir wollen keine hundert­prozentige Sicherheit. Denn diese totale Sicherheit könnten wir nur bekommen, wenn wir alle unsere Rechte aufgäben.

Was heisst das für die aktuell von Corona geprägte Zeit?
Eine der zentralen Heraus­forderungen in diesem Corona-Moment, mit denen unsere Gesellschaften hadern, ist: die Balance zu finden zwischen den Restriktionen und dem Recht der Bürgerinnen, ein erfülltes, anständiges Leben zu führen. Das internationale Recht sieht das ja ausdrücklich vor: Es soll und muss Staaten erlaubt sein, angesichts einer extremen Ausnahme­situation während kurzer Zeit die Rechte der Bürger zu beschneiden. Der Punkt ist: Irgendwann muss das wieder enden.

Im Mai hat die Uno geplante Gesetzes­verschärfungen in Sachen Terror­bekämpfung in der Schweiz erstmals scharf kritisiert. Jetzt, am Tag, an dem wir dieses Interview führen, haben Sie und die Uno die Schweizer Parlamentarierinnen erneut davor gewarnt, kommende Woche den geplanten Anti-Terror-Massnahmen zuzustimmen. Die Kritik ist scharf und eindeutig: «Der Entwurf für das Schweizer Anti-Terror-Gesetz bricht internationale Menschen­rechts­standards, indem er die Definition von Terrorismus ausdehnt, und könnte zu einem gefährlichen Präzedenz­fall werden für die Unter­drückung von politischer Opposition weltweit.» Warum betrachtet die Uno-Sonder­beauftragte im Bereich Menschen­rechte und Terrorismus­bekämpfung dieses Gesetz als derart problematisch?
Das Gesetz verändert die Definition von Terrorismus. Mit Blick auf Menschen­rechte, Rechts­staat und nicht zuletzt die Welt­lage ist das extrem zentral und schwer­wiegend. Es gibt andere Punkte, die extrem besorgnis­erregend sind, etwa, dass von diesem Gesetz auch Kinder betroffen sein sollen. Aber der Kern­punkt ist die neue Definition des Begriffs Terrorismus, die abweicht vom Konsens im internationalen Recht und fernab ist vom üblichen, unmissverständlichen Modell. Diese Definition von Terrorismus wird von autoritären Staaten benutzt, um die Opposition zu unterdrücken.

Was ist genau anders?
Terrorismus soll in der Schweiz nicht mehr gekoppelt sein an eine schwere Straftat. Neu ist die Rede von Gefährdern, von potenziellen Terroristen. Allein die Sprache des Textes sagt es schon: Es geht nicht mehr um eine terroristische Handlung, sondern um eine potenzielle Gefahr. Gefährder ist ein vager Begriff. Rechtlich ist das hoch­problematisch, weil es Missbrauch Tür und Tor öffnet. Umso mehr, weil das Schweizer Gesetz zudem vorsieht, dass diese potenzielle Gefährdung nicht von einem Gericht beurteilt werden soll, sondern von der Bundes­polizei. Stellen Sie sich vor, was das in einem autoritären Staat bedeutet. Und das alles ist dann auch noch gekoppelt an administrative Massnahmen, die selbst Kinder treffen können. Massnahmen, die ihre Bewegungs­freiheit massiv einschränken können, obwohl sie keine Straftat begangen haben. Das ist, so bin ich überzeugt, eine Verletzung von Artikel 5 der Europäischen Menschen­rechts­konvention. Und das wäre nur der eine Teil des Problems.

Und der andere Teil des Problems?
Die Schweiz ist eine Demokratie. Und nicht irgendeine Demokratie. Das vergessen Sie als Schweizer vielleicht manchmal. Die Schweiz war historisch einer der wichtigsten Staaten, wenn es darum ging, andere Staaten zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie unter dem Deck­mantel der Terrorismus­bekämpfung ihre Macht missbraucht haben. Das Signal, das die Schweiz jetzt sendet, steht dem entgegen. Die Schweiz signalisiert anderen Staaten – und das dürfen Sie auf gar keinen Fall unter­schätzen, den Umstand, dass dieses Signal aus der Schweiz kommt –, dass breite, vage, unpräzise und inter­pretierbare Definitionen von Terrorismus zulässig und statthaft sind. Und das ist extrem gefährlich. Denn die Geschichte zeigt, dass dies den Boden legt für Autoritarismus. Es passiert immer wieder, dass Staaten Anti-Terror-Gesetze missbrauchen. Und wir sind zutiefst besorgt, dass die Schweiz – historisch zuvorderst, wenn es darum ging, präzise, eng gefasste, rechtlich adäquate Definitionen von Terrorismus zu verteidigen – ein fatales Signal in die Welt hinaussendet.

In welche Welt?
Denken Sie an Hongkong. China bezeichnet inzwischen jeden, der die Regierung in Hongkong kritisiert, als Terroristen beziehungs­weise verfolgt ihn mit Anti-Terror-Massnahmen. Hier sagen wir klar: Eine solch vage Auslegung des Begriffs von Terrorismus ist nicht zulässig. In Saudi­arabien wurden Anti-Terror-Gesetze dazu benutzt, Frauen einzusperren, die sich für das Recht eingesetzt haben, Auto fahren zu dürfen. In der Türkei werden unter dem Vorwurf des Terrorismus Anwälte weggesperrt, Professorinnen, Journalisten, Menschen­rechts­aktivistinnen. Das alles funktioniert, weil der Begriff des Terrorismus nicht mehr an schwere Gewalt­taten gekoppelt ist und fast alles bedeuten kann. Die Schweiz gibt für derartige Missbräuche indirekt grünes Licht, wenn sie selbst nun Terrorismus derart vage interpretiert. In Ägypten wurde vor zwei Wochen der Menschen­rechts­anwalt Bahey el-Din Hassan von einem Anti-Terror-Gericht zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, weil er die Regierung kritisiert hatte.

Was hatte er gesagt?
Er hat der Regierung vorgeworfen, die vagen Anti-Terror-Gesetze zu missbrauchen, um die Opposition auszuschalten.

Zum geplanten Anti-Terror-Gesetz

Das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (PMT) fokussiert auf präventive Massnahmen gegen «terroristische Gefährder»: Personen, von denen eine mutmassliche Gefahr ausgeht, die sich aber noch nicht strafbar gemacht haben. Mit dem neuen Gesetz wird die Polizei gegen diese Personen Kontakt- und Ausreise­verbote aussprechen oder sogar einen Haus­arrest anordnen können. Die Massnahmen können auch gegen Kinder angewandt werden: Haus­arrest darf bereits 15-Jährigen auferlegt werden, alle anderen Massnahmen bereits 12-Jährigen.

Seit 9/11 wurden in der westlichen Welt die Massnahmen zur Terrorismus­bekämpfung fast ins Unermessliche ausgebaut, Gesetze massiv verschärft, ganze Kriege gegen Terrorismus geführt. Ist die Welt zwanzig Jahre später ein sicherer Ort?
Das ist eine grosse Frage: Haben uns all die Massnahmen, die seit 9/11 ergriffen wurden, freier gemacht, sicherer gemacht? Aus der Perspektive meines Mandats kann ich diese Frage nicht eindeutig mit Ja beantworten. Wir haben den Aufstieg erlebt von mächtigen, gewalt­tätigen nicht staatlichen Akteuren, die massivste Menschen­rechts­verletzungen begangen haben: IS. Wir haben andere massive, systematische Verletzungen der Menschen­rechte gesehen: Guantanamo Bay. Systematische illegale Auslieferungen, Verschleppungen, systematische Folter, Water­boarding. Guantanamo existiert immer noch, ich war 2017 als Anwältin dort. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Menschen ohne rechtliche Grundlage dort festgehalten werden und Folter und demütigender Behandlung ausgesetzt sind. Gleichzeitig sind unsere Sicherheits­apparate explodiert. Bürger­rechte wurden beschnitten. In dem Sinne: Nein. Es ist mir nämlich nicht klar, ob wir überhaupt noch vor Augen haben, dass das Ziel von Terrorismus­bekämpfung wäre, Gewalt und Radikalisierung überhaupt zu verhindern. Ich bin nicht einmal mehr sicher, ob das überhaupt noch das Ziel ist.

Jelani Cobb, Professor für Journalismus an der Columbia University und Mitarbeiter des Magazins «New Yorker», hat zum Jahres­tag der Terror­anschläge auf New York getwittert: «Die Geschichte darüber, wie uns die Vorfälle am 11. September 2001 auf direktem Weg in das momentane Chaos geführt haben, würde ein gutes Buch ergeben.»
9/11 hat einen langen Schatten auf uns geworfen. 9/11 hat dazu geführt, dass die Uno eine neue Anti-Terror-Architektur geschaffen hat, die folgen­schwer ist für die Integrität und die Balance der ganzen Behörde. Die überdimensionale Rolle, die Terrorismus­bekämpfung seither in der Uno einnimmt, verbunden mit der mangelnden Integration der Rolle der Menschen­rechte innerhalb der Behörde in diesem Bereich, ist ein globales Vermächtnis von 9/11. Ein anderes Vermächtnis, auf nationaler Ebene, ist die massive Zunahme des Gebrauchs von Massnahmen zur Terrorismus­bekämpfung, auch in demokratischen Staaten. Und auch das Schweizer Gesetz, über das wir gesprochen haben, ist ein Vermächtnis von 9/11. Es ist das Ergebnis eines massiv gestiegenen Drucks auf nationale Parlamente, neue Gesetze zur Terrorismus­bekämpfung zu erlassen, oftmals kurzsichtig und nicht effektiv.

Was hat 9/11 bei den Menschen ausgelöst?
9/11, aber auch die Bomben­anschläge von London, die Anschläge von Madrid, der Horror von Paris, der Horror von Brüssel, hat die Menschen mit einer tiefen Angst erfüllt. Durch diese Angst haben viele Menschen den Glauben verloren, dass der Rechts­staat die Möglichkeit hat, sie tatsächlich zu beschützen. Und das ist womöglich die grösste Heraus­forderung der heutigen Zeit: dass wir mit einer Öffentlichkeit konfrontiert sind, die durch all den Schrecken, den wir erlebt haben, zur Überzeugung gelangt ist, dass die Angst, die wir empfinden, alle Mittel rechtfertigt. Und dass wir diese Öffentlichkeit wieder davon überzeugen müssen, dass der Schrei nach immer noch schärferen Gesetzen, die Militarisierung der Gesellschaft, uns nicht freier und nicht sicherer macht.

Was ist die Alternative?
Der einzige Weg für eine nachhaltige Sicherheit liegt im sehr altmodischen Rechts­staat, in der Wahrung der Menschen­rechte. Wir müssen heraus­finden, wo die Gründe liegen für die Gewalt, die uns heimsucht. In Nord­irland haben wir diese Lektion gelernt. Sie lernen müssen. Es war ein langer Weg. Aber am Ende war es nicht noch mehr Aufrüstung, militärische, gesetzliche, die uns von der Gewalt befreit hat, sondern ein Friedens­abkommen, dem ein langwieriger Prozess zugrunde lag. Die Gemeinschaften, die am meisten von der massiven Gewalt betroffen waren, sind dabei stark einbezogen worden. So hat man Schritt für Schritt erfasst und erkannt, was der Gewalt zugrunde lag, und dann hat man das adressiert – auf eine Art und Weise, die schliesslich, nach dreissig Jahren Terror, Wirkung zeigte.

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