Aus der Arena

Nie wieder Daniel Koch

Heute erscheint die Autobiografie einer der wichtigsten Figuren der modernen Eidgenossenschaft seit General Guisan. Eine Würdigung.

Von Daniel Ryser und Olivier Würgler, 16.09.2020

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Immer, wenn es in der Geschichte unserer geliebten Eidgenossenschaft eng wurde, haben starke Männer den Karren für uns aus dem Dreck gezogen. Sei es Winkelried bei der Schlacht von Sempach, der sich in ein Heer von Lanzen warf. Oder Wilhelm Tell, der sich weigerte, den Hut fremder Vögte zu grüssen. Auch im März 2020, als sich eine der grössten Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg anbahnte, konnte das tief verwurzelte Bedürfnis des Schweizers nach einem starken Mann befriedigt werden. Der hegelsche Weltgeist spülte uns den Spitzen­beamten Daniel Koch an die Oberfläche. Mit seiner tiefen, ruhigen Stimme – ein Mann, der schon in Übersee exotischen Krankheiten trotzte – vermochte Koch uns panische Schweizerinnen zu beruhigen. Heute Mittwoch nun erscheint mit seiner Autobiografie «Stärke in der Krise» das abgesehen von Michèle Binswangers Recherche zur Causa Zug wohl am meisten erwartete Werk auf dem Schweizer Buchmarkt.

Leider blieb es uns wegen einer Exklusiv­klausel mit dem Ringier-Verlag verwehrt, schon einen Blick in das garantierte Meister­werk zu werfen. Aber nach der grossen Buch-Bewerbungs-Homestory vom vergangenen Freitag in der «Schweizer Illustrierten» wissen wir sowieso alles, was es braucht, um eine finale Würdigung zu schreiben (kurz vor Redaktions­schluss hätte uns der Verlag einen Vorabdruck doch noch per Mail zugestellt, allerdings nur unter der Bedingung, diese Würdigung vorab gegenlesen zu können, was bei aller Liebe zu Daniel Koch dann doch nicht mit unserem hehren Berufs­ethos vereinbar war).

Bei Lektüre der «Schweizer Illustrierten» realisierten wir, dass wir viel mit dem Mediziner gemeinsam haben – eine ungebändigte Leidenschaft für das womöglich grossartigste Produkt, das uns die Globalisierung von Mexiko direkt in die hiesigen Super­märkte gespült hat. Connaisseur Koch in der «Schweizer Illustrierten»: «Corona ist mein Lieblingsbier.»

Der Mann ist genial: Im Gegensatz zu den ausländischen Weichei-Epidemiologen brauchte er die Warnungen der WHO von Anfang Januar nicht und ebenso wenig den wissenschaftlichen Rat von angesehenen Schweizer Epidemiologinnen. Er hatte ja Alain Berset, der übrigens gleich auch das Vorwort zum Buch schreibt, und seinen hellsichtigen Kollegen, den Genfer Infektiologen Didier Pittet, der am 26. Februar, als in Italien bereits das totale Chaos herrschte, im Interview mit «Le Temps» sagte, in der Schweiz seien in Sachen Corona bloss ein paar Einzel­fälle zu erwarten.

Böse Zungen behaupten zwar, Fachmann Koch hätte uns wochen­lang mit seiner Aussage, es gebe keine Evidenz, dass Masken gegen Corona nützen würden, an der Nase herumgeführt, weil es sein Kumpel Alain Berset verpeilt hatte, genügend Masken einzukaufen. Das Argument hatte zwar was und liess uns, die wir sonst gerne mit dem Finger auf autoritäre Regimes zeigen, wenn die ihre Bevölkerung an der Nase herumführen, einmal leer schlucken. Aber die Freude über unseren alpinen Bruce Willis obsiegte: die Krise als Chance.

Nach Winkelried hat man Strassen benannt. Daniel Koch aber hat sich zu seiner Pensionierung am 1. Juni gleich zweimal für das Schweizer Instagram-Publikum (einmal auf Deutsch und einmal auf Französisch) im leider nicht mass­geschneiderten Büro­anzug in die 17 Grad kalte (!!!) Aare geworfen. Winkelried warf sich nur einmal in die habsburgischen Speere. Seien wir ehrlich: Der Mann hat Besseres verdient als das Koch-Areal.

Vielleicht sollte der SC Bern, dessen Berater Koch heute ist und dort als solcher entgegen irgend­welchen Miesmachern, die behaupten, Fussball­spiele seien virologisch gesehen gefährliche Super­spreader-Events, klar und deutlich sagt, dass man für die 17’000 Fans des SC Bern schnell effiziente Lösungen finden müsse, die Postfinance-Arena umgehend in Daniel-Koch-Arena umbenennen. Es wäre das Mindeste.

Ein anderer Miesmacher, ein Journalist beim «Tages-Anzeiger», äusserte kürzlich die Befürchtung, dass der Berner Mediziner die globale Pandemie mit einer One-Man-Show verwechseln könnte.

Warum verwechseln? Für uns ist es eine One-Man-Show, und zwar eine grossartige! Daniel Koch scheint nämlich auch hervor­ragend in grösseren ökonomischen Zusammen­hängen denken zu können. «Im Sommer 2022 ist Corona gegessen», lächelt er vom Cover der «Schweizer Illustrierten». Auch wir sind optimistisch, dass die paar wenigen mexikanischen Hopfenpflücker, die paar Millionen indischer Wander­arbeiter und auch die übrigen Lohn­arbeiterinnen dieser Welt die grösste Rezession seit 1928 bis dann mit links weggesteckt haben werden und wieder fröhlich für ihre Chefs Mehrwert generieren.

  • Warum ist Daniel Koch nicht auch Wirtschaftsminister?

  • Warum brauchen wir Konkordanz?

  • Warum brauchen wir sieben Bundes­räte und nicht einfach Daniel Koch und Alain Berset?

Das sind die dringenden Fragen, die in den Schweizer Redaktions­stuben von der alles umfassenden Cancel-Culture abgewürgt werden.

Dass Daniel Koch über Fähigkeiten verfügt, die Mike Shiva (R. I. P.) alt aussehen lassen, wussten wir ebenfalls schon ohne Autobiografie.

  • 25. Februar 2020: «Dieser eine Fall ändert die Situation im Moment nicht.»

  • 29. Februar: «Wir sind rechtzeitig. Wir sind relativ früh. Es ist jetzt nicht so, dass in der Schweiz die Situation herrscht wie in Italien, wo wir sagen müssen: Es ist ausser Kontrolle. Aber wir sind an der Schwelle zu dem.»

  • 4. März: «Die Lage ist ernst und wird immer ernster.»

  • 17. März: «Es geht wirklich jetzt um das Letzte. Und wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir unsere Spitäler überlasten.»

  • 19. März: «Es geht jetzt wirklich ums ernsthafte Überleben von vielen Menschen.»

Daniel Koch wird uns fehlen, wenn er seinen Ruhestand geniesst mit seinen Hündinnen Bundji (benannt nach der Sprinterin Mujinga Kambundji) und Akira. Auch wenn wir alles Wichtige über ihn zu wissen glauben, halten wir mit seiner Autobiografie nun ein gelebtes Stück Schweizer Geschichte in den Händen und sind traurig, dass uns künftig sein Nachfolger Stefan Kuster durch die immer noch nicht ausgestandene Krise begleiten wird und nie wieder Daniel Koch.

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