«Die Schweiz könnte problemlos sofort 500 Menschen aus Moria aufnehmen»

Der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried fordert Bundesrätin Karin Keller-Sutter zum schnellen Handeln auf. Die Städte seien nicht nur bereit, viel mehr Menschen aufzunehmen als vom Bundesrat geplant, sagt er im Gespräch mit der Republik. Man habe auch die nötigen Kapazitäten.

Von Daniel Ryser, 15.09.2020

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«Handeln jetzt!», twitterte der grüne Berner Stadt­präsident Alec von Graffenried am 9. September, nachdem der Berner Gemeinde­rat in einer Meldung angekündigt hatte, die Stadt Bern sei in einem ersten Schritt bereit, 20 Menschen aus Moria Zuflucht zu gewähren.

«20 Menschen» – auf den ersten Blick erscheint das angesichts der extremen Notlage in Griechenland nicht als atem­beraubend viel. Doch dann vermeldete der Bundesrat zwei Tage später, das Staats­sekretariat für Migration habe «die Aufnahme von rund 20 Kindern und Jugendlichen aus dem nieder­gebrannten Durchgangs­lager in Aussicht gestellt» – für die ganze Schweiz. Weitere zwei Tage später erschien auf «Infosperber» ein Artikel, der von Graffenried zitierte: Leider liege die Kompetenz beim Bund, aber wenn er könnte, würde er «sofort ein Flugzeug runterschicken und einen ersten Transport von Flüchtlingen empfangen». Danach, so der Berner Stadt­präsident, «müsste das Ziel aller Beteiligten sein, das Lager in Moria aufzulösen».

Telefonanruf in Bern: 20 Menschen in Bern oder 20 für die ganze Schweiz?

«Mir erschliesst sich nicht ganz, wie man beim Bund auf diese Zahl kommt», sagt Alec von Graffenried. «Man muss sich ja auch ein wenig an der Notlage orientieren und an den eigenen Möglichkeiten. Und da spricht beides deutlich dafür, dass man mehr macht.»

«Was heisst das?»

«Mir scheint es ein wenig so, als würden die Länder Europas regungslos im Kreis stehen vor Angst, dass verliert, wer sich als erstes bewegt. Es wäre wichtig, dass sich die Schweiz jetzt bewegt. Das würde den Druck erhöhen, dass sich andere auch bewegen. Deutschland zum Beispiel. Ich sage nicht, wir müssen 2000 Menschen aufnehmen. Ich sage aber: Unsere Asyl­zentren sind halb leer. Wir haben in der Schweiz heute die Kapazitäten, sofort 500 Menschen aus Moria aufzunehmen. In Bern hätten wir Platz, einen Teil dieser Menschen aufzunehmen.»

Denn die Asylzahlen, sagt der Berner Stadt­präsident, seien seit 2015 zurück­gegangen, von 40’000 auf rund 15’000, und hätten sich 2020 nochmals halbiert.

«Es ist für mich eine Selbst­verständlichkeit, eine Verpflichtung, dass wir jetzt solidarisch sind und helfen, gerade auch an den europäischen Aussen­grenzen», sagt von Graffenried. «Es bringt in meinen Augen auch nichts, auf das Abkommen zu verweisen, das die EU mit der Türkei geschlossen und dann erneuert hat: Was bringt ein Abkommen, wenn es nicht funktioniert? Wir wussten schon lange, auch von Leuten aus Bern, die vor Ort waren, dass die Zustände auf Moria schlimm sind, dass man die Sache nicht im Griff hat. Aber spätestens jetzt noch auf ein Abkommen zu verweisen, das geht doch nicht.»

Im November 2019 hatte die Republik publik gemacht, dass die Städte Basel, Bern und Zürich dem Staats­sekretariat für Migration das Angebot gemacht hatten, deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen zu können und zu wollen, als es der Verteil­schlüssel der EU-Nationen vorsieht: «Schweizer Städte wollen mehr Bootsflüchtlinge aufnehmen – und dürfen nicht».

Im Juni 2020 dann forderten die acht grössten Schweizer Städte mit der Petition «Evakuieren jetzt!» den Bund konkret auf, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.

«Wenn Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagt, wir nehmen nur 20 unbegleitete Jugendliche auf, dann ist das schön und gut, aber damit ignoriert sie auch unsere eindeutige Bereitschaft», sagt der Stadt­präsident. «Sie handelt aus Angst, auf Ablehnung zu stossen in den Dörfern, welche die Flüchtlinge aufnehmen müssten. Ich erhoffe mir, dass sie mutig ist und sagt: Wir nehmen diese Leute auf und bringen sie in jene Städte und Gemeinden, wo diese Bereitschaft besteht.»

Er befinde sich derzeit im Austausch mit anderen Städten, zum Beispiel auch mit Zürich. Auch dort sei man dran, ein deutliches Signal nach Bern zu senden.

«Die Bundes­rätin mag womöglich sagen, die Asyl­unterkünfte seien Bundes­unterkünfte», sagt der Berner Stadt­präsident. «Aber darum geht es doch nicht. Es geht darum, wo die Menschen sich dann physisch befinden, und die grossen Bundes­asyl­zentren befinden sich nun mal in den Städten, wo man auch viel Erfahrung mit der Integration von Geflüchteten hat.»

Wenn die Stadt Bern in einem ersten Schritt von 20 Menschen gesprochen habe, die man sofort aufnehmen wolle, dann sage er nun, dass man diese Zahl erhöhen könne. «Es ist ja auch nicht so, dass wir keine Erfahrung mit Not­situationen haben», sagt von Graffenried. «In den Neunzigern sind 300’000 Menschen aus dem Balkan in die Schweiz gekommen. Das hat schliesslich auch funktioniert.»

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