Das Wie bestimmt das Wieviel
Die Zahl der Personen, die in der Schweiz leben können, ist keine fixe Grösse. Sie hängt davon ab, wie viel Platz und Ressourcen wir nutzen – und wie intelligent wir das tun.
Von Simon Schmid, 07.09.2020
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Immer wieder mal diskutiert man in der Schweiz über die Anzahl Menschen, die in ihr leben – und darüber, dass es zu viele seien für dieses kleine Land.
Viel zu selten diskutiert man über den Lebensstil der Menschen, die bereits in diesem Land leben – und über ihre Art, zu planen, zu bauen, zu reisen, zu konsumieren. Das holen wir heute nach: anhand von ein paar prinzipiellen Überlegungen und, anders als vor einer Woche, anhand von vielen Grafiken.
1. Bevölkerung
Die Schweizer Einwohnerzahl wächst. Zwischen 1995 und 2018, innerhalb eines knappen Vierteljahrhunderts, ist sie von gut 7 Millionen auf über 8,5 Millionen angestiegen. Dies entspricht einer Zunahme um 21 Prozent.
Das illustriert die folgende, zugegebenermassen sehr simple Grafik.
Die Bevölkerung ist aber nicht das Einzige, was in der Schweiz gewachsen ist.
2. Strassenverkehr
Gewachsen ist auch unser Bedürfnis, räumliche Distanzen zu überwinden.
Zum Beispiel mit dem Auto oder dem Motorrad. 102 Milliarden Kilometer wurden 2018 gemäss dem Bundesamt für Statistik mit diesen beiden Verkehrsmitteln zurückgelegt. Im Jahr 1995 waren es noch 74 Milliarden Kilometer gewesen.
Auch bei den Distanzen sehen wir also eine Zunahme. Hier die Grafik dazu:
Der «Lollipop» auf dieser Grafik ist fast doppelt so lang wie zuvor. Er zeigt ein Plus von fast 40 Prozent an. Die gefahrenen Auto- und Motorradkilometer haben also fast doppelt so stark zugenommen wie die Bevölkerung. Und das bedeutet: Nicht nur die Anzahl der Menschen, die auf hiesigen Strassen motorisiert unterwegs sind, hat sich verändert – sondern auch deren Verhalten. Sie spulen mehr Kilometer ab (14 Prozent mehr pro Kopf, um genau zu sein).
Ähnliches gilt für den Güterverkehr: Auch hier nimmt die Kilometerzahl zu. Und es gilt für die Anzahl der Personenwagen, die in der Schweiz immatrikuliert sind. Aktuell sind es gut 4,6 Millionen Stück. Gegenüber dem Flottenbestand von 1995 entspricht dies einer Zunahme um 43 Prozent.
Was sich im Gegensatz zur Bevölkerung und zu den gefahrenen Distanzen aber kaum verändert hat, ist die Länge des Strassennetzes. Dieses ist übers vergangene Vierteljahrhundert um weniger als 1 Prozent gewachsen (wobei es hier nur um die Distanz geht, zusätzliche Spuren sind nicht eingerechnet).
Im Überblick sieht die ganze Verkehrssituation folgendermassen aus:
Verantwortlich dafür, dass das Strassennetz insgesamt nicht gross weiterwächst, ist die Raumplanung. Sie setzt seit einigen Jahren immer stärker auf das Prinzip der Verdichtung. Häuser sollen in der Nähe von anderen Häusern gebaut werden, nicht auf der grünen Wiese. Siedlungen sollen nach innen wachsen, nicht nach aussen – so, dass es wenig zusätzliche Strassen braucht.
Trotzdem besitzen wir immer mehr Autos und fahren mehr damit herum.
Weil gleichzeitig auch noch mehr Menschen hier sind, verstärkt das unseren Eindruck, dass der Verkehr dichter wird. Es zwingt uns, den Verkehr besser zu organisieren, zum Beispiel mit zusätzlichen Spuren, intelligenten Lichtsignalen, Über- und Unterführungen. Und es veranschaulicht das Zusammenspiel zweier Prinzipien, die fast schon universale Gültigkeit haben:
die Maximierung unseres persönlichen Aktionsradius;
die Optimierung unseres kollektiven Ressourceneinsatzes.
Die beiden Prinzipien greifen auch in anderen Bereichen ineinander.
3. Züge
Zum Beispiel im Zugverkehr. Die Entwicklung verläuft hier nach dem genau gleichen Muster wie im motorisierten Individualverkehr – einfach extremer.
Die Distanzen, die wir mit dem Zug zurücklegen, haben übers vergangene Vierteljahrhundert hinweg nämlich um ganze 76 Prozent zugenommen. Also über dreimal so stark wie die Bevölkerung (was bedeutet, dass wir pro Kopf heute fast 50 Prozent mehr Kilometer mit dem Zug fahren als früher).
Das Schienennetz ist in dieser Zeit aber nur um rund 4 Prozent gewachsen. Dass wir trotzdem viel grössere Distanzen zurücklegen, liegt daran, dass wir das Netz besser ausnutzen: Wir lassen mehr Züge darüberfahren, nutzen die Plätze besser aus, fahren auf zwei Stöcken, verbessern die Zugkoordination.
Wir maximieren – und optimieren.
4. Wohnungen
Ein weiteres Beispiel: das Wohnen. Respektive: unsere Ansprüche daran.
Wegen einer etwas schlechteren Datenlage liegen hier nur Zahlen ab der Jahrtausendwende vor – also über knapp 20 Jahre. Doch das Muster ist ähnlich. Die Bevölkerung wuchs in diesem Zeitraum um gut 18 Prozent. Die Anzahl der Wohnungen in der Schweiz nahm schneller zu: um 25 Prozent.
Stärker nachgefragt als früher sind einerseits die kleineren Wohneinheiten mit einer Fläche von weniger als 60 Quadratmetern – das sind meist 1- oder 2-Zimmer-Wohnungen. Besonders gewachsen ist jedoch vor allem die Anzahl der grossen Wohnungen: Einheiten mit einer Fläche von 120 Quadratmetern und mehr, was typischerweise 4 bis 6 oder noch mehr Zimmern entspricht.
Im Vergleich zur Zahl der Wohnungen hat die bewohnte Fläche damit sogar noch stärker zugelegt. Wir beanspruchen also immer mehr Platz für unseren individuellen Wohnbedarf (pro Person fast 9 Prozent, um exakt zu sein).
Dass wir innerhalb unserer vier Wände mehr Raum haben, um zu schlafen, zu essen, zu duschen und um Pilates-Übungen auszuführen, ist Ausdruck des gestiegenen materiellen Wohlstands. Und von der Tendenz, dass zunehmend in die Höhe gebaut wird. Die bebaute Fläche ist seit dem Jahr 2000 nämlich nur um 14 Prozent gewachsen – nur halb so schnell wie die bewohnte Fläche.
Wie viele Einwohnerinnen sollen in der Schweiz leben? Was ist eine gute Anzahl von Autos, Zügen, Wohnungen? Es gibt keine einfachen und auch keine abschliessenden Antworten auf diese Fragen. Denn es hängt davon ab, wie weit wir maximieren wollen – und wie stark wir optimieren können.
Und es hängt davon ab, was wir überhaupt maximieren und optimieren.
5. Konsum
Bisher haben wir viel von Flächen gesprochen – von Räumen und Distanzen. Doch es gibt noch viele weitere Bereiche, in denen unsere Präferenzen und Fähigkeiten eine Rolle spielen. Zum Beispiel beim Konsum. Zum Beispiel beim Konsum von, sagen wir, körpernahen Produkten und Dienstleistungen.
Wie wir aussehen, ist uns wichtig – besonders neue Kleider machen attraktiv. Es ist deshalb kein Zufall, dass mit unserem steigenden Reichtum auch unser Konsum von Blusen, Hosen und Schuhen gestiegen ist. 98’000 Tonnen Kleider wurden gemäss Zollstatistik 2018 in die Schweiz importiert – das sind 38 Prozent mehr als noch 1995 (oder umgerechnet 15 Prozent mehr pro Kopf).
Noch stärker gestiegen ist die Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Ganze 65 Prozent mehr Ärztinnen und Pflegefachleute kümmern sich heute um unser körperliches Wohlbefinden als noch vor 25 Jahren. Teils ist die demografische Alterung, teils der medizinische Fortschritt und teils unsere grössere Kaufkraft dafür verantwortlich, dass dieser Sektor expandiert ist.
Man könnte sagen: Die Schweiz hat im vergangenen Vierteljahrhundert ihren Konsum von Gesundheitsleistungen ziemlich maximiert. Prognosen zufolge soll der Gesundheitssektor auch in Zukunft wachsen (wobei ein Teil davon ermöglicht wird, indem auch die Bevölkerung mittels Zuwanderung wächst).
6. Energie
Im Gleichschritt mit der Bevölkerung gewachsen ist dagegen der Verbrauch in einem ganz anderen Bereich: von Elektrizität. Wir benötigen heute etwa 20 Prozent mehr Strom als vor 25 Jahren. Pro Kopf hat sich allerdings nichts geändert: Unser persönlicher Stromverbrauch ist gleich gross geblieben.
Auch hinter dieser Grafik verbergen sich Maximierung und Optimierung. Im Vergleich zu 1995 betreiben wir eine Vielzahl neuer Geräte – Computer, Handy, Flachbildschirm, Elektroscooter – und hängen immer mehr Lichter auf. Gleichzeitig sind Displays, Haushaltgeräte und Glühbirnen effizienter geworden. Die Rechnung ist bisher aufgegangen: Es gab kaum Stromausfälle.
Sollen unsere Autos künftig elektrisch fahren und unsere Häuser mit Wärmepumpen beheizt werden, steigt der Strombedarf. Auch das künftige Bevölkerungswachstum treibt den Verbrauch. Ein Teil davon dürfte sich über weitere Optimierungen decken lassen – ein anderer Teil vermutlich nicht.
Das bedeutet: Es braucht zusätzliche Produktionskapazitäten – also Wasser-, Solar-, Wind- oder Kernkraftwerke. Ob sie in der Schweiz stehen sollen oder ausserhalb des Landes, dürfte politisch immer mal wieder ähnlich hitzig diskutiert werden wie die Anzahl der Menschen, die hier leben sollen.
Wichtig wäre in beiden Fällen, gelegentlich von der anderen Seite auf das Thema zu blicken. Das heisst: unseren materiellen Maximierungsdrang zu hinterfragen – und zu prüfen, wie gut wir im Optimieren eigentlich waren.
Sie stammen grösstenteils vom Bundesamt für Statistik. Zur Bevölkerungszahl wird dort ein sogenannter Datenwürfel angeboten, der selektive Downloads ermöglicht. Die per Zug oder Auto zurückgelegten Kilometer sind in einem Excel-File verfügbar, wie auch die Zahlen zum Güterverkehr. Die Anzahl Autos und die Länge des Strassen- und Schienennetzes gibt es ebenfalls über Excel. Bei der Schiene reichen die Daten nur bis 2015, wir haben sie bis 2018 hochgerechnet.
Eine Hochrechnung haben wir auch bei den Siedlungsflächen vorgenommen, weil dort Erhebungen sporadisch gemacht werden (1992–97, 2004–09, 2013–18). Nicht nötig war dies bei der Anzahl der Wohnungen. Beim Wohnflächenzuwachs über die gesamte Schweiz hinweg handelt es sich um eine Annäherung, die wir anhand der Wohnungen je nach Grössenkategorie berechnet haben – das Resultat sollte nicht auf die Kommastelle genau interpretiert werden.
Die Beschäftigungszahlen zum Gesundheitswesen stammen vom Bundesamt für Statistik. Die importierte Kleidermenge kommt von der Zollverwaltung, der Stromverbrauch aus der Gesamtenergiestatistik des Bundesamts für Energie.