Virginie Rebetez

Diese unerträgliche Leere

Drei Schweizer Autorinnen legen Bücher über Trauer und Tod vor. Bei kaum einem Thema ist die Gefahr für Kitsch und Oberflächlichkeiten so gross. Finden sie die richtigen Worte?

Von Beate Tröger, 04.09.2020

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«Mehr Licht», so wurde lange erzählt, habe Johann Wolfgang von Goethe zuletzt gerufen. Glaubt man dagegen dem Bericht seines Dieners, rief er nach dem Nacht­topf. Müssen und Sterbenmüssen – Leben ist an den Körper gebunden. Sterbende erfahren sich vor Eintritt des Todes noch einmal aufs Deutlichste in ihrer Kreatürlichkeit und Abhängigkeit.

Der Tod, schrieb der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch, übersteigt jedes Mass. Alle Versuche, die absolute Tragödie des Verlustes zu bagatellisieren oder ihr einen Sinn abzuringen, seien zum Scheitern verurteilt: Wir wollten damit nur die Irrationalität des Todes zu etwas Rationalem umbiegen.

Menschen erzählen vom Sterben und vom Tod, weil es Erleichterung verspricht. Die Aufgabe der Literatur ist es dann, den Skandal des unersetzlichen Verlustes bewusst zu halten und zu reflektieren. Sheherazade aus «Tausendundeine Nacht» schiebt damit nicht nur ihren drohenden Tod auf, sondern gebiert, während sie dem König erzählt, drei Kinder. Wer erzählt, lebt. Und wer erzählt, belebt die Toten, indem er sich erinnert.

Drei aktuelle Bücher der Gegenwarts­literatur bewegen sich im Bann­kreis des uralten Themas Trauer und Tod. So unterschiedliche Autorinnen wie Melitta Breznik, Tom Kummer und Anna Stern suchen ihre Strategie, das Unbegreifliche zu begreifen: den Verlust eines geliebten Menschen.

Zu den Büchern

Der Tod der Mutter – Melitta Breznik

Der Titel von Melitta Brezniks Buch könnte nicht treffender gewählt sein: «Mutter.» Lies: «Mutter, Punkt». Kürzer lässt sich nicht auf eine Formel bringen, was Breznik hier in eindringlicher Prosa unternimmt: das Leben der eigenen Mutter bis zu dessen Ende zu begleiten. Und doch griffe es zu kurz, verstünde man diesen Titel allein vom Ende her.

Breznik, 1961 im österreichischen Kapfenberg geboren und seit vielen Jahren als Ärztin und Autorin in der Schweiz beheimatet, erzählt vielmehr vom Leben, dem eigenen wie dem der Mutter.

Wie die Mutter als junge Frau nach dem Zweiten Weltkrieg ihrem Mann aus Frankfurt am Main in die Steiermark folgt, wo sie eine Fehl­geburt erleidet; wie einer von zwei Söhnen früh stirbt; wie die Tochter als spätes Kind und mutmasslicher Verhütungs­unfall zur Welt kommt und den eigenen Eltern zunächst als lästiges Übel erscheint. Wie sie dann als 17-Jährige trotz Verhütung selbst schwanger wird; wie sie von der Mutter gezwungen wird, abzutreiben, und dann nie mehr ein Kind haben wird.

Das Buch erzählt also vor allem vom Verhältnis zweier Frauen, denen das Leben mit Härte entgegentritt und die doch einen Emanzipations­prozess durchlaufen: die Mutter durch die Trennung, die Tochter durch ihren beruflichen Aufstieg.

Zwei ganze Leben, doch Brezniks Text kommt mit staunens­wert wenigen Worten aus. So lakonisch wie ihr Titel macht sie auf 160 Seiten erfahrbar, wie stark ein Leben vom Verhalten der Mutter beeinflusst sein kann – bis zuletzt. Das einstige Kind hat die Mutter mal übermächtig erlebt, dann wieder ohnmächtig, bisweilen sogar herrisch, manchmal hilflos – eine Unsicherheit, die dann auch die Tochter verunsichert hat. So sehr, dass sie jahrelang auf Abstand zu ihr ging. Bis der bevor­stehende Tod beiden wieder alle Distanz raubt.

Das Motto zu ihrem Buch hat Melitta Breznik auf einer Grab­platte im Südtiroler Laas entdeckt: «Es ist später, als Du denkst». Eine Memento-mori-Variation, eine Erinnerung daran, dass im Bewusstsein des bevor­stehenden Todes jede alltägliche Verrichtung, jeder Blick, jedes Wort an Gewicht gewinnt. Und so gibt dieses Motto auch die poetologische Prämisse vor: Wenn die Zeit begrenzt ist, gilt es, nicht zu viele Worte zu machen.

Brezniks «Chronik», wie die Gattungs­bezeichnung lautet (nicht «Roman»), setzt ein an einem 17. Oktober. Die Erzählerin sucht ihre 91-jährige Mutter von der Schweiz aus in Österreich auf, weil die über Bauch­schmerzen klagt. Die Diagnose lautet Bauch­speichel­drüsen­krebs, eine aggressive Krebs­art, die meist rasch und letal verläuft. Also entscheidet sich die Tochter, bei der Mutter zu bleiben, sechs Wochen lang, bis zu deren Tod am 1. Dezember.

Indem die Erzählerin ihre Mutter begleitet, Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen notiert, gelingt es ihr, das Prägende am Verhältnis der beiden Frauen mitzuteilen: die Kriegs- und Nachkriegs­erfahrungen der Mutter, aber auch das Archetypische im Mutter-Tochter-Verhältnis, die grundsätzliche Sorge und Verantwortung der Mutter für ihre Tochter. Sie zeigt auch, wie sich das Verhältnis zwischen Mutter und Kind in gewisser Weise umkehrt, weil die Mutter nun die Fürsorge braucht; und wie trotzdem etwas von der unverbrüchlichen Sorge einer Mutter für ihr Kind erhalten bleibt:

Bei meiner Ankunft war ich überrascht, Mutter fröhlich zu sehen. Als ich sie, noch an der Türe, nach dem ersten Kuss auf ihre weiche Wange, vorsichtig umarmte, noch unsicher, wie fest ich sie berühren durfte, fühlte sie sich feder­leicht an. Fast war ich versucht, sie, die einen Kopf kleiner war als ich, hochzuheben wie ein Kind. Die Berührung löste in mir ein Gefühl von Geborgenheit aus.

Melitta Breznik: «Mutter.».

Die Mutter erscheint zart wie ein Kind – und doch fühlt die Erzählerin bei der Umarmung eine archaische Geborgenheit, die schon bald, im Prozess des sich ankündigenden Sterbens, zu schwinden beginnt. Das Bewusstsein des bevor­stehenden Verlustes tritt umso offener zutage, als es sich mit der Kinder­losigkeit der Erzählerin zu einem doppelten Verlust­gefühl vermischt: Um sie selbst wird sich dereinst kein Kind kümmern, wenn es so weit ist.

Mich wird später einmal niemand mehr so berühren, wie Mutter jetzt berührt wird. Man wird mich am Eingang zum Spital in einen Diagnose­tunnel schieben, an dessen Ende die Ergebnisse mir von einer Computer­stimme mitgeteilt werden.

Melitta Breznik: «Mutter.».

Brezniks Buch ist auch deshalb so eindrücklich, weil sich die Erzählerin konsequent auf Beobachtungen und Gedanken beschränkt; die Deutung überlässt sie den Lesenden. Und die spüren, dass sich hier das Hadern mit dem bevor­stehenden Tod noch verschärft durch eine alte Trauer: um das verhinderte Leben ihres Kindes. Berührend ist, wie die Tochter einfachen Schuld­zuweisungen widersteht. Und wie sie die Begrenztheit ihres eigenen Einfluss­bereiches zu akzeptieren lernt.

Auch wenn ich noch weiter in der Kindheit verweile, einer Zeit, als Mutters Tod noch fern lag, wird mein Zögern ihr Leben nicht verlängern.

Melitta Breznik: «Mutter.».

Damals, als sie den Berufs­weg der Ärztin eingeschlagen hatte, war das für die Mutter auch ein Zeichen der Entfremdung. Nun kann die medizinische Expertise der Tochter den «Verrat» an ihrem Herkunfts­milieu wieder wettmachen, weil ihr Wissen als Ärztin der sterbenden Mutter zugutekommt. Schuld und Schuld­gefühle klingen an, bei allem Hadern kann sich die Erzählerin aber doch mit der Mutter versöhnen. Sie stellt alles andere auf unbestimmte Zeit zurück, verfällt nie ins Lamentieren, bemerkt bisweilen nicht einmal die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Die Sorge um und die Pflege der Mutter verändern die Perspektive und die Wahrnehmung der Zeit:

Jeder Kontakt nach aussen erscheint mir künstlich, und es ist mir nicht möglich, am Telefon über Dinge zu sprechen, die mich und mein Leben jenseits dieser vier Wände betreffen. Dieses Leben ist aktuell zurück­gestellt. Die Zukunft ist die Zeit nach Mutters Tod. (…)

Die Zeit dreht sich zurück.

Melitta Breznik: «Mutter.».

Gerade weil Melitta Breznik sich auf Nüchternheit und präzise Beobachtung verpflichtet, gelingt es dieser «Chronik», die Leserin doch noch an eine Erfahrung heran­zuführen, die mit Worten nie ganz zu erreichen ist: den «schleichenden Verlust des prallen Lebens, auf den man nicht vorbereitet sein kann, weil alles, was darüber erzählt wird, nicht aus dem eigenen Erleben kommt».

Die Erschütterung, die dieser Text auslöst, rührt von der Aufmerksamkeit, mit der Breznik erzählt. «Der Tod braucht Zeit», heisst es an einer Stelle, «er duldet keine Eile, er duldet nichts anderes neben sich.»

Breznik hat aus dieser Einsicht eine literarische Konsequenz gezogen: Das Schreiben über den Tod bedarf nicht vieler Worte, sondern vielmehr der Geduld. Weder bagatellisiert Brezniks Chronik den Tod, wie Jankélévitch warnte, noch konzeptualisiert sie die Tragödie des Verlustes durch falsche Sinn­gebung. Sie begnügt sich damit, diese Tragödie genau zu protokollieren.

Der Tod der grossen Liebe – Tom Kummer

Eine andere Strategie, den Tod in das Leben der Trauernden zu integrieren, verfolgt Tom Kummer. Wie schon in seinem Debüt «Nina & Tom» (2017) verarbeitet er auch in seinem neuen Roman, «Von schlechten Eltern», den Tod seiner Frau. (Die Republik hat bereits einmal über den Roman geschrieben – in diesem Essay über Dialoge.)

«Nina & Tom» war fokussiert auf eine realitäts­nahe Darstellung des Sterbe­prozesses und der symbiotischen Liebes­beziehung des Paars. «Von schlechten Eltern» beleuchtet die innere Realität von Tom, dem trauernden Erzähler. Und der Roman ästhetisiert die gemeinsame Zeit als Paar: Kummer zitiert Bücher und Filme und bettet dadurch die biografischen Elemente seines Textes in den Kontext der Kunst ein.

«Von schlechten Eltern» beginnt nicht exakt an der Stelle, an der «Nina & Tom» endete. Über den Tod hinaus hält die Erinnerung an die Tote das Denken und Fühlen des Erzählers besetzt. Tagsüber schreibt er, er schläft und kümmert sich um seinen jüngeren Sohn Vince. Nachts chauffiert er für ein zwielichtiges Kurier­unternehmen Passagiere durch die Schweiz – unter Tabletten­einwirkung, oft wie in Trance. In diesen Tag­träumen bei Nacht erscheint ihm die tote Nina als zärtlich-abgründiges Wesen, das ihn aus dem Leben locken möchte.

Nur der Wahnsinn könne mir Erleuchtung bringen. Du wirst vor Trauer sterben, hat mir Nina angedroht.

Tom Kummer: «Von schlechten Eltern».

Der Tod wirkt in diesem Text zunächst wie eine Verheissung. Angesichts der Leere und der ohnmachts­artigen Trauer in Tom wird dieser selbst immer wieder von Todes­sehnsucht übermannt. Gleichzeitig dominiert die Erinnerung: Exakt kann er die Zahl der Tage nennen, die er mit Nina verbracht hat, bis zum Tag ihres Todes.

Toms nächtliche Fahrten werden zu apokalyptischen Psycho­trips, in denen sich Lebens- und Lektüre­eindrücke überlagern. Erinnerungen an den Tod des Vaters schieben sich dazwischen und werden mit einer literarischen Anspielung zugleich fantastisch verbrämt:

Das Lauterbrunnental. Gegenüber von Mürren liegt der Schwarze Mönch, Tolkiens Lieblings­berg. Mein Vater erzählte mir schlimme Geschichten über diesen Schwarzen Mönch, eine Wand, durch die er noch kurz vor seinem Tod geklettert ist und an der wir im April 1973 seine Asche verstreuten.

Tom Kummer: «Von schlechten Eltern».

Toms Leben wird zu einem ewigen Kreis­lauf aus «erlköniglichen» Nacht­fahrten. Zugleich ist da eine Gegen­bewegung: Durch Arbeit, Schreiben und die Hinwendung zu den beiden Söhnen stemmt sich Tom gegen die Todes­sehnsucht und die imaginierten Lockrufe der Verstorbenen. Und auch in diesem Roman ist der Spiegel ein Schlüssel­motiv – nicht nur bei den Autofahrten.

In «Nina & Tom» war es der beidseitige Narzissmus, der die Liebenden umso stärker aneinander­band. Sich im anderen spiegeln: Das war der Treibstoff dieser ekstatischen Beziehung, ihres gemeinsamen Lebens in Kalifornien, fernab von Berlin, fernab von der Schweiz, dem Geburts­land der beiden, wohin Tom nun zurück­gekehrt ist. Mit Ninas Tod «zerbricht» der Spiegel für Tom. Zurück bleibt eine unerträgliche Leere.

Um diese Leere herum ist der neue Roman geschrieben. Und es sind die Figuren selbst, die Tom Narzissmus attestieren: ein Jugendamts­mitarbeiter, aber auch Doktor Azikiwe, ein nigerianischer Arzt. Verschärft dieser Narzissmus Toms Trauer, wie der Doktor meint? Und ist der Narzissmus der Grund, dass Tom nicht länger zwischen Realität und Projektion zu unterscheiden weiss? Das bleibt offen. Der Erzähler wird aber selbst sein Heilmittel benennen:

Monsieur, ich lebe nicht in einer Nine-to-five-Realität wie alle anderen. Ich arbeite nachts. Im Übrigen werde ich von meinen Söhnen bei der Trauer­arbeit unterstützt.

Tom Kummer: «Von schlechten Eltern».

Tom wendet sich gegen ein Leben, das bürgerlichen Routinen folgt; auch ohne Nina verweigert er ein Leben in und mit der Konvention. Man kann darin aber auch einen grund­sätzlichen Einspruch gegen eine ebene Realität sehen – und eine Erlösungs­sehnsucht, die sich der Fiktion und der Fantasie zuwendet. Am Ende des Romans scheint so eine doppelte Bewältigungs­strategie auf: Nicht nur Toms Pakt mit seinen Kindern wird neu bekräftigt. Sondern auch ein Pakt mit dem Schreiben, mit einer entschiedenen Fiktionalisierung und Ästhetisierung der «Nine-to-five-Realität».

Auch die Schluss­szene beginnt mit einer Auto­fahrt, doch dieses Mal hat Tom seine Söhne an Bord. Es ist eine Fahrt zum Totensee. In einer Dose führen die drei Ninas Asche mit sich. Als die drei ankommen, herrscht buchstäblich das Undurchdringliche – und lichtet sich: «Nebel, durchsetzt mit Scheren­schnitten, durchsetzt, vor einem strahlend blauen Himmel.» Kommt nun also Klarheit in den Zustand diffuser Leere? Siegt das Leben über die Todessehnsucht?

Der Roman ist damit nicht zu Ende: Frank, der ältere Sohn, springt mitsamt der Dose mit der Asche ins eisige Wasser des Totensees. Was folgt, bleibt offen. Doch hat der Sprung den «Spiegel» der Wasser­oberfläche durch­brochen. Im Mythos ist Narziss noch im Fluss ertrunken, weil er sich zu lange bewundernd im Wasser gespiegelt hat. Bei Tom Kummer aber springt Frank bewusst ins Wasser. Wieder­auftauchen ist möglich. Nur Ninas Asche hat im See ihre Ruhe­stätte gefunden. Und mit ihr vielleicht auch die Selbst­bespiegelung, in der Toms Trauer ziellos kreist? Füllt sich am Ende die Leer­stelle? Womöglich ist auch das nur eine Projektion.

Der Tod der Freundin – Anna Stern

Die Asche einer Toten spielt auch im neuen Roman von Anna Stern eine Rolle, der dieser Tage erscheint. Es ist bereits der vierte Roman der 1990 in Rorschach geborenen Autorin. «das alles hier, jetzt» erzählt vom Tod einer jungen Frau namens Ananke. Sein erster Satz steht ganz allein auf einer leeren Seite:

ananke stirbt an einem montag im winter, nachmittags zwischen sechzehn und siebzehn uhr.

Anna Stern: «das alles hier, jetzt».

Unerbittlich nüchtern setzt die Erzählung ein. Nur die durchgängige Klein­schreibung deutet auf eine Poetisierung hin. Dass der Roman im Ganzen eine unkonventionelle Form erhält, lässt sich zu diesem Zeit­punkt allenfalls vage erahnen. Nur die Figuren, das fällt gleich ins Auge, tragen mythologische Namen:

wir schenken uns nichts. das einzige, was wir uns geben, sind unsere namen: ananke gibt mir den namen ichor.

Anna Stern: «das alles hier, jetzt».

Ananke ist in der griechischen Mythologie die Personifizierung des unpersönlichen Schicksals. Sie ist in den Tragödien­dichtungen die oberste Macht, der selbst die Götter gehorchen. Ichor, der Name der Erzählerin, bedeutet «das goldene Blut der Götter». Sterns Text stattet durch die Namen alle Figuren mit einer speziellen Rolle aus: als handelten sie stellvertretend im Dienst einer höheren Idee.

Eine der Anfangs­passagen klingt zunächst beschreibend. Aber sie bereitet weiter vor, was diesen Roman ausmacht: die Intensität und die Genauigkeit seiner Beschreibung, die durch die Mythologisierung der Handlung mit überhöht wird. So lassen sich die Landschafts­beschreibungen als Stimmungs­bilder der Erzählerin lesen.

der monat zeigt sich landes­weit ausgesprochen trüb. in berg­lagen gehört er zu den kältesten februar­monaten der letzten dreissig jahre. nur selten fällt wenig schnee bis ins flach­land. auf das monats­ende hin bringt kontinentale kaltluft aus nordosten eine kurze kältewelle.

Anna Stern: «das alles hier, jetzt».

Kältewellen überfluten auch die Freunde der Verstorbenen. Ichor denkt zurück an die Freundin, mit der sie seit Kinder­tagen vertraut, ja fast symbiotisch verbunden ist; eine Verbindung, die durch gemeinsame Erlebnisse immer wieder bewusst bejaht wird. Ichor hat zwar einen leiblichen Zwilling, aber Ananke ist ihr Seelen­zwilling. Den Verwandtschafts­banden stellt die Autorin Wahl­verwandtschaften gegenüber. Ihr Requiem auf die Verstorbene ist zugleich ein Fest der Freundschaft, eine Feier der frei gewählten zwischen­menschlichen Beziehungen.

Auch bei Anna Stern zählt die Haupt­figur die Tage. Der Versuch, das Chaos dieses Todes in ein Ordnungs­system zu fassen, soll eine verlorene Sicherheit zurück­bringen. Anders als bei Kummer aber gilt die Zählung nicht den gemeinsamen Tagen mit der Verstorbenen. Vielmehr beginnt für sie eine neue Zeit­rechnung nach dem Tod.

zweiundneunzig tage, seit die alte zeit aufgehört hat zu sein.

Anna Stern: «das alles hier, jetzt».

Durch Routinen versucht sich Ichor aus der Verzweiflung zu befreien. Trotzdem bleibt da der Schmerz, der einmal so unerträglich wird, dass sie sich selbst verletzt. Und trotzdem drohen ihr jederzeit Panik und Selbst­verlust, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Erzählerin sich selbst anspricht, als spräche sie zu einer Fremden:

die angst krallt sich in deine lungen, für immer, bist du überzeugt. du liegst und kannst dich nicht bewegen. kannst nicht atmen. nicht weglaufen auch. nur denken. im kreis, in schleifen, in einem sich immer schneller drehenden hamsterrad.

Anna Stern: «das alles hier, jetzt».

Die Verlust­erfahrung kreist. Ichor widerfährt, was auch Brezniks und Kummers Erzähler erleben: Die Wahrnehmung der Zeit verändert sich so, dass Gegenwart und Vergangenheit zusammenschiessen.

Was hilft gegen den Schmerz und den Orientierungsverlust?

Es ist das Schreiben, es sind Buchstaben, an denen sie sich «festhalten» kann.

fast ein jahr, nachdem du den schrift­zug auf einem spaziergang mit ananke entdeckt hast, auf einer sicht­schutz­wand, hinter einer park­bank, steht er immer noch da, schwarz auf weiss: found you / lost myself.

Anna Stern: «das alles hier, jetzt».

«found you / lost myself»: In Anna Sterns voran­gegangenem Roman war das noch ein Leit­motiv. Hier klingt es wie eine Formel für das Risiko, das jede starke Bindung an einen anderen Menschen bedeutet: Man kann sich im anderen verlieren. Der Schrift­zug aber «steht immer noch da». Und im Herauf­beschwören der einstigen Verschworenheit liegt womöglich ein Trost – wenn er den Verlust nicht leugnet:

ihr segelt nach westen dem sich rot färbenden himmel entgegen, und du merkst, dass du müde bist, müde und schwer mit einem eigenartigen glück, mit dem gefühl, gleichzeitig in deinem körper zu sein und ausserhalb, eins zu sein, ganz nah bei dir zu sein: traumgleich.

Anna Stern: «das alles hier, jetzt».

Mal schwelgt Sterns Erzählerin in der Sprache. Dann wieder verwendet sie kurze Sätze, die teilweise unvermittelt abreissen, als wollten sie Anankes frühem Tod entsprechen.

asche mischt sich mit der asche der vorangegangenen, mit den partikeln, die noch in den ritzen des ofens hängen. dann: erdloch. oder: urnenregal­fach. oder: kommode im wohn­zimmer derer, die dich einst.

Anna Stern: «das alles hier, jetzt».

Oft scheint es, als würde die Erzählerin sich in den eigenen Träumen verirren. Die Sprache verdeutlicht auch hier sehr genau, wie Ichor sich fühlt: verloren, unkonzentriert, bedroht, entmutigt. Und doch: Alles das auszusprechen, die Erinnerungen hervor­zuholen, verspricht der Erzählerin ein wenig Halt:

der drang, alles niederzuschreiben, festzuhalten, wahr zu machen: die bienen in den brombeer­blüten, der unter deinen schritten federnde wald­boden, der wind, der den hitze­dunst über dem mist­stock ostwärts treibt, die lücke, die nach ananke bleibt.

Anna Stern: «das alles hier, jetzt».

Also legt sie Listen an. Das Aufzählen erschafft eine Wirklichkeit, die sich der Lücke entgegen­setzen lässt, selbst dann, wenn es um mögliche Todes­arten geht:

du warst stets überzeugt, du würdest früh sterben. zuerst. vor allen anderen. es gibt schliesslich so viele möglichkeiten. es gibt unfälle, mit autos, mit rädern, mit fuss­gängern; zu wasser, an land, in der luft. es gibt krankheiten. (…)

es gibt tabletten, es gibt alkohol, es gibt heroin. und es gibt zufall und schicksal, und du warst stets überzeugt, das eine oder andere treffe dich früh: zuerst. vor allen anderen.

Anna Stern: «das alles hier, jetzt».

Was Anna Sterns Roman aber ganz und gar ungewöhnlich macht, ist seine Form: Man merkt nicht sofort, dass der Text sich aufspaltet in zwei Stränge. Wie Ananke und Ichor in ihrer Freundschaft eins waren, gehören die beiden Stränge zwar zusammen, aber sie können auch unabhängig voneinander existieren. Die Frage bleibt allerdings, wie gut.

Völlig unerwartet endet «das alles hier, jetzt» geradezu roadmovie­artig. Ein Ritus wird vollzogen und ermöglicht so etwas wie Trost durch einen kollektiven Tabu­bruch. Und doch stehen auch am Ende Wut und Empörung, Ichor ist im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen zumute.

So kann die Erzählerin zugleich wütend und friedlich auf den Tod blicken, ihn akzeptieren und doch gegen ihn rebellieren.

Alle drei Bücher, so unterschiedlich sie sind, fassen dieselbe Erfahrung in Worte: Der Tod verwirrt, der Tod stört, er macht Angst. Und er verändert die Wahrnehmung der Zeit. Sie scheint sich zu verlangsamen, zu kreisen oder eben ganz stillzustehen. Zuletzt besteht vielleicht darin der Trost der Literatur: vielstimmig daran zu erinnern, dass etwas Verbindendes bleibt.

Zur Autorin

Beate Tröger ist freie Literatur­kritikerin für Print und Radio, Moderatorin und Jurorin. Sie rezensiert und schreibt für den Deutschland­funk, SWR, WDR, die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», «Freitag», «mare» sowie für die «Frankfurter Hefte», deren Kultur­teil sie redaktionell mitbetreut.

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