Wenn Daten den Blick aufs Wesentliche verstellen
Statistiken können helfen, falsche Behauptungen zur SVP-Begrenzungsinitiative zu widerlegen. Aber nicht viel mehr.
Von Simon Schmid, 31.08.2020
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Wenn Sie am Montag die «lange Sicht» öffnen, finden Sie hier jeweils eine Reihe von Grafiken. Dieses Mal nicht. Im heutigen Datenbriefing zur Begrenzungsinitiative verzichten wir bewusst darauf, Statistiken abzubilden.
Denn bei dieser Volksinitiative geht es nur sehr indirekt um Dinge wie die Migration, um die Volkswirtschaft oder um den Arbeitsmarkt – um Themen, die man anhand von grafisch aufbereiteten Daten diskutieren könnte.
Nein: Die Begrenzungsinitiative verlangt einen aussenpolitischen Bruch.
Und das stellt nicht nur Wissenschaftlerinnen vor Schwierigkeiten, wenn sie etwa versuchen, die Auswirkungen der Initiative quantitativ abzuschätzen.
Sondern es bringt auch uns Datenjournalisten in die Bredouille. Es verleitet uns dazu, anhand von Statistiken eine Diskussion zu führen, die vielleicht im Grundsatz interessant ist – aber trotzdem auf die falsche Fährte führt.
Die Begrenzungsinitiative – in Kürze
Zunächst zur Vorlage selbst: Die eidgenössische Volksinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung» fordert, dass die Schweiz die Zuwanderung von Ausländerinnen «eigenständig» regelt. Innerhalb von 12 Monaten muss der Bundesrat die Personenfreizügigkeit mit der EU ausser Kraft setzen.
Als Erstes würden dazu Verhandlungen aufgenommen. Scheitern sie, kündigt die Schweiz die Personenfreizügigkeit unilateral. Damit würden automatisch auch die bilateralen Verträge mit der EU gekündigt, die seit 2002 gelten. Zusammen mit dem Freihandelsabkommen von 1972 und einigen weiteren Verträgen bilden diese Verträge die Basis der Beziehungen zur EU.
Mit der Begrenzungsinitiative will die SVP eine Diskussion weiterführen, die sie mit der Masseneinwanderungsinitiative angestossen hat. Diese wurde 2014 angenommen und verlangte, dass die Schweiz die Zuwanderung mittels jährlicher Höchstzahlen und Kontingenten steuert, was mit der Personenfreizügigkeit ebenfalls nicht vereinbar gewesen wäre.
Nachdem die Schweiz damals erfolglos versucht hatte, die Personenfreizügigkeit mit der EU neu zu verhandeln, beschloss das Parlament Ende 2016, den sogenannten Inländervorrang einzuführen. Arbeitgeber in gewissen Branchen müssen seither zuerst im Inland nach Stellenbewerberinnen suchen.
Zahlen mit beschränkter Aussagekraft
Die Debatte zur Begrenzungsinitiative wird auf vielen Ebenen geführt – wer einen Eindruck davon erhalten will, braucht sich nur die «Arena» im Schweizer Fernsehen anzuschauen. Gestritten wird da um Löhne, Sozialwerke, Staus auf der Autobahn, fremdsprachige Schulkinder – alles, was irgendwie im Zusammenhang mit der Zuwanderung stehen könnte.
Wo beginnen?
Ein übliches Vorgehen in der Wissenschaft ist, zunächst eine Sammlung von «stilisierten Fakten» zusammenzustellen – also eine Übersicht über Themen, die direkt oder indirekt mit der Debatte zu tun haben. Eine Antwort auf die eigentliche Frage (Ja oder Nein stimmen?) geben solche Fakten nicht. Aber immerhin ebnen sie das Terrain, um konstruktiv zu diskutieren.
Rund um die Begrenzungsinitiative könnte man etwa Folgendes anführen:
Zuwanderung: Nachdem die Schweiz in der Krise der 1990er-Jahre eine Abwanderung erfuhr, kehrte sich ab 1999 das Vorzeichen der Migration um. Seither ist die Zuwanderung per Saldo positiv. Zu Spitzenzeiten während der Eurokrise wanderten netto etwa 60’000 Menschen aus den EU- und Efta-Ländern in die Schweiz ein. Inzwischen beträgt die Zuwanderung aus diesen Staaten unter dem Strich gut 30’000 Personen.
Wirtschaft: Das Schweizer BIP ist heute pro Kopf ungefähr ein Viertel höher als vor 30 Jahren. Bereinigt um die Kaufkraft wuchs es zwischen 1990 und 2019 um rund 0,8 Prozent pro Jahr. In der EU wuchs das BIP pro Kopf in dieser Zeit schneller: um rund 1,4 Prozent pro Jahr. Die einzige Phase, in der das Schweizer Wachstum mehrere Jahre lang über jenem in der EU lag, war zwischen 2004 und 2014. In diese Zeit fielen die Ausweitung der Personenfreizügigkeit, die Finanz- und die Eurokrise.
Löhne: Die Reallöhne sind seit 1990 um 0,5 Prozent pro Jahr gewachsen. Ab den Nullerjahren lag das Reallohnwachstum bei etwa 0,8 Prozent. Tieflöhner und Hochlöhner schnitten über die vergangenen 10 Jahre hinweg ähnlich ab; Personen mit obligatorischer Schulausbildung verzeichneten ein höheres Lohnwachstum als Universitätsabgänger.
Arbeitslosigkeit: Zwischen 1990 und 2019 waren im Schnitt 3,1 Prozent der hiesigen Erwerbstätigen auf Jobsuche. Überdurchschnittlich hoch war die Arbeitslosenquote während der 1990er-Jahre. Um die Jahrtausendwende fiel die Quote kurzzeitig unter 2 Prozent. Seither pendelt sie um den Schnitt, zuletzt (bis zur Coronakrise) mit fallender Tendenz. EU-Ausländerinnen sind etwas häufiger arbeitslos als Schweizer.
Infrastruktur: Von 2000 bis 2018 haben sich die Staustunden auf Schweizer Strassen ungefähr verdreifacht. Die Bevölkerung nahm in dieser Zeit um etwa ein Viertel zu. Der Fahrzeugbestand wuchs um 60 Prozent, die auf Schweizer Strassen gefahrenen Kilometer um gut 120 Prozent.
Und so weiter.
Wie bereits angetönt: Diese stilisierten Fakten sind nicht dazu da, um im Zusammenhang mit Personenfreizügigkeit oder bilateralen Verträgen irgendwelche Kausalzusammenhänge aufzustellen (daher haben wir auch darauf verzichtet, sie mit Wörtern wie «wegen», «deshalb», «nur», «demgegenüber», «trotzdem» oder ähnlichen wertenden Konjunktionen zu beschreiben).
Die stilisierten Fakten helfen aber, die Prämissen zu schärfen, unter denen die Debatte geführt wird. Das verdeutlicht etwa die folgende Aussage:
Die Löhne geraten durch die masslose Zuwanderung billiger EU-Arbeitskräfte unter Druck.
Diese Aussage ist irreführend. Denn die Statistik zeigt: Die Löhne sind in der Schweiz nicht gesunken, weder im niedrigen noch im hohen Lohnsegment. Das wissen wir dank der Zahlen, die das Bundesamt für Statistik, das Staatssekretariat für Wirtschaft und andere Stellen aufbereitet haben.
Trotzdem können wir die Aussage anhand unserer stilisierten Fakten nicht widerlegen. Denn zumindest theoretisch wäre denkbar, dass sich die Löhne in der Schweiz ohne Personenfreizügigkeit noch besser entwickelt hätten.
Unsere Schwierigkeit ist: Wir kennen das kontrafaktische Szenario nicht. Wir wissen nicht, wie sich die Wirtschaft ohne bilaterale Verträge entwickelt hätte – und wie der Arbeitsmarkt, wäre die Schweiz beim alten System mit den Kontingenten geblieben. Wir wissen nicht einmal, ob die Schweiz in einer hypothetischen Parallelwelt ohne bilaterale Verträge überhaupt bei diesem System geblieben wäre – oder ob sie die Zuwanderung womöglich auf ganz andere Weise geregelt hätte (etwa mit einem Punktesystem).
Wollen wir Stellung zu dieser Aussage beziehen, müssen wir also Annahmen treffen, Vergleiche anstellen, plausible Alternativszenarien entwerfen. Dafür genügen simple Grafiken nicht – es braucht wissenschaftliche Methoden.
Noch mehr Zahlen … und Schlussfolgerungen
Diese Methoden im Detail zu beschreiben, würde hier eindeutig zu weit gehen. Wir begnügen uns daher mit einem Überblick:
Diverse Forscher haben den Einfluss der Personenfreizügigkeit auf den Arbeitsmarkt untersucht. Sie fanden (zum Beispiel anhand von Vergleichsrechnungen zwischen verschiedenen Personengruppen und Regionen) heraus, dass die Ungleichheit der Löhne durch die Personenfreizügigkeit tendenziell verringert wurde, dass einheimische Arbeitskräfte nicht aus ihren Jobs gedrängt wurden und dass Arbeitskräfte in Grenzregionen keine besonderen Einbussen erlitten haben.
Der Wirtschaftsverband Economiesuisse kam in einer Studie von 2016 zum Schluss, dass das BIP pro Kopf ohne bilaterale Verträge und Personenfreizügigkeit um 5,7 Prozent tiefer ausgefallen wäre. Basis dafür war eine Zeitreihen-Analyse, bei der versucht wurde, den Einfluss verschiedener Faktoren mathematisch auseinanderzudividieren.
Das britische Büro Europe Economics kam in einer von einer SVP-nahen Stiftung finanzierten Studie vor wenigen Wochen zum Schluss, dass das BIP pro Kopf wegen der bilateralen Verträge um 4,4 Prozent tiefer ausfiel. Dies, weil Ausländer weniger Kapital in die Schweiz bringen würden als Inländer (was gemäss anderen Ökonomen aber nicht stimmt).
In einer vom Bund in Auftrag gegebenen Studie kam das Büro Ecoplan 2015 zum Schluss, dass das BIP pro Kopf bei einem Wegfall der bilateralen Verträge im Jahr 2035 um 1,5 Prozent tiefer liegen würde als bei einem Beibehalt (die Annahme dabei ist, dass die Zuwanderung um 25 Prozent reduziert würde). Ursache für den wirtschaftlichen Schaden wären eine Schwächung von Wirtschaftsstruktur, Handel und Wettbewerb.
Das Büro BAK Basel kam 2015 in einer ebenfalls vom Bund finanzierten Studie zum Schluss, dass das BIP pro Kopf in einem ähnlichen Szenario im Jahr 2035 um 3,9 Prozent tiefer liegen würde. Dies wegen höherer Regulierungskosten bei der Rekrutierung von Arbeitskräften und im Handel, wegen Beeinträchtigungen bei der Forschung und Entwicklung und wegen geringerer Unternehmensinvestitionen. In der kürzlichen Aufdatierung wird der Verlust bis 2040 auf 4,4 Prozent geschätzt.
Die Studien bestätigen also den Eindruck, den wir von den stilisierten Fakten erhalten haben. Und wir können nun etwas zuversichtlicher sagen:
Es stimmt höchstwahrscheinlich nicht, dass die hiesigen Löhne durch die Zuwanderung von Arbeitskräften unter Druck geraten sind.
Die meisten Folgen der Personenfreizügigkeit sind positiv; negative Folgen sind nur schwer nachweisbar.
Die Debatte rund um die Zuwanderung ist zumindest aus ökonomischer Sicht weitgehend eine Scheindiskussion.
Allerdings: Ein Beweis dafür, dass dies so ist, geschweige denn eine sichere Prognose, was bei einer Annahme der Initiative über die nächsten 20 Jahre passieren würde, sind auch diese wissenschaftlichen Arbeiten nicht.
Deshalb verzichten wir auch darauf, die Ergebnisse zu visualisieren.
Grafiken sind zwar grundsätzlich sehr nützlich, um Themen zu untersuchen, Trends nachzuzeichnen, Muster sichtbar zu machen – sie erlauben es, Daten visuell schnell zu erfassen und Zusammenhänge effektiv zu kommunizieren.
Genau deshalb sind Grafiken aber auch gefährlich. Denn sie ziehen uns in ihren Bann. Sie suggerieren eine Präzision, die es in diesem Fall nicht gibt. Und – in diesem Fall zentral: Sie versachlichen die Diskussion um eine Initiative, die eigentlich gar nicht sachbezogen ist. Sondern zutiefst politisch.
Doch bevor Sie nun endgültig einschlafen:
Worum es bei der Initiative eigentlich geht
Nein: Es geht den Initiantinnen der Begrenzungsinitiative nicht darum, etwas an der Zuwanderung zu schrauben oder etwas Gutes für Lohnempfängerinnen zu tun. Es geht auch nicht um Jobs für Ü-50-Arbeitskräfte oder um die Infrastruktur.
Es geht darum, das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union maximal zu zerrütten. Es geht darum, wie Auns-Präsident und SVP-Nationalrat Lukas Reimann sagt, dass die Schweiz nicht «nach der Pfeife der EU tanzen soll» (was auch immer das genau heissen mag). Es geht um Stimmungsmache, um die Schürung von Ressentiments gegen Europa. Und nicht zuletzt: um einen Versuch, aussenpolitisches Chaos zu stiften und daraus Kapital zu schlagen.
Ein Ja zur Begrenzungsinitiative wäre das sichere Ende des bilateralen Weges, den die Schweiz über die vergangenen 20 Jahre verfolgt hat.
Es würde die Schweiz in den Brexit-Modus katapultieren: Statt über die Altersvorsorge oder über Klimaschutz würde die Politik auf absehbare Zeit über nichts anderes mehr als Europa diskutieren. Unterhändler würden mit aussichtslosen Missionen nach Brüssel geschickt, nur um festzustellen, dass die Europäerinnen gerade sehr viel anderes zu tun haben – und überhaupt keine Lust, mit der Schweiz in Zeiten von Corona über Extrawürste zu reden.
(Dass man der EU nur hart genug drohen muss, etwa mit der Sperrung des Gotthards, ist ein schlechter Witz: Die europäischen Regierungschefs haben sich noch nie davon beeindrucken lassen, wenn ein Land mit einer Pistole an der eigenen Schläfe am Verhandlungstisch erschienen ist. Fragen Sie die Briten oder die Griechen, die haben das in der Eurokrise bereits probiert.)
Ein Ja zur Begrenzungsinitiative würde wirtschaftliche Unsicherheit bringen. Und – nach mühseligen Verhandlungen – die Einsicht, dass die EU-Länder auch in Zukunft dieselbe Bedingung verlangen werden, damit ein Land wie die Schweiz teilweisen Zugang zu ihrem Binnenmarkt erhält: den freien Personenverkehr. Zusätzliche Marktzugangsabkommen, etwa für die Banken oder die Strombranche, wären mit einem Ja ebenfalls vom Tisch.
Und nicht zuletzt würden auch Schweizerinnen ohne Personenfreizügigkeit und bilaterale Verträge das Recht verlieren, in EU-Länder auszuwandern.
Kurz: Die Begrenzungsinitiative ist all pain – no gain.
Um das einzusehen, sind Grafiken nicht zwingend nötig – sie lenken im Zweifelsfall nur vom Wesentlichen ab. Ein minimales Mass an politischer Intuition, ein Quäntchen wirtschaftlicher Realitätssinn genügt vollauf.