Serie «Grenzerfahrungen» – Folge 2

Dürfen wir bleiben? Szene aus dem Film «Siamo italiani» von 1964. Alexander J. Seiler, Rob Gnant, June Kovach

«Auch das Paradies kommt an Grenzen»

Sag, wie hast du’s mit der Einwanderung? Die SVP stellt mal wieder die Gretchenfrage der Schweizer Politik. Und das im Jahr der geschlossenen Grenzen. Gespräch mit der Migrations­forscherin Francesca Falk. Serie «Grenz­erfahrungen», Folge 2.

Von Cinzia Venafro, 31.08.2020

Sie hätte diesen Herbst das vorherrschende politische Thema werden sollen: die Begrenzungs­initiative, über die am 27. September abgestimmt wird. So sah die SVP dies zumindest vor. Doch es ist anders gekommen. Das Thema Migration zündet nicht, die Pandemie überdeckte alle anderen Themen.

Francesca Falk, Dozentin für Migrations­geschichte an der Universität Bern, bezweifelt, dass sich dies vor der Abstimmung noch stark verändern wird. In ihrem Buch «Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt» schreibt sie Landes­grenzen eine Aura zu. Diese Aura hat ihren Grund in der Geschichte der Grenzen – einer Geschichte, die immer auch mit Pandemien zu tun hatte.

Frau Falk, was würden Sie der SVP raten? Wie kann sie die Seuche im Abstimmungs­kampf nutzen?
Dafür gebe ich keine Tipps. Die jüdische Bevölkerung in Europa oder die chinesische in den USA litten während verschiedener Pest­ausbrüche unter einer Sündenbock-Politik. In Italien hat in der aktuellen Pandemie allerdings kaum jemand mehr auf die Populisten gehört, als nicht nur die nonni zu Tausenden mit Corona wegstarben. Die Menschen wollten eine Regierung, die wirksame Massnahmen erlässt, und keine Sprüche­klopfer. Das kann sich aber schnell wieder ändern.

Die SVP versucht es mit dem Argument, in der Krise sollen Ausländer den Schweizern keine Jobs wegnehmen.
Das ist ein altes Argument. Die erste Schwarzenbach-Initiative ist nun genau 50 Jahre her. Allerdings ging es damals nicht nur um eine Begrenzung der Migration, sondern auch um eine Entrechtlichung der Arbeitskräfte.

Inwiefern?
Saisonniers waren laut Initiative von den Kontingentierungs­massnahmen ausgenommen. Die Annahme der Initiative hätte die Arbeits­bedingungen verschlechtert. Hier zeigt sich eine Parallele zur Gegenwart: Gewerkschaften warnen davor, dass bei einer Annahme der SVP-Initiative wichtige Schutz­massnahmen für Arbeit­nehmende ausser Kraft gesetzt würden.

Nachwirkung der fremdenfeindlichen Schwarzenbach-Initiative von 1970: Vor einem Stimmlokal in Frauenfeld im März 1972. Keystone
Warten auf die Röntgenstrahlung: Aus dem Film «Siamo italiani». Alexander J. Seiler, Rob Gnant, June Kovach

Sie erforschen die Migration und sagen, man dürfe diese «nicht glorifizieren». Wie meinen Sie das?
(Überlegt lange) Migration war in der Schweiz sicher nicht für alle eine Win-win-Situation: Man bedenke nur schon die teilweise sehr schlimmen Arbeits­bedingungen der sogenannten Gast­arbeiter in den Sechziger- und Siebziger­jahren. Oder wenn wir über medizinische Massnahmen sprechen: Die Kontrollen der sogenannten Gast­arbeiter am Grenzübergang Chiasso sind keine schöne Erinnerung.

Die Fotografien, wie Italiener mit nacktem Oberkörper zum Röntgen anstehen, sind fast schon Ikonen.
Damals verband man die Einwanderung von Italienern auch mit der Gefahr einer Tuberkulose-Einschleppung. Genau diese Bilder sind in der jüngeren Migrations­geschichte sehr symbolisch. Diese Menschen wurden erniedrigt durch diesen Akt, der weit mehr als eine medizinische Massnahme war. Es ging auch um Disziplinierung, der Schweizer Staat zeigte an seiner Aussen­grenze die Macht­verhältnisse an.

Und bis vor wenigen Wochen waren diese Grenzen gesperrt.
Den wenigsten ist bewusst, dass historisch gesehen Seuchen prägend für das Einführen von Grenz­kontrollen waren. Der Reise­pass als Dokument, sich auszuweisen, hat zwar viele Mütter. Ein Strang führt uns ab dem 15. Jahr­hundert zu den bollettini di sanità. Diese Pest­briefe waren Grundlage für die Entscheidung, ob ein Reisender in die Stadt hinein­gelassen wurde.

Ein «Pestbrief» der Stadt Triest vom 13. August 1855.

Reise­beschränkungen bei Seuchen sind also ganz normal.
Grenzziehungen und damit einhergehende Exklusion und Diskriminierung von migrantischen Bevölkerungs­gruppen wurden historisch immer wieder mit gesundheits­politischen Argumenten legitimiert: Im Venedig des 15. Jahr­hunderts wurde Migration aus dem Balkan mit der Begründung der Pest­prävention verboten. Oder als in San Francisco um 1900 die Pest ausbrach, wurde Chinatown in Quarantäne gesetzt. Ausser jene Häuser, die von Weissen bewohnt wurden. Eine Zeitung verlangte damals sogar, Chinatown auszubrennen. Das ist interessant zu wissen, wenn wir bedenken, dass US-Präsident Trump Corona gerne als «Chinese virus» bezeichnete. Da sehen wir den Versuch, mit Sündenbock-Politik Stimmung zu machen. Für solche Reise­sperren brauchen wir aber nicht mal die Pest oder Covid-19: Bis 2010 war die Einreise in die USA für HIV-Positive nur zu besonderen Zwecken und mit einem speziellen Vermerk möglich.

«Den wenigsten ist bewusst, dass historisch gesehen Seuchen prägend für das Einführen von Grenz­kontrollen waren.»
Francesca Falk, Migrationsforscherin

Wie nahmen Sie die Grenz­schliessung in der Corona-Pandemie wahr?
Der Staat demonstrierte: Ich mache etwas! Er markierte mit den Absperrungen seine Souveränität. Für einige war das sehr einschneidend. Allerdings waren die Bewegungs­einschränkungen noch viel kleinräumiger, die meisten bewegten sich ja nur noch sehr lokal. Das war für viele bedeutender als die nationale Grenzschliessung.

Grenzen sind ja keine Erfindung des Staates. Es gibt sie schon in der Bibel.
Die Bibel ist auch eine Grenz­geschichte. Dort werden ständig Grenzen verletzt und Grenzen gesetzt. Auch das Paradies kommt an Grenzen: Es ist im Innern ungeteilt. Nach aussen aber begrenzt.

Warum ist es eigentlich meist verboten, Grenz­übergänge zu fotografieren?
Aus militärischen Gründen: damit man keinen Weg findet, diese Grenze irgendwie zu umgehen. Schon Goethe berichtet in seiner «Italienischen Reise», dass er 1786 beim Zeichnen eines Turms vor Venedig fast verhaftet wurde. Man hielt ihn für einen österreichischen Spion.

Sie nennen es in Ihrem Buch eine «Auratisierung der Grenze»: Die Grenze wird mit einer Aura versehen.
«Du sollst dir kein Bildnis machen», heisst es ja auch vom Göttlichen. Das schwingt beim Bild­verbot der Grenze irgendwie mit. Sich ein Bild zu machen, heisst, sich etwas verfügbar zu machen. Wenn man kein Bild machen darf, bekommt es eine gewisse Aura. Das Verbot gilt auch für andere Orte. Ich war einmal dabei, als in Basel ein Kollektiv ein Ausschaffungs­gefängnis aquarellierte. Das gab Ärger, weil man auch davon keine Bilder anfertigen darf. Es kam tatsächlich ein Wächter und kontrollierte unsere Zeichnungen.

Serie «Grenzerfahrungen»

Was bedeuten Grenzen für uns? Wie sind sie entstanden? Geben Grenzen Sicherheit oder engen sie ein? Wie beeinflussen sie unser Leben? Zur Übersicht.

Sie lesen: Folge 2

Die Geschichte der Grenzen

Folge 3

Die Tessiner Raststätte Coldrerio

Folge 4

Fleisch­li­che Versuchung

Folge 5

Die deutsche Exklave Büsingen

Folge 6

Streit am Bodensee

Folge 7

Gemeinde Balzers, Liech­ten­stein

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Apropos Bilder: Wie beeinflussen diese unsere Sicht? Bei geretteten Geflüchteten im Mittel­meer sei beispiels­weise die «Verbindung von Immigration und Infektion weit verbreitet», schreiben Sie.
Als ich meine Dissertation schrieb, waren Fotografien geretteter Geflüchteter aus dem Mittel­meer sehr präsent. Wenn Carabinieri oder die Frontex bei solchen Rettungen Atem­schutz­masken tragen, erzeugen Fotografien dieser Szenen Angst. Geflüchtete erscheinen so als Gefahr und Herd von Krankheiten. Die Mund­schutz­maske symbolisierte zumindest vor Corona, dass hier etwas kommt, was uns bedroht.

Heute tragen alle Schutzmasken – die weniger furcht­erregend sind als die Schnabel­masken zu Pest­zeiten. Sie haben sich eingehend mit den Pest­ärzten befasst. Wieso?
Ausschlaggebend dafür war Thomas Hobbes’ Buch «Leviathan», ein Standard­werk der Staats­theorie. Auf seinem Frontispiz von 1651 sind zwei Pest­ärzte mit Schnabel­masken zu erkennen. Sie verweisen auf den Zusammen­hang von Souveränität und Sanität; gerade der Ausnahme­zustand der Seuche ist gut geeignet, die Macht des Souveräns aufzuzeigen. In der Forschung wurden diese Pest­ärzte allerdings lange übersehen. Das hat mich erstaunt, denn das Bild ist welt­berühmt. Es wurde etwa als ein Symbol für vermeintlich unbegrenzte Staats­gewalt gedeutet.

Warum gerade Schnabelmasken?
Der spätere Leibarzt von Louis XIV soll um 1619 als einer der Ersten ein solches Pest­kostüm angefertigt haben. Der Anzug des Seuchen­arztes bestand oft aus einem mit Wachs überzogenen Mantel, Schutz­handschuhen, einer Kopf­bedeckung und einer Maske mit Augen­schutz und schnabel­artiger Nase. Diese enthielt manchmal auch Räucher­stoffe, die vor der Pest schützten. Sie konnten tatsächlich auch Flöhe fernhalten. Das Kostüm hatte allerdings eine weit breitere Bedeutung als medizinischer Schutz: Es machte die Funktion des Pest­doktors sichtbar – seine Person aber unkenntlich. Zudem sollte dieses Kostüm durch sein Furcht einflössendes Aussehen die Pest vertreiben.

Frontispiz von Thomas Hobbes’ «Leviathan» von 1651. Wikimedia commons
Der mittelalterliche Pestarzt mit Schutzmaske – die auch die Pest selbst verjagen sollte. Keystone

Was bedeutet es, wenn der Staat nicht vor einer Pandemie schützen kann?
Der sogenannte Gesellschafts­vertrag kommt ins Wanken: Denn laut Thomas Hobbes ist die Idee, dass der Souverän die Leben der Menschen schützt und die Menschen im Gegenzug den Gesetzen gehorchen, selbst wenn diese von einem totalitären Macht­haber verabschiedet werden. Hobbes ist gegenüber der Demokratie skeptisch, er bevorzugt die Monarchie. Doch sein Leviathan ist nicht ohne innere Spannung. Die Verpflichtung der Staats­angehörigen gegenüber dem Souverän dauert nach Hobbes nur so lange, wie dieser sie aufgrund seiner Macht schützen kann. Auf diese Gefahr einer Rückkehr des sogenannten Natur­zustandes verweisen die auf dem «Leviathan»-Titel abgebildeten Soldaten, aber auch die Seuchenärzte.

Die Schnabel­masken sind auch ein Symbol?
In meiner Dissertation zeige ich auf, wie die Schnabel­masken als Wahrnehmungs­filter die Sicht auf den dargestellten Staats­körper verändern. Sie lenken den Blick auf die Gewaltsamkeit von Grenz­ziehungen. 1490 verboten die Gesundheits­beamten den Fähr­leuten beispiels­weise den Transport von Bettlern nach Venedig. Solche städtischen Politiken, die sich im Seuchen­zustand auszubilden begannen, wurden später ein Vorbild für die Ausbildung moderner Staatlichkeit.

Zurück zur Migration. Sie glauben, dass diese viel zu negativ dargestellt werde. Wieso?
Migration sieht man in der Öffentlichkeit oft nur, wenn sie Probleme macht. Wenn Roger Federer gewinnt, jubeln alle, und niemand sieht in ihm einen Mann mit «Migrations­hintergrund». Käme er nicht als Tennis­star in die Medien, sondern weil er als Raser Menschen umgefahren hat, würde dieser «Migrations­hintergrund» schnell zu seinem allein charakterisierenden Merkmal. Wir sind demnach sehr selektiv darin, wann wir die Präsenz von Migration wahrnehmen und wann nicht.

Anders gesagt: Federer würde wohl nie zum Migranten­raser, auch wenn er zu schnell fahren würde.
Genau. Migration ist aber prägend für die heutige Schweiz, und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sie in so vielen Bereichen wahr­genommen werden kann, wenn der Fokus darauf gerichtet wird. Migration ist folglich keine getrennte Sphäre. Ein Blick in die Schweizer Geschichte zeigt etwa, dass Migration viel dazu beigetragen hat, die Verhältnisse in der Arbeits­welt, Bildung und Politik zugunsten von Frauen zu verändern.

Konservative Frauen­rechtlerinnen behaupten das Gegenteil. Einwanderung bedrohe durch patriarchale Strukturen die Gleichberechtigung.
Die Schweiz ist in geschlechter­politischen Fragen ein sehr konservatives Land, hat sehr spät das Frauen­stimm­recht eingeführt und hatte noch sehr lange ein patriarchales Eherecht. Und so kamen wichtige Impulse für die Gleich­berechtigung oft von aussen. Die Schweizer Unis wurden erst für Frauen geöffnet, weil Studentinnen Druck machten. Die erste promovierte Ärztin hierzulande war eine Russin. Und viele der ersten Professorinnen waren Migrantinnen. Doch das ist nicht Teil des kollektiven Geschichts­bewusstseins. Genauso wenig wie der Umstand, dass Kinder­krippen beispiels­weise auch wegen der Italienerinnen ausgebaut wurden.

Wie das?
Die ersten Krippen entstanden, weil man die Arbeiterschaft im 19. Jahr­hundert disziplinieren wollte – und die Kinder von der Strasse weghaben wollte. Doch nach dem Zweiten Welt­krieg etablierte sich auch in der Mittel­schicht das Hausfrauen­modell, weil der Mann doch nun genug Geld nach Hause brachte. Bei migrantischen Familien mussten jedoch beide arbeiten, und so brauchte es Krippen­plätze. Als dann in der Ölkrise in den 1970er-Jahren viele dieser sogenannten Gast­arbeiter wieder wegmussten, konnte die Schweizer Mittel­schicht auf die Krippen­struktur zurück­greifen. Noch kurz zuvor musste ein Paar beweisen, dass man das Kind wirklich nicht selbst betreuen kann. Einfach so gabs sicher keinen Krippen­platz für die «gute Schweizer Familie».

Sie lesen: Folge 2

Die Geschichte der Grenzen

Folge 3

Die Tessiner Raststätte Coldrerio

Folge 4

Fleisch­li­che Versuchung

Folge 5

Die deutsche Exklave Büsingen

Folge 6

Streit am Bodensee

Folge 7

Gemeinde Balzers, Liech­ten­stein

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