Kiyaks Exil

Als wüssten wirs nicht besser

Olaf Scholz will Kanzler werden. Jubel, Ekstase, Konfetti? Höchste Zeit, sich um das deutsche Volk ernsthaft Sorgen zu machen.

Von Mely Kiyak, 18.08.2020

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Mein Gott, er lebt! Kein Zweifel, schaut man nur ganz genau hin, wird völlig klar, er atmet, er bewegt sich, fast unmerklich, fast gar nicht, aber er ist ganz sicher lebendig, und das ist ja doch sehr toll! Das ist das denkbar Schönste und Löblichste, was ich im Moment über Olaf Scholz sagen kann, den Kanzler­kandidaten der SPD.

Manchmal wirkt Olaf Scholz wie ein Über­bleibsel aus einer anderen Welt. Eine Welt, in der man abends Pumper­nickel mit Gewürz­gurke ass und nicht irgend­welche modernen Schüssel­gerichte, wo die rohen Zutaten fächer­förmig neben­einander­liegen wie in einem Tortendiagramm.

Was in der Schweiz vielleicht nicht so präsent ist: In Deutschland sind zwei Personalien von nationaler Bedeutung. Fussball-Bundes­trainer und SPD-Kanzler­kandidat. Wenn es einen Job gibt, zu dem sich jede Deutsche befähigt fühlt, dann diese beiden Tätigkeiten. Wir sind das Land der Besser­könner und Besser­wisserinnen! Ich könnte mir vorstellen, es gibt Deutsche, die nach eigener Ansicht sogar im Schweizer­sein besser wären. Aber wem erzähle ich das.

Die SPD jedenfalls verkündete ihren Kanzler­kandidaten, und kolossaler, über­bordender, nie da gewesener und mit Konfetti überstreuter Jubel – blieb absolut aus. Selbst Freude, die kleine, mollige Schwester der Ekstase, war nicht einmal in Spuren­elementen zu erkennen. Zwei Tage lang wurde pflicht­gemäss kommentiert, und das wars. In der Regel dauert die Besser­wisser­periode über den Wahl­abend hinaus an, nämlich gleich die gesamte Legislatur­periode. Bisschen Sorgen mache ich mir ehrlich gesagt gerade schon um mein Volk.

Andererseits ist es bis zur Bundes­tags­wahl noch über ein Jahr hin, und traditionell beginnt hier das echte Wahl­kämpfen kurz vor Schliessung der Wahl­urnen. Da gibt es dann Kanzler­duelle und allerhand anderen inszenierten Wettbewerbs­quatsch, und am Wahl­abend ist dann sowieso alles anders, weil die Deutsche impuls­gesteuert wählt. Dass Gerhard Schröder 2002 Kanzler bleiben durfte, hatte mit seiner Politik überhaupt nichts zu tun, sondern damit, dass die Elbe einen Monat vor der Wahl Hoch­wasser hatte und Schröder während der Über­schwemmung in Gummi­stiefel schlüpfte, für ein Foto einen Sand­sack über den Deich hievte und Hände in Sachsen schüttelte. Im Osten erreichte die SPD einen Stimmen­zuwachs von 4,6 Prozentpunkten.

Nun also Scholz, der Mann von der Elbe. Ein Satz wurde nach seiner Verkündung besonders häufig geäussert, und der ging so: Ja, wer soll es denn sonst machen?

Ja, genau! Wer soll es denn sonst machen? Die SPD hat 420’000 Mitglieder, ist seit drei Koalitionen in Regierungs­beteiligung, stellt Ministerinnen und Minister­präsidenten – man muss hier wirklich von Personal­mangel sprechen, aber Gott sei Dank gibt es einen Gott, und der schickte Olaf Scholz.

Die meisten Kommentatorinnen meinten das aber anders. Es sei ja die erste Bundestags­wahl, bei der kein amtierender Kanzler antrete, Angela Merkel sei sehr beliebt (was in Teilen Deutschlands jetzt nicht grad so zutrifft), und da er der Kanzlerin vom Politiker­typus her ähnele … und so weiter. Hokus­pokus­analysen halt. Der Merkel-Vergleich ist wirklich albern, denn sie hat ein gezügeltes Temperament, Scholz hingegen hat gar kein Temperament.

Er ist nicht unsympathisch, nicht dies oder das, er ist einfach – nicht.

Wenn man nachdenkt, was sein grösster politischer Erfolg war, fällt einem nur die wahnsinnige Polizei­präsenz ein, die er vor drei Jahren beim G-20-Gipfel in Hamburg als Bürger­meister auffahren liess. Was er trotz Handy­aufnahmen, Zeugen­aussagen und anderer Beweise von Gewalt gegen Demonstrantinnen anschliessend leugnete («Polizei­gewalt hat es nicht gegeben»).

Es war ein für Hamburger Verhältnisse gigantisches Debakel, gewalt­tätig, unglaublich gewalt­tätig. Und da bleibt es einem schon in Erinnerung, wenn einer angesichts von Hunderten verletzten Demonstranten, Bürgerinnen und Polizisten diese Aktion als politische Notwendigkeit deklariert, statt sich mit dem Demonstrations­anliegen auseinander­zusetzen und sich für so etwas Altmodisches wie Deeskalation, Diskurs, Dialog einzusetzen.

Bei rechts­extremen Bewegungen in Deutschland ist das die übliche Verfahrens­weise. Kein Witz: Sobald 100 Nazis den rechten Arm zum Gruss erheben, reagiert der Staat einfühlsam. Nun ist es ja leider oft so, dass ein männlicher Politiker angesichts linker Proteste meint, das Auffahren von Polizei demonstriere politische Stärke. Das Gegenteil ist natürlich der Fall: Man wirkt stark, wenn man für Sicherheit sorgt und nicht knüppeln lässt.

Als Begründung für seine Kandidatur sagte Olaf Scholz in einer Fernseh­sendung, dass er gerne Kanzler werden möchte («Ich will dringend ins Kanzler­amt»). Und da war man schon sehr verblüfft, dass Intention und Wille als politisches Argument neuerdings ausreichen. Andererseits ist es auch frappierend ehrlich, und das wirkt viel sympathischer als sein umständliches Gescholze, wenn er sich zu politischen Sach­verhalten äussert und man anschliessend kaum etwas davon wieder­geben kann.

Nicht des Inhalts wegen. Es ist der Duktus, dieses bis ins letzte Komma abwägende Sprechen, das einem die politischen Beraterinnen einbläuen und das dafür sorgt, dass man beim Sprechen allenfalls Luft bewegt, aber nie und nimmer die Herzen.

Die SPD muss aber dringend auch die Herzen der anderen Parteien gewinnen, denn momentan verhalten die sich ihr gegenüber, als wäre sie ein Beton­klotz am Bein, der einen in die dunkle Tiefe zieht.

Es ging jedenfalls in den vergangenen Tagen viel um Macht­strategien und Optionen und Umfrage­werte und Gleichungen. Worum es nicht so viel ging: um Haltung. Und da wird einem doch etwas düster ums Herz.

Was ist die Reaktion auf den Rechts­ruck der letzten Jahre? Was hat man den wöchentlich stattfindenden Protesten von Menschen aus der gut situierten Mittel­schicht entgegen­zusetzen, die den Staat zunehmend als Gefahr und Bedrohung betrachten? Wo wurde explizit betont, dass dieses Land, Deutschland, ein Land für alle werden muss? Ein Land für die, die es satt sind, im Mitbürger einen Feind zu sehen, die bereit sind fürs Teilen, für mehr als das, was jetzt ist?

Wo ist die Partei, die eine Kanzler­kandidatin stellt, die in der Bevölkerung nicht Besoldungs­stufen und Steuer­klassen sieht, sondern Menschen, die Fortschritt, Sicherheit und Solidarität wollen? Wer rechts, nationalistisch und ausländer­feindlich ist, hat im Moment in Deutschland mehr partei­politische Alternativen als jemand, der sich gegen alle Wider­stände sein Entsetzen über das Sterben im Mittel­meer bewahrt hat. Noch wichtiger als die Koalitions­bereitschaft der Demokratinnen scheint mir angesichts der AfD im Bundestag die Bereitschaft der Koalitions­fähigen, an der Demokratie festzuhalten.

Manchmal denke ich, soll sie doch untergehen, die SPD. Sie ist doch ohnehin nur ein ethnisch einheitlicher Club, der komplett unter sich bleibt. Was haben diese Leute mit mir und meinem Leben zu tun, mit dem meiner Eltern, die «Gast­arbeiter» waren? Mein Vater hat bis heute kein Wahl­recht. Nicht weil er nicht will, sondern weil sein Deutsch nicht gut genug und seine Rente zu gering ist. Ja, das ist in Deutschland so. Gleichheit muss man sich leisten können, ein armer Einwohner darf auch nach 50 Jahren Deutschland­aufenthalt nicht Bürger werden.

Welche Partei die Gesetze dafür mitunterschrieb? Sie ahnen die Pointe sicher schon.

Selam
Ihre Kiyak

Illustration: Alex Solman

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