Aus der Arena

Der Chauvinismus erledigt sich selbst

In Belarus führt Alexander Lukaschenko ein autoritäres Regime. Drei Frauen haben es in Bedrängnis gebracht – nicht trotz, sondern dank der weiblichen Klischees, die sie verkörpern.

Von Leandra Bias, 17.08.2020

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Vor sieben Jahren studierte ich Russisch in Minsk. Mein Privat­lehrer fand, dass man Sprache am besten über Witze lernt. Also erzählte er mir diesen:

Lukaschenko ist am Telefon: «Ja, ja, nein, ja, nein, ja, nein, nein.» Da legt er wütend auf und sagt: «Verdammt, in diesem Land muss ich echt alles machen, sogar Kartoffeln sortieren.»

Als starker Mann, der alles im Griff hat und für alle schützend sorgt, wenn man im Gegenzug nur bereit ist, die gesamte Freiheit aufzugeben: So gibt sich Alexander Lukaschenko, der als Präsident seit 1994 in Belarus herrscht.

Ende Mai befand er beim Besuch einer Traktorfabrik, das Land werde garantiert nicht eine Frau wählen, denn in Belarus habe der Präsident viel Macht. Und damit könne nur ein echter mushik, also ein wahrer Mann, umgehen. Zum Vergleich verwies er aufs Nachbar­land Litauen: «Schaut, dort war Dalia Grybauskaitė Präsidentin. Sie kam, lächelte, sass und ging.»

Ausgerechnet drei Frauen haben jedoch die aktuelle Protest­welle ins Rollen gebracht, die Lukaschenko des Amtes zu entheben droht. Ihre Anführerin, Swetlana Tichanowskaja, hat an den Wahlen vor einer Woche viele Stimmen erhalten. Wie viele, ist unbekannt – Wahl­fälschung im grossen Stil wird vermutet. Demonstrationen überziehen seither das Land.

Tichanowskaja und ihre Mitstreiterinnen Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo haben die Regierung an ihrem wunden Punkt getroffen – und der Nation das Vertrauen in ihren Gerechtigkeits­sinn zurück­gegeben. Doch ironischer­weise gelang ihnen dies nicht, indem sie selbst Stärke markierten. Sondern mithilfe des traditionellen weiblichen Rollen­bilds.

Tichanowskaja wurde seit Beginn des Wahlkampfs unterschätzt. Ihr Mann, ein regierungs­kritischer Video-Blogger, war im Mai verhaftet worden, um seine Kandidatur zu verhindern. Kurzer­hand beschloss sie, selbst anzutreten. Und wurde zugelassen, weil siehe oben: als Frau sowieso chancenlos.

Doch die 37-Jährige hatte das nötige Geschick – oder das genügend kleine Ego –, sich mit den zwei anderen oppositionellen Kampagnen zusammen­zuschliessen. So entstand das weibliche Trio aus Tichanowskaja, Kolesnikowa und Zepkalo, das die Opposition vereinte. Ihr Versprechen bei einem Sieg war so einfach wie bedeutsam: Frei­lassung aller politischen Gefangenen sowie faire Neuwahlen innert sechs Monaten.

Tichanowskaja positionierte sich dabei nicht als Anführerin oder Kämpferin. Sondern betonte stets, dass sie sich nur als Platz­halterin für ihren Mann, «ihren Helden», sehe und keinen Macht­anspruch habe. Sie verwies immer wieder darauf, dass ihr das einfache Leben als Lehrerin und Mutter gereicht habe und dass sie vorhabe, nach den Neuwahlen in dieses zurückzukehren.

Für eine sich selbst aufopfernde Frau als Präsidentin, dafür war Belarus sehr wohl bereit. Nicht nur weil das weniger einschüchternd wirkt, sondern auch deshalb, weil das ins etablierte Frauen­bild passt. Zu Sowjet­zeiten waren Frauen auf dem Papier zwar gleichgestellt. Aber vor und nach der Schicht in Kolchosen, Fabriken und Laboren stemmten sie die Erziehungs- und Hausarbeit – meist allein, mit einem Arbeits­pensum von bis zu 70 Stunden pro Woche.

Die meisten Belarussen glauben bis heute, dass in Wahrheit Frauen das Land am Laufen halten. «Wenns hart auf hart kommt, sind die Männer ja doch für nichts zu haben», das habe ich unzählige Male gehört, auch von Männern. Oder wie es mein Privat­lehrer mir beibrachte:

Auf Russisch sagen wir: Der Mann ist das Haupt der Familie. Aber die Frau ist der Nacken. Sie sagt, wo es im Endeffekt langgeht.

Gerade in Krisenzeiten vertraut man Frauen. Dass die Wahlen inmitten einer Pandemie stattfanden, war daher Pech für Lukaschenko. Denn in unsicheren Zeiten schätzen es die Leute, wenn ihre Sorgen ernst genommen werden – und nicht, wenn ein offensichtliches Problem verneint und so getan wird, als ob das Corona­virus nur «Schwächlinge» treffen könnte. Genau das tat der Präsident aber und war sich nicht zu schade vorzugeben, er habe das Virus sogar selbst gehabt. Als er als Antidot nur Wodka, Sauna und Eishockey empfahl, begab sich die Zivil­bevölkerung freiwillig in den Lockdown.

Tichanowskaja verkörperte die einfühlsame, vertrauens­würdige Alternative zum chauvinistischen Gebaren. Als wolle sie der Karikatur entsprechen, die Lukaschenko von weiblichen Politikerinnen gezeichnet hatte, kam sie und lächelte – und ging schliesslich, nachdem sie von den Wahl­behörden über sieben Stunden festgehalten und zur Aufnahme eines merkwürdigen Videos mit einer Art Kapitulationserklärung gezwungen worden war, nach Litauen.

Im Video sagt Tichanowskaja, die Wahl sei gefallen und das Volk solle zu seinem Schutz nicht protestieren. Aus dem sicheren Ausland schickte sie später ein weiteres Video nach, um die Entscheidung, das Land zu verlassen, zu erklären. Die Details kriegten ihre Landsleute wegen der Internet­blockade nur am Rande mit. Aber es genügte, damit Tichanowskaja von der Märtyrerin zur Schutz­bedürftigen wurde – und damit, einem weiteren Stereotyp entsprechend, zum Symbol für alle Festgenommenen und Gefolterten.

Gebrochen sagt sie im Video: «Ich bin halt doch immer noch die schwache Frau, die ich von Anfang an war.» Mit der Absicht, davon zu profitieren, sagte Lukaschenko am gleichen Tag an einer Presse­konferenz zur Deutschen Welle, er halte Tichanowskaja überhaupt nicht für eine Konkurrentin. «Sie gibt ja selbst zu, dass sie nicht weiss, wie ihr geschieht und was zu tun ist.»

Doch der autoritäre Staatschef begreift nicht, dass Tichanowskajas Eingeständnis der Schwäche und ihre Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder und ihres Mannes, der immer noch in Haft ist, vor allem für etwas stehen – etwas, was er nicht hat: Menschlichkeit. Und dass sie damit genau das vertrat, was in der Folge Tausende von Frauen auf die Strasse trieb.

Während die Proteste in den ersten Tagen hoffnungslos aussahen, weil sie vor allem nachts von Männern durchgeführt wurden und Polizei­gewalt als Antwort auslösten, änderte sich das Bild Mitte letzter Woche drastisch – durch die Belarussinnen. Weiss gekleidet und mit Blumen in der Hand stellten sie sich an den Strassen­rand, auf Plätze und vor Regierungs­gebäude. Nur so war es möglich, dass in Belarus ein «Protestorat», wie es die Politologin Olga Onuch nennt, heranwuchs, das alle Schichten des Landes umfasst.

Dass Frauen nur dann politisch Erfolg haben können, wenn sie archetypisch «weibliche» Züge zur Schau stellen, wäre jedoch ein falscher Schluss. Denn das Politikerinnen-Trio hat stets auch Furcht­losigkeit ausgestrahlt. «Frauen sind wie Elefanten, sie verzeihen keine Demütigung», sagt man auf Russisch. Tichanowskajas Haltung hat viele Bürger inspiriert – und sie ihre eigene Courage neu entdecken lassen.

Mein Russisch­lehrer erzählte mir einmal folgendes Klischee:

Der Russe sitzt auf einen Stuhl mit einem Nagel drauf. Er schreit auf und stolziert fluchend davon. Der Ukrainer schlägt den Stuhl kaputt und lässt den Nagel in die Hosen­tasche fliessen. Und der Belarusse? Der setzt sich hin, denkt: autsch und presst die Lippen zusammen.

Dank Tichanowskaja sind die Belarussinnen aufgewacht. Denn wenn selbst die bescheidene Frau von nebenan, die Hausfrau oder die Lehrerin, den Mut findet, sich zu erheben, dann können das alle anderen auch. Es ist die späte Rache des chauvinistischen Klischees – am Chauvinismus selbst.

Zur Autorin

Leandra Bias promoviert an der Universität Oxford in Politologie. Sie untersucht den Feminismus in autoritären Regimes mit Fokus auf Osteuropa.

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