Binswanger

Weiss man da schon Genaueres?

Für die Bewältigung von Corona brauchen wir einen langen Atem. Das gilt auch für die Medien. Die damit gewisse Schwierigkeiten haben.

Von Daniel Binswanger, 08.08.2020

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Grosse Krisen haben immer etwas Apokalyptisches. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie den Welt­untergang herbei­führen, sondern dass sie System­widersprüche und Fehl­anreize, die auch unseren normalen Alltag beherrschen, gnadenlos «enthüllen» – was die ursprüngliche Bedeutung von Apokalypse ist. Krisen sind ein Reality-Check. Das gilt auch für Covid-19.

Man nehme zum Beispiel die immer dysfunktionaleren Reibereien zwischen dem Bund und den Kantonen um Flug­passagier­daten, den Masken­zwang für Geschäfte, die Ober­grenze für Gäste­zahlen in Clubs. Sie sind im Grunde nur Ausdruck des ganz alltäglichen schweizerischen Föderalismus, der in allen Politik­feldern – dem Gesundheits­wesen, der Bildungs­politik, der Standort­förderung – immer wieder mal zu Blockaden, Doppel­spurigkeiten und Kompetenz­gerangel führt. Nur dass wir unter Normal­bedingungen damit ganz gut leben und dass es in der Regel nicht um Abwägungen geht, die mit absoluter Stringenz getroffen werden müssten, weil sie potenziell über Tausende von Toten und epochale volks­wirtschaftliche Verwerfungen entscheiden.

Auch für die Medien ist Corona ein Reality-Check, nicht nur weil der in der Krise spürbar gestiegene Informations­bedarf der Medien­konsumentinnen einhergeht mit desaströsen Einnahme­einbrüchen für die meisten Medien­produzenten. Zwar ist das immer dramatischere Auseinander­driften von Informations­auftrag und Wirtschaftlichkeit noch nie brutaler hervor­getreten. Aber fast noch eindrücklicher manifestieren sich die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie.

Corona ist weiterhin das alles beherrschende Thema, aber die Menschen sind coronamüde. Der epidemie­spezifische Informations­bedarf nimmt laufend zu, aber obwohl die Wissenschaft beachtliche Erkenntnis­fortschritte gemacht hat, wird die öffentliche Debatte immer konfuser. Allmählich entsteht der Eindruck, als sei es die Strategie eines Teils des Medien­systems, diese Konfusion nicht zu mildern, sondern so weit als möglich zu maximieren.

Die schweizerische Covid-Bericht­erstattung ist grosso modo durch drei Phasen gegangen. In der Periode des explosiven Anstiegs der Infektionen, des plötzlichen Bewusstseins des Ernst­falls und schliesslich des Lockdown war der Medien­diskurs vorwiegend um Einordnung und Erklärung bemüht. Dem Regierungs­handeln stand er weitgehend unkritisch gegenüber. In einer zweiten Phase kippte diese affirmative Haltung ganz plötzlich in ihr Gegenteil. Die Leute hatten vom Lockdown genug, die Lockerungen konnten mit einem Mal gar nicht mehr schnell genug umgesetzt werden – und beträchtliche Teile des Medien­systems machten sich flexibel und opportunistisch zum Schall­trichter dieser neuen Stimmung.

Jetzt sind wir in einer dritten Phase, der Phase der extremen Oszillationen, wo man am besten alles und sein Gegenteil behauptet, vorzugs­weise mit unversöhnlicher Radikalität, um das coronamüde Publikum bei der Stange zu halten. Natürlich ist es gut, wenn kontrovers diskutiert und ein umfassendes Spektrum von Positionen vertreten wird. Es lebe der Pluralismus! Aber Medien, die sich permanent selber widersprechen und dies auch noch unter Angabe von absurden Gründen, erfüllen irgendwann keinen Informations­auftrag mehr. Sie werden zu Hysterisierungs­maschinen, die statt Perspektiven­vielfalt nur noch Desorientierung schaffen.

Nehmen wir zum Beispiel den «Blick». Ende Juni publizierte er einen Artikel mit dem Titel «Warum Schwedens Covid-19-Sonderweg gescheitert ist». Vor ein paar Tagen nun hiess es plötzlich: «Corona-Zahlen in Schweden im Sinkflug». Schweden stehe «plötzlich besser da als die meisten», wird uns nun beschieden.

Natürlich liegen zwischen diesen beiden Artikeln sechs Wochen, und die epidemiologische Situation in Schweden hat sich in der Tat gebessert. Die Fall­zahlen sinken seit längerem, während sie in den meisten anderen europäischen Ländern wieder am Steigen sind. Allerdings liegen sie immer noch bei um die 300 Fällen pro Tag, also deutlich höher als in der Schweiz. Die Zahl der Toten pro Einwohner ist in Schweden gemessen an seinen skandinavischen Nachbarn immer noch extrem hoch und mehr als doppelt so hoch wie bei uns. Damit die schweizerische und die schwedische Mortalität sich längerfristig annäherten, müssten die Dinge bei uns im Herbst eine katastrophale Wendung nehmen und Schweden sich langfristig auf einem sehr tiefen Niveau stabilisieren. Bizarr ist aber vor allem, dass die schwedische Durch­seuchung – sollte sie denn erfolgreich sein – neuerdings wieder als Vorbild für die Schweiz angepriesen wird. Als der viel­versprechende Plan B, auf den wir jetzt einschwenken könnten, falls die epidemiologische Lage in der Schweiz ausser Kontrolle geraten sollte.

Ein kleines Problem bei der Sache ist allerdings, dass wir nicht plötzlich dem schwedischen Beispiel folgen und die Lockdown-Massnahmen forciert liberalisieren können – ganz einfach deshalb, weil wir dem schwedischen Modell schon lange gefolgt sind beziehungs­weise es übertroffen haben. Gemäss dem Government Response Stringency Index der Universität Oxford war die Schweiz während des ganzen Juni «lockerer» als Schweden, was ein wesentlicher Grund dafür ist, weshalb die Fall­zahlen bei uns angezogen haben. Seit der Einführung der Masken­pflicht im ÖV betrachtet der Stringency Index Schweden und die Schweiz als praktisch identisch restriktiv.

Schweden hat keine Masken­pflicht im ÖV, dafür verbietet es Versammlungen mit mehr als 50 Menschen sowie den Besuch von Clubs, in denen getanzt wird, und von Bars, in denen die Gäste nicht an Tischen bedient werden. Wir hingegen streiten erbittert darüber, ob nun 100 oder 300 Leute gemeinsam tanzen dürfen, und bürgerliche Politikerinnen machen massiven Druck, um die 1000er-Grenze für die Stadien zu kippen. Wenn es aus dem Vergleich zwischen der Schweiz und Schweden eventuell eine Lehre zu ziehen gäbe, so könnte sie nicht zuletzt darin liegen, dass harte Eingriffe ins Nacht­leben viel effizienter sind als die Masken­pflicht im ÖV. Insofern Schweden die Standards setzt für eine Durch­seuchungs­strategie, erfüllen wir diese schon seit zwei Monaten und sind bei der Durch­seuchung lediglich noch weniger weit. Zusätzliche Lockerungen lassen sich mit Schweden ganz bestimmt nicht begründen.

Den grössten Schlinger­kurs im Schweizer Medien­system fährt allerdings nicht der «Blick», sondern die «Sonntags­Zeitung». Eine sehr wirkungs­mächtige Inter­vention in der öffentlichen Debatte war das Interview mit Professor Pietro Vernazza, dem Infektiologen des Spitals St. Gallen. Es ist sicherlich legitim, wenn man einem erfahrenen Kliniker das Mikrofon hinhält, gerade dann, wenn seine Ansichten quer zum im öffentlichen Diskurs vorherrschenden Konsens liegen. Aber es hätte wenigstens deutlich werden müssen, dass die Ansichten von Professor Vernazza rein gar nichts mit dem Erkenntnis­stand der aktuellen wissenschaftlichen Forschung zu tun haben.

Vernazza scheint davon auszugehen, dass die infection mortality rate, das heisst die Sterblichkeit im Verhältnis nicht nur zu den diagnostizierten, sondern zu den real erfolgten Ansteckungen, bei 0,1 Prozent liegt. Oder – aus dem Interview wird nicht einmal das klar – er geht davon aus, dass ein sehr signifikanter Teil der Bevölkerung durch Kreuz­immunität geschützt ist. Ersteres ist erwiesener­massen falsch, Letzteres ist sehr unwahrscheinlich und nach heutigem Erkenntnis­stand eine reine Spekulation. Bisher kommen alle seriösen Unter­suchungen in der Schweiz zum Ergebnis einer infection mortality rate von zwischen 0,5 und 1. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Durch­seuchung der Schweizer Bevölkerung erfordern würde, dass sich 50 Prozent der Population infizieren, kämen wir auf zwischen 20’000 und 40’000 Tote.

Wirklich verantwortungslos an dem Interview mit Vernazza ist die Tatsache, dass insinuiert wird, man habe ganz neu entdeckt, dass die sehr hohe Anzahl asymptomatischer und nicht diagnostizierter Corona-Fälle die bisherigen Schätzungen der Sterblichkeit über den Haufen geworfen habe und dass die Epidemie viel weniger gefährlich sei als bisher angenommen. Das ist falsch. Die statistischen Modelle, mit denen in einer frühen Phase versucht wurde, die Sterblichkeit zu errechnen, sind selbst­verständlich davon ausgegangen, dass der überwiegende Anteil der Infizierten gar nie getestet und ermittelt wird. Und die Schweizer Epidemiologen haben sich als verdammt treffsicher erwiesen.

Schon in einer relativ frühen Phase errechnete Christian Althaus von der Universität Bern eine Sterblichkeit von 0,5 Prozent. Neuere Studien, die nicht mehr auf statistischen Modell­rechnungen, sondern auf Antikörper­tests bei einem Teil der Population beruhen, haben diese Einschätzung für die Schweiz bestätigt. Eine in «Lancet» publizierte Untersuchung zur Stadt Genf kommt auf eine Sterblichkeit von 0,64 Prozent. Auch andere Schweizer Antikörper-Unter­suchungen kommen zu Resultaten zwischen 0,5 und 1 Prozent. Die Datenlage ist relativ klar. Warum ist der öffentliche Diskurs vollkommen konfus?

Um dies alles noch zu toppen, kam diese Woche auch noch das öffentlich-rechtliche Fernsehen, übernahm die Falsch­behauptungen von Professor Vernazza unbesehen – was man in einer anderen Zeitung abschreiben kann, muss ja wahr sein – und wertete den Online­beitrag auch gleich noch mit einer Umfrage auf: Eine Mehrheit der Leserinnen hält gemäss dieser SRF-Erhebung eine Durch­seuchung für eine Option. Angesichts der Informationen, auf deren Basis die SRF-Nutzer sich entscheiden, muss man sich ja auch nicht wundern. Am Ende des Textes wurde dann zwar ein Erratum angehängt, wo sich das SRF für die Falsch­behauptung entschuldigt, die Swiss-Covid-Taskforce habe die Dunkel­ziffer bei den Infizierten nicht miteingerechnet. Die Aussage, auf der das ganze Argument beruht, nämlich dass die Sterblichkeit viel tiefer sei als bisher angenommen, bleibt aber unverändert stehen. Warum soll man sich auch korrigieren, wenn man so erfolgreich für Aufregung und Verwirrung gesorgt hat? Es ist erstaunlich, zu welchen journalistischen Fahrlässigkeiten das SRF sich autorisiert sieht.

Wir alle sind mittlerweile covidmüde, wir alle müssen lernen, mit dem Virus wohl noch länger zu koexistieren. Wir werden einen langen Atem brauchen. Noch viel wichtiger aber wäre es, einen kühlen Kopf und eine vernünftige Debatten­kultur zu bewahren. Ein Kurzschluss der Schweizer Öffentlichkeit könnte extrem gravierende Konsequenzen haben.

Illustration: Alex Solman

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!