Wird Beirut je wieder aufblühen, diese Stadt der Vielfalt und Verrücktheiten? Lorenzo Tugnoli/The Washington Post/Contrasto/laif

Feuer und Rauch

Beirut, die Seele dieses geschundenen Landes, ist zerstört, schreibt eine Bekannte. Doch ich kann nicht anders als hoffen.

Von Monika Bolliger, 08.08.2020

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Eine einzige Explosion verschluckte alles.

Während Sekunden fegte mit geballter Kraft eine Rauch­wolke über die Stadt, über die Häuser meiner Freunde, die Quartier­strassen mit ihren Manoushe-Bäckereien und ihren kleinen Tante-Emma-Läden, die immer geöffnet hatten, mit ihren Strassen­kindern, die Rosen verkauften oder um Geld bettelten. Vom Rauch verschluckt wurden Bars und Restaurants, Buch­läden, Theater, Kunst­galerien, Kirchen und Moscheen. Druck­wellen zersplitterten Fenster im Umkreis von Kilometern, brachten Gebäude zum Einstürzen, rissen Fassaden herunter, hoben Balkon­türen aus den Angeln, liessen Wohn­blöcke erzittern und schwere Gegen­stände durch die Zimmer fliegen.

Ich bekomme dieses Lied nicht mehr aus dem Kopf – min qalbi salaamun li-beirut: «Ein Friedens­gruss von ganzem Herzen an Beirut, und Küsse für das Meer und die Häuser», sang einst die libanesische Diva Fairouz in ihrer Ode an ihre Haupt­stadt: «Wie kam es nur, dass sie nach Feuer und Rauch zu schmecken begann?» Es ist ein altes Lied aus der Zeit des Bürger­krieges. Es ist längst zum Klischee geworden, zur Referenz für all jene, denen es jedes Mal das Herz zerreisst, wenn Beirut wieder eine Stadt voller Trümmer ist.

Über 150 Tote, über 5000 Verletzte, überfüllte Spitäler, Menschen in Panik, ausgelöschte Existenzen, ein Ausmass der Zerstörung, das Beirut trotz all der Kriege und Bomben­anschläge in der Vergangenheit so nicht erlebt hat. Es brauchte eine Explosion, und ganze Stadt­viertel sahen auf einen Schlag aus wie Aleppo, sahen aus wie ein Ort, an dem seit Jahren Krieg herrscht. Ich habe es noch nie erlebt, dass nach einer Explosion oder einem Luft­angriff in einer Stadt buchstäblich all meine Freunde und Kontakte irgendwie betroffen waren. Immerhin ist niemand von ihnen schwer verletzt. Aber keine Wohnung ist mehr ganz, auch meine frühere Wohnung nicht, in der ich bis letzten Herbst gelebt habe.

Min qalbi salaamun li-beirut: Ich hörte das Lied zum ersten Mal als Arabisch­studentin in Damaskus im Sommer 2006. Es kam damals fast täglich im syrischen Radio, zwischen Schreckens­meldungen und Propaganda, als Israels Luft­waffe während eines einmonatigen Krieges mit der Hizbollah die libanesische Infra­struktur in Schutt und Asche legte. Ich schrieb die Zeilen des Liedes einige Jahre später in ein Gäste­buch bei einer Foto­ausstellung in Beirut über Vermisste des Libanesischen Bürger­krieges, die mich zu Tränen gerührt hatte: Rund 17’000 Personen sind im Bürger­krieg zwischen 1975 und 1990 verschwunden.

Beirut ist eine Stadt mit vielen Narben. Sie hat sich nach dem Bürger­krieg wieder aufgerappelt. Ebenso nach dem Krieg mit Israel von 2006, nach einer Serie von Bomben­anschlägen gegen Politiker, nach Anschlägen des IS.

Jetzt frage ich mich, ob es diesmal noch möglich ist, dass Beirut wieder aufsteht.

Ein Freund schreibt am Tag nach der Explosion: «Ich fuhr heute mit dem Motor­rad durch die Stadt. Ich finde keine Worte, um zu beschreiben, wie entsetzlich alles ist. Mit Kameras kann man das Ausmass der Zerstörung nicht festhalten. Ich war überwältigt von so vielen verschiedenen Gefühlen. Vor allem eine grosse Wut, das Gefühl eines schreienden Unrechts. Die Leute reden kaum auf der Strasse, sie tauschen nur Blicke aus, lächeln einander unter Tränen zu. Keine Worte.» Plötzlich fühlt sich das Lied in meinem Kopf kitschig an, und redundant.

Das Entsetzlichste ist, dass diese Katastrophe vermeidbar gewesen wäre, wenn die Behörden nur ihre Arbeit gemacht und Hunderte Tonnen von Ammonium­nitrat nicht während Jahren an einer so riskanten Lage liegen gelassen hätten. Die grenzenlose Gier und die Verantwortungs­losigkeit der politischen Eliten haben das Land schon in den letzten Monaten in den wirtschaftlichen Abgrund getrieben, etwa, als das Banken­system des Libanon kollabierte. Die Währung stürzte ab, Nahrungs­mittel­preise schnellten in die Höhe, die Menschen verloren über Nacht ihre Ersparnisse – manche begannen aus Hunger zu stehlen. Der Strom fiel nicht mehr drei, sondern bis zu zwanzig Stunden am Tag aus.

Die Ausgangssperre wegen der Corona-Pandemie beschleunigte die Abwärts­spirale weiter. Restaurants und Bars gingen zu, Stadt­viertel mit einem einst lebendigen Nacht­leben versanken nach Sonnen­untergang im Dunkel. Ich war seit November nicht mehr in Beirut, doch Erzählungen von Freundinnen zeichneten ein Bild davon, dass die Stadt, in der ich gelebt hatte, schon vor der Explosion nicht mehr dieselbe war.

Dabei hatte letzten Herbst eine Protest­bewegung im ganzen Land den Sturz der korrupten Eliten und umfassende Reformen gefordert. Doch diese entschieden sich, die Krise einfach auszusitzen, und schauten mehr oder weniger tatenlos zu, wie die Menschen in die Armut abglitten. Die Explosion vom Dienstag wirkt wie ein brutaler letzter Todes­stoss. Korruption, Misswirtschaft und grobe Fahrlässigkeit haben mehr Zerstörung angerichtet als all die Kriege und die politische Gewalt, die der Libanon in den vergangenen Jahrzehnten durchlebt hat.

Und doch ist das korrupte System des Libanon auch ein Erbe des Bürger­krieges. Im fünfzehn Jahre dauernden Konflikt war eine Kriegs­wirtschaft entstanden, deren Profiteure nach Kriegs­ende zu den neuen Eliten des Landes wurden: mafiöse Patrons, die ihre Macht dazu nutzen, in die eigene Tasche zu wirtschaften, und welche die Pfründen in einem wieder­kehrenden Seilziehen untereinander aufteilen.

Manche sprachen von einer Fortsetzung des Bürger­krieges ohne Waffen.

Die Patrons geben sich als Beschützer ihrer jeweiligen Religions­gruppe und schüren deren Ängste, dass die anderen Religions­gruppen auf ihre Kosten eine Vormacht­stellung erlangen könnten. Im libanesischen System ist die politische Macht nach Quoten auf verschiedene Religions­gruppen verteilt, und Verteil­kämpfe verlaufen entsprechend entlang dieser Linien. Alle haben dabei ihre ausländischen Verbündeten, die im Wettbewerb um Einfluss in der Region stehen.

Bei den Protesten im vergangenen Herbst entstand erstmals eine breite Volks­bewegung, die sich über die konfessionellen Gräben hinweg­setzte, sich gegen die ganze Elite richtete und nichts mehr vom Spiel mit religiösen Identitäten wissen wollte. Wenn es jetzt noch einen Funken Hoffnung gibt, dann liegt er da, bei den Engagierten aus der libanesischen Zivil­gesellschaft, die bei den Protesten enorme Kreativität und einen scharfen politischen Verstand bewiesen haben.

Beirut hatte schon viele Etiketten, man nannte sie Party­stadt, Stadt zwischen Ost und West, Paris des Nahen Ostens, Stadt der Lebens­freude, arabische Insel der Freiheit. Für mich war sie eine Stadt der schwindel­erregenden Vielfalt auf engstem Raum, die schon bei der Architektur begann: Da standen levantinische Villen mit Arkaden­fenstern neben lieblos hingeklotzten glitzernden Neubauten und mit Schuss­löchern beschädigten Beton­bauten aus den Sechzigern.

In Beirut traf ich auf mit Büchern vollgestopfte Wohn­zimmer von Intellektuellen und auf eine oberflächliche Schickeria mit dicken Autos und schönheits­operierten Gesichtern, auf offene Rassisten und progressive Feministinnen. Es gab Kirchen neben Moscheen, lateinische neben arabischer Schrift, altmodische Kunst­museen und eine lebendige Untergrund­musik­kultur, dekadente Partys und bettelnde Flüchtlinge. Obwohl die Beiruter Meister des Scheins sind, waren die Ober­flächen auch immer ziemlich durchsichtig, die verschiedenen Welten eng ineinander verschachtelt.

Das Erste, was ich mit Beirut verband, war Freiheit. Als ich als Studentin in Syrien lebte, fand ich hier nur drei Stunden Autofahrt von Damaskus entfernt Buch­läden mit allen erdenklichen politischen Titeln, die in Syrien zensiert waren, internationale und arabische Bücher. Im syrischen Polizei­staat musste man immer auf der Hut sein, was man sagte. Im Libanon führten die Leute auf offener Strasse hitzige politische Diskussionen. Während meiner Zeit in Kairo waren die Besuche in Beirut Momente, in denen ich entspannt durch die Strassen schlendern konnte, ohne ständig Belästigungen von Männern ausgeliefert zu sein. Und wenn ich von einer anstrengenden Reise nach Beirut zurück­kehrte, gab es nichts Schöneres, als den Abend mit Freunden in der nächsten Bar zu verbringen und für einen Moment alles zu vergessen, was ich erlebt hatte.

Arabische Freundinnen mochten Beirut aus demselben Grund: Viele der politischen und gesellschaftlichen Barrieren der anderen Länder in der Region existierten hier nicht. Hier fanden sie Bücher und offene Debatten, hier konnten sie in der Öffentlichkeit Alkohol trinken. Manche Besucherinnen legten ihre Kopf­tücher ab, denn hier interessierte es keinen, ob sie voll verschleiert oder im Minijupe herumliefen. Hier trat der Rapper El Rass auf, der in seinen poetischen Liedern mit messer­scharfem Verstand die Politik der ganzen Region zerlegt. Hier entstanden die gesellschafts­kritischen Texte der inzwischen international bekannten Band Mashrou’ Leila, deren Sänger bekennender Schwuler ist.

In den letzten Jahren gab es immer mehr Zensur, immer mehr Druck­versuche gegen Kritikerinnen des Establishments vor dem Hinter­grund einer zunehmenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die sich erstmals 2015 in den Protesten gegen die Müll­krise entlud. In jenem Sommer war die Müll­entsorgung kollabiert und Abfall­berge füllten die Strassen – ein weiterer Punkt auf der immer länger werdenden Liste des Staats­versagens. Im Juli 2019 durften Mashrou’ Leila nicht mehr auftreten, angeblich zur Wahrung des sozialen Friedens. Konservative Christen hatten gegen die Band gehetzt, doch ich wurde den Eindruck nicht los, dass es darum ging, populäre, unabhängige Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Ich empfand Beirut auch als eine grausame Stadt, eine Stadt, in der das Recht des Stärkeren galt, das Recht jener mit dem grössten Vermögen und den besten Beziehungen. Beirut war entfesselter Kapitalismus ohne Schranken, ohne Aufsicht, ohne Rechts­staat, ohne Transparenz. Manchmal war der Anblick von bettelnden Strassen­kindern neben dicken Autos schlicht unerträglich. Beirut war auch eine unstete Stadt, die Leute kamen und gingen, Freundschaften fluktuierten. Und trotzdem fühlte ich mich zu Hause. Denn Leute wie ich, die vom Leben zwischen Europa und der arabischen Welt etwas schizophren geworden sind, waren hier in guter Gesellschaft. Einen Satz auf Arabisch zu beginnen, auf Englisch fortzusetzen und auf Französisch zu beenden, war im Beirut, das ich erlebte, die normalste Sache der Welt.

Ich merke, dass ich in der Vergangenheit schreibe. Gibt es das Beirut, das wir kannten, wirklich nicht mehr? Das Gefühl vor Ort scheint so, der Schock sitzt tief. «Es ist real. Beirut ist zerstört, diese Stadt mit allem, wofür sie stand – egal was es war, wofür sie stand, sie war doch die Seele dieses geschundenen Landes, und sie ist weg, ist nicht mehr zu retten. Niemand wird sich je davon erholen», schreibt eine Bekannte.

Aber ich kann nicht anders, als mich an der Hoffnung fest­klammern, dass aus den Trümmern dieser Stadt eines Tages wieder etwas Schönes wachsen kann. Und dass uns dieses Refugium am Mittel­meer, diese Stadt der Vielfalt und Verrücktheiten, nicht für immer abhanden­gekommen ist.

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