Der So-ungefähr-da-irgendwo-Tarif

Der Bund bezahlt pro Corona-Test 169 Franken. Wie kommt dieser Preis zustande – und warum vergüteten einige Kantone im Frühling nur halb so viel? Willkommen im Dickicht.

Von Elia Blülle (Text) und Philotheus Nisch (Bild), 06.08.2020

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Fieber oder ein Kratzen im Hals? Wer sich in diesen Tagen krank fühlt, soll sich auf Sars-CoV-2 untersuchen lassen. So rät es dringend die Welt­gesundheits­organisation. Und so will es auch der Bundes­rat. Seit er im Juni beschlossen hat, alle Kosten für die Corona-Tests zu übernehmen, gibt es keinen Grund mehr, auf die Unter­suchung zu verzichten – selbst bei leichten Symptomen. Testen, testen, testen!, lautet die Devise.

In der Schweiz haben die Labors seit März über 800’000 Proben analysiert. Bleibt die Test­rate stabil, werden bis Ende Jahr noch einmal so viele hinzu­kommen. Ein teures Vorhaben: Für dieses Jahr rechnet das Bundes­amt für Gesundheit (BAG) mit Ausgaben von 288 Millionen Franken. Pro Test bezahlt die Bundes­kasse bis zu 169 Franken – davon entfallen allein 119 Franken auf die laborchemische Analyse. Ein Tarif, den viele für überrissen halten.

Vertreter der beiden Kranken­kassen­verbände Santésuisse und Curafutura sagen, es gäbe da Potenzial nach unten. Rudolf Hauri, der Präsident der Kantons­ärzte, fordert, dass die Preise bald überprüft werden. Und der eidgenössische Preis­überwacher Stefan Meierhans sagt: «Der Ausland­preis­vergleich deutet darauf hin, dass der Preis für den Corona-PCR-Test immer noch zu hoch ist.»

Die Labors hingegen wehren sich gegen diese Vorstellung. Laut Willi Conrad, dem Präsidenten des Medizin­laboranten-Verbandes FAMH, ist sogar das Gegenteil wahr. «In bestimmten Situationen und auf gewissen Geräten ist der aktuelle Preis nicht kosten­deckend», sagt er.

Fakt ist: Der Corona-Test kostet in der Schweiz mehr als doppelt so viel wie in Deutschland oder Frankreich. Ausserdem legten einige welsche Kantone im Mai einen eigenen Tarif fest. Sie bezahlten bis im Juni höchstens 52 Franken pro Test – die Hälfte von dem, was der Bund heute für die Analysen ausgibt.

In der Schweiz herrscht ein Preis­chaos. Warum ist das so?

Jeder rechnet anders – wenn überhaupt

Labor­analysen sind das Rückgrat der heutigen Medizin. Bis zu 70 Prozent aller medizinischen Diagnosen stützen sich auf ihre Ergebnisse, schätzt die Schweizerische Union für Labormedizin. Auch in der Corona-Pandemie spielen die Labors eine entscheidende Rolle: Ohne sie wäre es unmöglich, das Virus schnell nach­zuweisen und infizierte Personen zu isolieren, bevor sie eine Vielzahl ihrer Mitmenschen anstecken.

Deshalb hat der Bund im März, eine Woche nach dem ersten hiesigen Covid-19-Befund, die Kranken­kassen dazu verpflichtet, die Kosten für Sars-CoV-2-Analysen zu übernehmen. Den Höchst­preis pro Analyse legte er damals auf 180 Franken fest, analog dem Tarif für den Nachweis vieler anderer Viren.

Diesen Tarif verordnete Gesundheits­minister Alain Berset per Unterschrift. In der sogenannten Analysenliste legen er und sein Departement jeweils auf die Komma­stelle genau fest, wie viel eine medizinische Labor­unter­suchung kosten darf – exakt so viel dürfen Ärztinnen und Labors dann über die Kranken­kassen abrechnen. Weil Spitäler und Test­zentren den Abstrich zusätzlich in Rechnung stellen dürfen, bezahlte man für eine Corona-Unter­suchung dann aber schnell mehrere hundert Franken.

Bei der Analyse von Corona-Proben handelt es sich um ein grössten­teils automatisiertes Verfahren: Die Laboranten untersuchen die Probe mit einem sogenannten PCR-Analyse-Gerät. Wie viel die Kosten pro Test ungefähr betragen, hat das Konsumentenmagazin «Saldo» ausgerechnet. Es schätzt den Material­aufwand pro Corona-Test auf maximal 30 Franken. Hinzu komme ein Arbeits­aufwand von rund 10 Minuten pro Test: Die Proben müssten erfasst, umgefüllt und in die Maschine einsortiert werden.

Sind 180 Franken dafür wirklich angemessen? Der Preis­überwacher, die wissenschaftliche Taskforce und die Kranken­kassen intervenierten. Zwei Monate nach dem ersten Schweizer Covid-19-Fall halbierte das BAG den Tarif: Ab da durfte die Analyse plötzlich nur noch 95 Franken kosten.

Darüber zeigte sich der eidgenössische Preis­überwacher Stefan Meierhans erfreut. Er ist beim Bund für die Tarif­kontrolle zuständig. In einem Brief an Bundes­rat Alain Berset schrieb er, die Preis­reduktion sei ein Schritt in die richtige Richtung. Drei Wochen nach Bersets drastischer Preis­reduktion liess ein weiteres Ereignis jedoch Zweifel aufkommen, ob der neue Tarif nicht ebenfalls noch deutlich zu hoch war.

Am 20. Mai nämlich definierte der Kanton Waadt einen eigenen Tarif für den Corona-Test: 52 Franken, etwas mehr als halb so teuer wie jener vom Bund. Die damalige bundes­rätliche Verordnung verlangte, dass die Kantone einen beträchtlichen Teil der Test­kosten tragen – für viele von ihnen stellte das eine grosse finanzielle Belastung dar. Auf Anfrage der Republik schreibt der Kanton Waadt, dass die Regierung deshalb beschlossen habe, einen eigenen Tarif zu berechnen, basierend auf den Kosten­daten des kantonalen Labors im Universitäts­spital Lausanne. «Für den Preis haben wir die Kosten für die Geräte, die Labor­reagenzien und den tatsächlichen Zeit­aufwand für die Durchführung der Analyse berücksichtigt.»

Würde auch der Bund zum welschen Tarif abrechnen, würde das Dutzende Millionen Franken einsparen. Doch das Bundes­amt für Gesundheit hält nichts von dieser Idee. Ein BAG-Sprecher schreibt, dass der Kanton Waadt von sehr grossen Test­serien ausgegangen sei und keine Fix­kosten mitgerechnet habe. «Der Tarif von 52 Franken ist nicht einmal für die preis­günstigsten Analysen kosten­deckend.» Und auch der oberste Schweizer Medizin­laborant Willi Conrad sagt: «Die Labors in der Romandie konnten mit diesem Preis nicht mehr ohne Verluste arbeiten.»

Die Kantone Wallis und Genf allerdings sahen das anders. Sie übernahmen den Tarif ihres Nachbar­kantons und vergüteten die Proben ebenfalls nur noch zum Lausanner Ansatz. Das Durch­einander war damit perfekt.

Schuld daran ist das BAG, das für die Corona-Analyse nie einen eigenen Tarif berechnet hat. Das zeigen Recherchen der Republik.

Streng vertraulich

Die wichtigste Rolle bei der staatlichen Tarifierung im Gesundheits­wesen spielt die Eidgenössische Kommission für Analysen, Mittel und Gegenstände (EAMGK). Sie besteht aus zwei Ausschüssen, wovon einer für die Labor­tarife zuständig ist. Seine gesetzlich definierte Haupt­aufgabe: Er muss die vom BAG festgelegten Labor­tarife überprüfen und Preis­empfehlungen abgeben.

Im Ausschuss sitzen zehn vom Bundes­rat ausgewählte Personen aus der Privat­wirtschaft und von den Universitäten. Ausser­ordentlich gut vertreten sind die Labor­vertreter – fünf Kommissions­mitglieder arbeiten entweder in privaten oder öffentlichen Laboratorien. De facto mache das Bundes­amt für Gesundheit, was die Kommission empfehle, sagen mehrere Quellen aus dem Umfeld des BAG unabhängig voneinander.

Weil die Beratungen streng vertraulich sind, weiss niemand so genau, wie die Tarife zustande kommen. Da das Öffentlichkeits­gesetz aber auch für ausser­parlamentarische Kommissionen gilt, hat die Republik nun in einige der Protokolle Einblick erhalten. Daraus geht hervor, dass das BAG bei der Reduktion des Corona-Tarifs eine Berechnung für die Chlamydien-Analytik übernommen hat, anstatt einen eigenen, auf die Corona-Analysen zugeschnittenen Preis zu berechnen. Beim Chlamydien-Test handelt es sich um einen Nachweis, bei dem die sexuell übertragbare Geschlechts­krankheit ebenfalls mittels PCR-Verfahren ermittelt wird, aber normaler­weise mit viel geringerem Test­volumen als bei der Corona-Analytik.

Per Mehrheitsentscheid stimmte die EAMGK dem BAG-Vorschlag zu und gab eine entsprechende Empfehlung an den Bundes­rat ab. Sie tat dies, obwohl eines der drei unterlegenen Kommissions­mitglieder in einer Stellung­nahme moniert hatte, die beiden Analysen seien überhaupt nicht miteinander vergleichbar; die Corona-Analytik sei viel aufwendiger und deshalb kost­spieliger. Dieselbe Person beschwerte sich aber vor allem auch über das gewählte Preis­findungs­verfahren: «Dies entspricht nicht den Vorgaben des BAG, wie neue Analysen bewertet werden müssen.»

Die Laborvertreterinnen finden die Preise für die Corona-Analytik zu tief, andere halten sie angesichts des gewaltigen Test­volumens für viel zu hoch. Mit einem auf die Test­menge und auf die tatsächlichen Gestehungs­kosten der Corona-Analyse zugeschnittenen Tarif hätte man das Chaos verhindern können.

Das Gesetz schreibt vor, dass die vom Bund gelisteten Analysen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein müssen. Nach diesen Grund­sätzen muss das BAG die jeweiligen Tarife festlegen. Das sei bei den Corona-Tests aber nicht geschehen, sagt auch der Gesundheits­experte und Rechts­anwalt Andreas Faller: «Offenbar hat das BAG zunächst eine Annahme getroffen, die dann, wiederum ohne saubere Über­prüfung, massiv reduziert wurde – so legt man keine Tarife fest.»

Faller war zwischen 2010 und 2012 selbst Vize­direktor beim Bundes­amt für Gesundheit, wo er unter anderem die EAMGK präsidierte. Er gesteht seinem ehemaligen Arbeit­geber zwar zu, dass der Zeit­druck in einer Pandemie hoch sei, sagt aber: «Auch wenn man ein Haus schnell bauen muss, sollte man sauber arbeiten. Sonst kommen nachher Mängel zum Vorschein.»

Das Massen­geschäft im Preisbiotop

Mit dem Beschluss, ab dem 25. Juni die gesamten Kosten der Tests zu übernehmen, zog der Bundes­rat vorerst einen Schluss­strich unter die Tarif­kontroversen. Beziehungs­weise: Er legte die Kosten auf die Steuer­zahlerinnen um. Die Kantone und die Kranken­kassen, die bis zuletzt auf weitere Tarif­reduktionen gepocht hatten, waren aus dem Spiel; sie mussten keine Tests mehr bezahlen. Der Druck war weg.

Seither gilt der Höchst­preis von 119 Franken pro Analyse für die ganze Schweiz und alle Labors: Zuzüglich zu den 95 Franken vergütet der Bundesrat pauschal 24 Franken Administrations­kosten für jeden Test. (Dieser Zuschlag galt schon vorher, wurde aber pro Auftrag abgerechnet – also für mehrere Analysen gleichzeitig.)

Ist das jetzt der «richtige» Preis? Nach wie vor bestehen erhebliche Zweifel. So sagt Rudolf Hauri, der Präsident der Kantons­ärzte, der Bund müsse seinen Tarif möglichst bald erneut überprüfen. Mit mehreren tausend Tests pro Tag handle es sich bei den Corona-Analysen mittlerweile um ein Massen­geschäft – und Massen­geschäfte hätten die Eigenart, dass ihre Kosten mit steigender Nachfrage abnehmen würden.

Diese Eigenart war auch der Grund, wieso Deutschland den Preis einer Corona-Analyse im Juni noch einmal stark reduziert hat. Mittler­weile kostet sie im Nachbar­land umgerechnet noch 46 Franken. Der mächtigste deutsche Krankenkassen­vertreter – Martin Litsch, Vorstands­vorsitzender des AOK-Bundes­verbands – sagt sogar, es gebe Hinweise, dass die Labors auch bei einem Testpreis von 15 Euro noch Gewinn erzielen könnten.

Eine erneute Preis­überprüfung wäre auch deshalb sinnvoll, weil die Test­zahl in der Schweiz bald noch einmal in die Höhe schnellen dürfte. Zwar hat der Bund bisher kein Test­obligatorium bei Einreisen aus Risiko­ländern verordnet, doch könnte sich das schnell ändern. Zudem wird die Grippe­saison das Test­volumen noch einmal erhöhen. Sobald die Labors mehr als 50’000 Tests pro Woche analysieren müssten, reichte der dafür vorgesehene Nachtrags­kredit von 288 Millionen Franken kaum mehr aus. Bereits mit einer Preis­reduktion von 20 Franken pro Test könnte die Schweiz beim heutigen Test­volumen gegen 20 Millionen einsparen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Labor­tarife im Schweizer Gesundheits­wesen für Ärger sorgen. 2018 bezahlten die Kranken­kassen über 1,5 Milliarden Franken für Labor­analysen. Weil die Ausgaben stetig wachsen, beklagen sich Kranken­kassen und Patienten­schützer seit Jahren über die langwierige und intransparente Tarifierung des Bundes. Sie fordern einen Ausland­preis­vergleich, damit die Wirtschaftlichkeit von Analysen gefördert wird.

Das Problem bei staatlich verordneten Preisen: Die Labors haben keinerlei Anreize, die Tarife zu unterbieten. Streng betriebs­wirtschaftlich betrachtet ist jedes Labor dumm, das seine Analysen zu tieferen Preisen abrechnet, als es der Bund vorgibt. Ausserdem gilt in der Schweiz das Territorial­prinzip: Ärztinnen und Spitäler dürfen ihre Proben nicht im Ausland analysieren lassen, ansonsten bezahlen die Kranken­kassen keinen Rappen.

Die Schweiz sei in einem Preis­biotop gefangen, kritisiert Preis­überwacher Stefan Meierhans. Das sorge im Krisen­fall zwar für Resilienz, treibe die Kosten aber von Jahr zu Jahr mehr in die Höhe. «Solange der Bund das Territorial­prinzip nicht aufgeben will, wäre es umso wichtiger, dass der Staat die Höchst­preise regel­mässig auf ihre Wirtschaftlichkeit überprüft und die Tarife mit einheitlichen, transparenten Methoden und einem Ausland­vergleich berechnet», sagt er. «Das geschieht heute viel zu wenig.»

Immerhin: Es scheint, als hätte Gesundheits­minister Berset seinen Preis­überwacher erhört – diesen Frühling hat das BAG eine Revision der Tarife in Angriff genommen. Mitten in der Pandemie will das Bundes­amt die Preise für Labor­analysen überprüfen.

Am besten fängt es gleich beim Tarif für die Corona-Analysen an.

Hinweis: Der Präsident des FAMH, des Verbands der medizinischen Laboratorien der Schweiz, heisst Willi Conrad – nicht Conrad Willi, wie von uns in einer früheren Version geschrieben. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

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