Am Gericht

Verliebt, verlobt – verklagt

Wer einen Sans-Papiers heiraten will, steht vor einem behördlichen Hindernislauf. Und muss mit einer Anklage rechnen. Eine Wahlbündnerin lässt sich davon nicht abschrecken.

Von Daria Wild, 05.08.2020

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Seit das Konkubinats­verbot in allen Kantonen abgeschafft worden ist, zuletzt 1996 im Wallis, werden Menschen in der Schweiz nicht mehr daran gehindert, zusammen­zuleben – egal, wie sie ihre Beziehung regeln. Doch für jene ohne Aufenthalts­bewilligung gilt dies nicht. Das hat Konsequenzen für alle Beteiligten: Wer mit einem Sans-Papier zusammenwohnt oder ihm nur schon ein Logis verschafft, kann mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

Förderung unrechtmässigen Aufenthalts lautet der Tatbestand, den Artikel 116 des Ausländergesetzes regelt: Wer einer Ausländerin oder einem Ausländer die rechtswidrige Ein- oder Ausreise oder den rechtswidrigen Aufenthalt in der Schweiz erleichtert oder vorbereiten hilft, riskiert eine Freiheits­strafe bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe.

Doch was gilt, wenn die Betroffenen verlobt sind und ihre Ehe­schliessung vorbereiten wollen?

Ort: Regionalgericht Plessur
Zeit: 29. Juli 2020, 14 Uhr
Fall-Nr.: 515-20-18
Thema: Förderung unrechtmässigen Aufenthalts

Das Ungleichgewicht im Gerichts­saal wirkt erschlagend. Auf der einen Seite ein massiver, geschwungener Holz­tisch, drei Richter älteren Semesters mit eisernen Blicken und Anzügen in Beige und Grau, hinter ihren Rücken ein Gemälde, umrahmt von zwei goldenen Lampen. Wohlklingend auch die Namen des Kollegiums: Raschein, Schwendener, Saluz. Nur die Plexiglas­scheiben stören das imposante Arrangement ein wenig.

Direkt gegenüber: ein einsamer, leerer Stuhl. Ohne Pult, ohne Lampen, ohne gar nichts.

Christa Schneider (Name geändert) nähert sich ihm zögernd, lehnt ihre Tasche, aus denen zwei schmale Ordner hervorlugen, an den Stuhl und fragt: «Und ich sitze die ganze Zeit hier vorne?»

Schneider erscheint als einzige Prozess­partei vor dem Regional­gericht Plessur, das sich mitten in der Churer Innenstadt in einem unauffälligen Büro­gebäude befindet. Staats­anwalt Aluis Candinas, der die Anklage verfasst hat, verzichtet auf eine Teilnahme. Und Schneider, die Beschuldigte, bringt zwar eine Freundin, einen Freund und ihren Mann mit, aber keine Anwältin. Wochen­lang hat sie ähnlich gelagerte Fälle studiert, Kantons- und Bundes­gerichts­urteile, mit Leuten aus ihrem Umfeld gesprochen, sich sogar überlegt, einen Prozess zu besuchen, «um zu sehen, wie das abläuft». Sie will sich selber verteidigen. Nicht unbedingt, weil sie sich keinen Anwalt leisten kann – sondern, weil sie keinen will.

Denn Christa Schneider geht es ums Prinzip. Sie rechne mit einem Schuld­spruch, sagt sie bei einem Gespräch vor dem Prozess. Aber sie sei bereit, bis vor Bundes­gericht zu ziehen.

Noch bis im Sommer vor zwei Jahren hatte Schneider, Mitte 40, Sekundar­lehrerin, Wahl­churerin und Katzen­liebhaberin, nichts mit der Juristerei zu tun. Sie unterrichtet, pflegt ihre drei Haus­katzen, tanzt. Im Mai 2018 lernt sie in einer Tanz­schule ihren heutigen Ehemann kennen, die beiden verlieben sich und beschliessen rasch, zu heiraten. Ein paar Wochen später wohnen sie zusammen. Vor Gericht wird Schneider sagen: «Es war ein Gefühl, wie nach Hause zu kommen.»

Im Spätsommer 2018 beginnt Schneider, sich um die Hochzeit zu kümmern. Inzwischen weiss sie, dass das nicht so einfach wird. Ihr Verlobter lebt ohne Aufenthalts­bewilligung in der Schweiz, und ohne Aufenthalts­bewilligung können die beiden nicht heiraten. So weit, so verständlich. Doch Schneider entdeckt bei ihrer Recherche auch Artikel 116 im Ausländergesetz, der die «Förderung des rechtswidrigen Aufenthalts» regelt. Und ist plötzlich unsicher.

Macht sie sich womöglich strafbar, wenn ihr Verlobter bei ihr wohnt? «Erleichtert» sie damit – so wird es im Artikel formuliert – «einem Ausländer den rechts­widrigen Aufenthalt»? Müsste sie also, um einer Strafe zu entgehen, verbergen, dass sie zusammen­wohnen? Schneider bespricht sich mit einem befreundeten Juristen, der sie beruhigt: Bei einem verlobten Paar sei das eine ganz andere Geschichte, sie mache sich nicht strafbar. Schneider ist erleichtert und schiebt Artikel 116 beiseite. Wichtig ist zu diesem Zeit­punkt vor allem der Aufenthalts­status ihres Verlobten, der als Damokles­schwert über ihrer Beziehung schwebt. Jeden Tag könnte es vorbei sein.

Wer sich illegal in der Schweiz aufhält und heiraten möchte, kann ein Gesuch um die Erteilung einer Aufenthalts­bewilligung zur Vorbereitung der Ehe­schliessung stellen. Doch Schneider befürchtet, dass das Gesuch von den Behörden abgelehnt wird. «Sans-Papiers stehen unter dem General­verdacht der Schein­ehe», wird Schneider später vor Gericht sagen. «Und wir haben zusätzlich das Pech eines grossen Alters­unterschieds.» Nicht zusammenzuleben, vermutet sie, würde den Verdacht auf eine spätere Schein­ehe noch mehr bestärken. Schneider zieht folgende Schlüsse daraus: «Die Aufenthalts­bewilligung zur Ehe­schliessung ist in einem Fall wie dem unseren quasi an die Bedingung geknüpft, dass wir zusammen­leben», wie sie im Gespräch darlegt.

Es wird ein veritabler Hindernis­lauf, den das Paar absolvieren muss, um zu heiraten. Als die beiden die Aufenthalts­bewilligung zur Ehe­vorbereitung im März 2019 beantragen, weist das kantonale Migrations­amt den Bräutigam postwendend ausser Landes und zeigt beide an – ihn wegen illegalen Aufenthalts und sie wegen Förderung des illegalen Aufenthalts. Die Begründung, unter anderem: Sie seien nicht verheiratet. «Das ist, als würde ich meinen Schülern den Unterricht verweigern, weil sie Schüler sind und noch keinen Abschluss haben», wird Schneider später vor Gericht sagen.

Das Paar wehrt sich gegen die Wegweisung mit einer Beschwerde, doch das Verwaltungs­gericht stützt den Entscheid des Migrations­amts. Erst das Bundes­gericht erteilt der Beschwerde die aufschiebende Wirkung und ermöglicht dadurch die Heirat.

Doch da ist immer noch Artikel 116 des Ausländer­gesetzes. Der Churer Staats­anwalt sieht die Sache nämlich anders als Schneiders befreundeter Jurist und verfasst einen Straf­befehl, den er im Oktober 2019 verschickt. Er beschuldigt Schneider der Förderung des rechts­widrigen Aufenthalts und spricht eine Strafe von 20 Tages­sätzen à 220 Franken bedingt aus, bei einer Probe­zeit von zwei Jahren. Plus eine Busse von 800 Franken. Schneider erhebt Einsprache. Im April 2020 trifft die Anklage ein.

Candinas wirft Schneider vor, sie habe ihren Verlobten wissentlich und willentlich bei sich beherbergt, keine Abklärungen getroffen und damit zumindest in Kauf genommen, dass er über kein Visum verfüge. So steht es in der Anklage­schrift. Zu prüfen sei, ob diese Beherbergung «eine behördliche Intervention erschwerte».

Der Staatsanwalt führt weiter aus, der Mann sei nicht unter ihrer Post­adresse zu erreichen gewesen. Ausserdem habe Schneider bei der Einvernahme bei der Polizei ausgesagt, sie wisse jetzt gerade nicht, wo er sei, und wolle das auch nicht wissen. Der Vorwurf lautet weiter, der Mann habe erst im März 2019 ein Gesuch um Kurzaufenthalts­bewilligung gestellt und sie wiederum habe erst im Juni 2019 der Polizei mitgeteilt, er sei nun zu einer Befragung bereit.

Wird das eine Rolle spielen, an diesem Prozess? Ist das relevant? Sind das taugliche Beweise?

Die beschuldigte Lehrerin sitzt auf ihrem Stuhl und erzählt, wie sie den Mann kennen- und lieben gelernt hat. Es ist die Geschichte ihrer Beziehung. Die Richter Raschein, Saluz und Schwendener hören ihr aufmerksam zu.

«Das war jetzt die Gefühls­ebene, aber irgendwann bespricht man doch das Organisatorische», hakt Gerichts­präsident Raschein nach und lenkt die Befragung darauf, warum der Aufenthalts­status des Verlobten nicht früher ein Thema gewesen sei. Sie hätten weiss Gott anderes zu tun gehabt in den ersten drei Monaten ihrer Beziehung, sagt Schneider.

Nach der Befragung setzt sie zum Plädoyer an, bleibt dabei auf ihrem Stuhl sitzen und spricht mit Nachdruck, auch wenn ihr die Stimme manchmal zu versagen droht. «Wer verlangt von mir, dass ich aktiv mein Beziehungs­leben kaputt­mache, indem ich meinen Verlobten bei der Polizei verzeige? Die Staats­anwaltschaft sagt: ‹Wer nicht nach der Aufenthalts­bewilligung fragt, nimmt den illegalen Aufenthalt in Kauf. Und jeder weiss, dass sich Ausländer von ausserhalb der EU nicht ohne Weiteres für längere Zeit in der Schweiz aufhalten dürfen.› Das finde ich eine heftige Aussage. Das würde ja bedeuten, dass alle Ausländer von ausserhalb der EU potenziell illegal in der Schweiz sind.»

Sie habe den Aufenthalts­status ihres Partners nicht zu kontrollieren, sie habe in einer Partnerschaft eine Beistands­pflicht, keine Bevormundungs­pflicht, und es widerspreche dem Vertrauens­verhältnis in einer Beziehung, «diese Frage» zu stellen, sagt Schneider und zitiert ein entsprechendes Kantons­gerichts­urteil. Schneider hat sich gut vorbereitet. Und dazu kommt die Dringlichkeit der Direktbetroffenen.

«War das jetzt schon ein Plädoyer?», fragt sie irgendwann. Die eisernen Mienen der Richter sind zu diesem Zeitpunkt längst erweicht. Der Gerichts­präsident nickt. «Darf ich trotzdem weiterfahren? Ich beanspruche hier ja ihre Zeit», fragt Schneider. Raschein, inzwischen butterweich: «Dafür sind wir da.»

Sie habe, ergänzt Schneider, alle Alternativen durchgedacht und keine andere Möglichkeit gesehen. Eine Ausreise ihres Verlobten hätte bedeutet, die Beziehung – wenn auch nur vorübergehend – nicht führen zu können. Sie hätte zudem die Beziehung wegen des Scheinehe-Verdachts auch dauerhaft gefährdet. Eine gemeinsame Reise nach Benin wäre ihr nicht möglich gewesen, aus Verantwortung ihrem Arbeit­geber und ihren Katzen gegenüber. Sie habe, sagt Schneider beim Schluss­wort, das Gefühl, doppelt bestraft zu werden: ein Mal durch die Kosten, die ihr der Rechts­weg rund um die Aufenthalts­bewilligung beschert hatte, ein zweites Mal fürs Zusammen­leben mit ihrem Verlobten.

Die drei Richter ziehen sich zur geheimen Urteils­beratung zurück, und nur fünfzehn Minuten später werden die Beschuldigte und die Zuschauer wieder in den Saal gebeten. Nun geht es sehr schnell. Christa Schneider wird freigesprochen. Es läge weder ein Eventual­vorsatz noch Vorsatz noch eine Behinderung der behördlichen Tätigkeit vor.

«Das wars?», fragt Schneider, perplex darob, nicht weiter­kämpfen zu müssen. Das Urteil könne von der Staats­anwaltschaft noch weitergezogen werden, erwidert Raschein. Und die Freigesprochene weiter: «Werde ich darüber informiert?» Ja, das werde sie, erklärt ihr der Gerichts­präsident. Er denke jedoch nicht, dass die Staats­anwaltschaft diesen Aufwand betreiben werde.

Aber: Man wisse ja nie.

Illustration: Till Lauer

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