In vielem näher als gedacht: Donald Trump (auf dem Poster) und George W. Bush (im Spiegelbild). Scott McIntyre/NYT/Redux/laif

Der ewige Donald

Warum Trumps Amerika schon vor zwanzig Jahren begann. Ein brillanter Essayband von Eliot Weinberger zeigt: Wer weiter zurückblickt, sieht mehr.

Von Daniel Graf, 31.07.2020

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Zumindest eines kann man Donald Trump nicht vorwerfen: dass er dem Buchmarkt zu wenig Stoff bieten würde. Und im Wahlkampf­jahr erreicht die Trump-Exegese noch einmal einen neuen Peak.

Ende Juni ist in den USA nach längerem juristischem Vorspiel das White House memoir von Trumps ehemaligem Sicherheitsberater John Bolton erschienen. Nun erobert Trumps Nichte Mary L. Trump die Bestseller­listen. Wie zuvor schon bei Bolton hat auch bei ihr das englische Original selbst in Deutschland die Top 10 erreicht, noch bevor Mitte August die deutsche Übersetzung erscheint. Kein Wunder bei so einem Untertitel: «Wie meine Familie den gefährlichsten Mann der Welt erschuf».

Gut möglich allerdings, dass zeitgleich mit sehr viel weniger Aplomb ein Band erschienen ist, aus dem sich Grund­legenderes lernen lässt als aus all den Trump-Enthüllungs­büchern zusammen. Zumindest, wenn man sich mehr für Trumps Amerika interessiert als für den Egomanen im Weissen Haus.

«Neulich in Amerika» heisst das Buch, Eliot Weinberger sein Autor, und während dieser Name in Europa nach wie vor nur einem vergleichs­weise kleinen Publikum etwas sagt, ist er für Kennerinnen seines Werks längst so etwas wie ein Garantie­schein auf intellektuelle Exzellenz. Weinberger ist der vielleicht brillanteste literarische Essayist der Gegenwart, und dass er zugleich einer der originellsten politischen Beobachter der USA ist, hat viel damit zu tun, dass er auch als politischer Kommentator immer in erster Linie Literat bleibt.

Dem kleinen, sehr feinen Berliner Berenberg-Verlag ist es zu verdanken, dass man nun zehn von Weinbergers USA-Essays aus den letzten zwanzig Jahren in einem Band auf Deutsch versammelt findet: die eine Hälfte zum Amerika der Bush-Administration, die andere zu den Trump-Jahren, kulminierend in einem Protokoll des Regierungs­versagens während der Covid-19-Pandemie.

Der Titel «Neulich in Amerika» ist schon die erste bitter-ironische Pointe dieses Buches, weil Weinbergers Essays aus der Bush-Präsidentschaft – die zu lesen heute womöglich noch verstörender ist als damals – dem verführerischen Gedanken eine Abfuhr erteilen, wonach der Wahnsinn der Trump-Jahre ein urplötzlicher System­ausfall ohne jede Präzedenz sei. Andererseits ist die Zeit­angabe «neulich» nur konsequent für einen Autor, dessen Denken normaler­weise einen natur- und menschheits­geschichtlichen Horizont von mehreren tausend Jahren durchmisst.

So macht gerade der Vergleich mit Weinbergers früheren Essay­bänden zweierlei deutlich: warum der neue Band eine Sonder­stellung in seinem Werk­verzeichnis einnimmt; und weshalb das Buch aus der Fülle der Trump-Literatur herausragt.

Wer in einem Weinberger-Band liest, weiss nie, wo er sich im nächsten Moment wiederfindet: im mittel­alterlichen Indien oder in einem daoistischen Traktat über die Kunst des Sitzens, bei aztekischen Kulten oder assyrischen Zauber­formeln, bei den Zoroastriern oder beim Ruf des Langschwanz­kuckucks. Kaum ein Kodex ist zu entlegen, keine Quelle zu apart, als dass Weinberger sie nicht zum Ausgangs­punkt einer staunens­werten Erkenntnis machen könnte. Wie viele andere Autoren gibt es, bei denen selbst das Lesen der Recherche-Bibliografie zu einem Ereignis werden kann?

Spätestens mit dem Band «Vogel­geister» hat Weinberger seine Essayistik so weit in einen genuin poetischen Denk­stil überführt, dass man ihn auch einen Dichter ohne lyrisches Werk nennen könnte – wären da nicht seine Über­setzungen der Gedichte von Octavio Paz, die man als integralen Bestand­teil des eigenen Schreibens begreifen muss.

Zumal das Übersetzen vielleicht die zentrale Denk­figur in Weinbergers kosmo­politischer Poetik ist. Sein Essay «Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten», der letztes Jahr auf Deutsch erschien (im Original 1987), ist eine Hommage an die Kunst der Über­setzung und so etwas wie eine angewandte Ethik des Sprach- und Kultur­transfers. (Hier empfiehlt Mely Kiyak das Buch im Republik-Buchclub.)

Nun also «Neulich in Amerika», fokussiert auf das eigene Land und die letzten zwei Jahrzehnte. Demnach ein scheinbar untypischer Weinberger-Band – und doch trägt er auf jeder Seite unverkennbar die Hand­schrift seines Autors.

Schon der Beginn: Weinberger steigt nicht direkt mit der amerikanischen Gegenwart ein. Sondern, ausgerechnet, mit «Ratschlägen für Washington aus dem Alten China». Weinberger hat das «Huainanzi» ausgewertet, ein 900 Seiten starkes Kompendium über die Staats­kunst aus dem zweiten Jahr­hundert vor Christus. Und legt seinem Staats­chef nun ein paar ausgewählte Lehren aus diesem 2000 Jahre alten Opus vor. Zum Beispiel diese:

Der Herrscher sollte Schwierig­keiten erwägen, bevor sie auftreten, sich gegen Unheil wappnen, bevor es eintrifft, sich vor Verfehlungen hüten, auf Kleinigkeiten achtgeben und Gelüsten nicht freien Lauf lassen.

Oder diese:

Ein Staat wird erhalten von Menschlichkeit und Recht­mässigkeit. Mangelt es einem Staat an Recht­mässigkeit, wird er, mag er auch gross sein, fraglos zugrunde gehen.

Das ist ein spielerisches Intro zu einem zutiefst verstörenden Buch. Genau wie Weinberger in den literarischen Essays Fund­stück um Fund­stück pointillistisch aneinander­reiht, bis sich zahlreiche Licht­punkte zu einem Gesamt­bild verdichten, so entstehen auch seine Chroniken und Protokolle: collagiert aus Zeitungs­meldungen, Tweets, Statistiken und Zitaten. Nur ist das Resultat nicht Staunen wie bei den kultur­historischen Expeditionen, sondern Fassungslosigkeit.

Absatz für Absatz konturiert sich ein Bild des Grauens heraus, allerdings entsteht es ganz ohne jede Empörungs­geste, ohne kommentierende Wertungen des Autors. Es sind einfach nur sorgfältig arrangierte snippets aus der Realität. Wo sich die übliche Trump-Literatur zuverlässig in Enthüllungs­pathos und Skandalisierungs­sound ergeht, vertraut Weinberger ganz auf die Selbst­evidenz des Dokumentarischen, das keine rhetorischen Geschmacks­verstärker braucht – und umso wirkungs­voller ist, je mehr es sich sowohl der reinen Personality­show als auch der sprachlichen Eskalations­logik entzieht. Ihre Kraft beziehen diese Erzählungen allein aus der unerbittlichen Material­fülle und der Einsicht, dass sich der aktuell zu beobachtende politische Nieder­gang einer grossen Nation eben keineswegs allein dem amtierenden Horror­clown anlasten lässt.

Natürlich, Weinbergers Protokolle taugen auch als Materialien für ein Psychogramm:

In dem Kranken­haus in El Paso, das er [nach dem rechts­extremen Anschlag im August 2019] besucht, weigern sich alle Verletzten, die dort behandelt werden, mit ihm zu sprechen. Im Gespräch mit den Ärzten und Pflegern attackiert er O’Rourke [den demokratischen Präsidentschafts­kandidaten] und prahlt von den Massen bei seiner Kund­gebung im Februar (...). Neben einem kleinen Jungen, dessen Eltern bei dem Versuch, ihn zu schützen, gestorben sind, posiert er lächelnd mit hochgerecktem Daumen.

Aber die Wucht dieser Prosa besteht gerade darin, dem Bann von Notorious Donald zu entgehen – und viel weiter zu blicken.

«Wen sie hätten nehmen können» ist so ein Text. Eliot Weinberger geht noch einmal Trumps damalige republikanische Gegen­kandidaten (und ein paar ihrer Lieblings­äusserungen) durch; und wenn man diesen Text gelesen hat, ist man sich nicht einmal mehr sicher, dass Trump schon das grösst­mögliche Übel war. «Zehn typische Tage in Trumps Amerika» dokumentiert Ereignisse im September 2018, «Ein Sommer in Amerika» die Zeit zwischen dem 1. Juni und dem 1. September 2019. Und was sich neben der endlosen Reihe an Skandalen – die man noch nirgendwo in so nüchterner Verdichtung aufgelistet sah – am stärksten ins Gedächtnis hakt, sind Szenen wie diese, fernab des Weissen Hauses und doch ganz nah bei Trump:

Grenzbeamte lassen einem drei­jährigen Mädchen namens Sofi die Wahl, von seiner Mutter oder seinem Vater getrennt zu werden. Als die Beamten seinen Vater wegführen, bricht das Kind in Tränen aus. Die Beamten schelten es: «Du hast doch gesagt, mit Mom.»

Dann eine kleine Meldung aus einem tief gespaltenen Land:

Fünf Prozent der regelmässigen Zuschauer von Fox News glauben, dass «der weisse Nationalismus eine sehr ernste Bedrohung» ist. Bei denen, die Fox News nicht sehen, sind es 72 Prozent.

Und doch: Im Essay «Wer alles nicht für Trump stimmen wird» vom Oktober 2016 ist auch ein so scharf­sinniger Geist wie Weinberger dabei zu beobachten, wie er vom eigenen Optimismus und vom Zutrauen in die menschliche Vernunft irregeführt wird. Heute wissen wir besser, dass bei Wahlentscheidungen nicht allein Argumente den Ausschlag geben. Dass dennoch auch dieser Text noch heute unbedingt lesens­wert ist, sagt viel über die Qualität dieser Essays.

Zu einem grossen Buch über amerikanische Kontinuitäten aber wird «Neulich in Amerika» dadurch, dass die Kunst der Konstellation, die Weinbergers Essays im Einzelnen prägt, auch die Komposition des Bandes ausmacht. Indem hier, ganz undialektisch, die Ära Bush und die Ära Trump nebeneinander­gestellt werden, ruft «Neulich in Amerika» längst vergessene Konstanten in Erinnerung. Weinbergers Nach­erzählung des Wahl­krimis um George W. Bush und Al Gore zeigt ein Land in den Fängen von Korruption, Macht­gier und gefährdeter Rechts­staatlichkeit – vier ganze Amts­zeiten bevor Donald Trump sich an das Aushöhlen der Institutionen machen sollte.

Bestechend an den Essays über die Bush-Jahre aber ist vor allem die Klarheit, mit der sie das Politische, besser: das zutiefst Ideologische im vermeintlich Alltäglichen sichtbar machen. «Die Republikaner: ein Prosa­gedicht» ist einer dieser Essays überschrieben, und wieder ist in den kurzen Szenen keine erklärende Erzähl­stimme zu hören; vielmehr entsteht die Erkenntnis ganz aus der Mischung von Dokumentation und erzählerischer Ironie, die jedoch keine Zutat von aussen ist, sondern lediglich die Abgründe in der realen Szenerie selbst vor Augen führt:

Die Republikaner haben einen Sinn für Geschichte. Sonny Perdue, der Gouverneur von Georgia, feierte seinen Wahl­sieg und das Ende der demokratischen Herrschaft, indem er die Worte Martin Luther Kings intonierte: «Endlich frei, endlich frei, dem Allmächtigen sei Dank, wir sind endlich frei!» Er hielt seine Rede vor einer grossen Konföderierten­fahne.

Oder passend zur Jahreszeit:

Die Republikaner mögen Eis, aber nicht das von Ben & Jerry’s, bekannt für deren Unter­stützung progressiver Anliegen. Also haben sie ihre eigene Marke kreiert, Star Spangled Ice Cream, bei dem 19 Prozent des Gewinns an konservative Einrichtungen gehen sollen. Die Geschmacks­richtungen heissen etwa «I Hate the French Vanilla», «Gun Nut», «Smaller GovernMINT», «Iraqi Road» und «Choc & Awe».

Wenn Donald Trump einmal ebenso Geschichte ist wie George W. Bush, werden es Texte sein wie die von Eliot Weinberger, mit denen man sich das Unbegreifliche begreiflich zu machen sucht. Bis dahin bleibt der einzige Trost, den dieser grossartig-schauder­hafte Band bereithält: Solange Amerika solche Essayisten hat, ist nicht alles verloren.

Zum Buch

Eliot Weinberger: «Neulich in Amerika». Heraus­gegeben von Beatrice Fassbender. Aus dem Englischen von Beatrice Fassbender, Eike Schönfeld und Peter Torberg. Berenberg-Verlag, Berlin 2020. 272 Seiten, ca. 23 Franken.

Mehr von Eliot Weinberger – eine Auswahl

«Kaskaden». Essays. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003. 346 Seiten, ca. 20 Franken.

«Das Wesentliche». Aus dem Englischen von Peter Torberg. Berenberg-Verlag, Berlin 2008. 216 Seiten, ca. 34 Franken.

«Vogelgeister». Aus dem Englischen von Beatrice Fassbender. Berenberg-Verlag, Berlin 2017. 144 Seiten, ca. 31 Franken.

«Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten». Aus dem Englischen von Beatrice Fassbender. Mit einem Nachwort von Octavio Paz. Berenberg-Verlag, Berlin 2019. 112 Seiten, ca. 26 Franken.

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