Kiyaks Exil

Die Polizei, dein Feind und Risiko

Der Skandal um rechtsextreme Umtriebe in der deutschen Polizei weitet sich aus. Wieweit muss das Bild vom «Freund und Helfer» korrigiert werden?

Von Mely Kiyak, 21.07.2020

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Vor vielen Jahren, wir, die Kinder, waren noch klein, verliess mein Bruder immer wieder nachts sein Bettchen. Er war ein agiles Kerlchen, tagsüber und auch in der Nacht. Er lachte sich sogar noch im Bett kaputt, fing an zu singen oder fummelte am Decken­zipfel, bis der Stoff dünn war und riss. Alle seine Bett­decken hatten gestopfte Ecken. Meine Mutter legte ihn zum Schlafen abends in eine Art Schlaf­sack, weil er sich die Decke immer abstrampelte.

Es war ein Morgen wie jeder andere auch. Mein Vater hatte Frühschicht in der Kupfer­draht­fabrik, wo er Drähte für die Luft- und Raumfahrt­industrie lackierte. Die Drähte waren dünn wie ein Haar oder dick wie eine Bockwurst. Manchmal brachte er uns eine kleine Spule Draht mit. Wir waren sehr stolz, dass er so etwas konnte. Er stand um halb fünf Uhr morgens auf, setzte sich einen Tee auf, da klingelte es an der Tür. Er wunderte sich nicht.

Meine Eltern waren die Einzigen in der niedersächsischen Kleinstadt, die radebrechend Deutsch sprachen und Übersetzungen für Asyl­bewerber auf Behörden oder bei Ärzten besorgten. Manchmal klingelte nachts ein kurdischer, jesidischer oder türkischer Mann aufgeregt, um meine Mutter zur Entbindung seiner Frau ins Kreis­krankenhaus mitzunehmen. Einmal musste sie nachts mit ihrer Nachbarin in die Leichen­halle, um deren Sohn zu identifizieren, der bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Es klingelte also oft bei uns, zu jeder Tages­zeit. Dieses Mal aber war ein Polizist an der Tür, der durch die Gegensprech­anlage rief: Herr Kiyak, vermissen Sie was?

Der Polizist meldete sich mit seinem Namen. Seine Tochter und ich gingen in die gleiche Klasse. Mein Vater lachte und sagte: Franz, jeder vermisst etwas in seinem Leben.

Franz kam die Treppen­stufen hoch. Mittler­weile war auch meine Mutter wach und wunderte sich, was der Polizist den Eltern mitbrachte, denn alles, was sie vermissten, befand sich in einem anderen Land.

Er brachte meinen Bruder mit, schlafend.

Der Polizist hatte sich den Drei­jährigen über die Schulter gelegt, der Schlaf­sack baumelte am kleinen Körper herab.

Mein Bruder schlafwandelte und muss im Schlaf erstaunliche Fähigkeiten entwickelt haben. Zum Beispiel das Tür­schloss öffnen, drei Etagen herunterlaufen und auf seinem Spaziergang nicht überfahren werden. Die Eltern waren sprachlos. Polizist Franz legte den Bruder selber ins Bett zurück, der Kerl schlief tief und fest und hatte vom nächtlichen Luftschnappen­gehen speckig glänzende rote Bäckchen.

Der Beamte erzählte. Er fuhr mit seinem Kollegen Streife, als sie an einer Litfass­säule etwas Seltsames in einem bunt bedruckten Schlaf­sack entdeckten. Ein Junge mit dunklen Locken, der sich zwar in kleinen, aber recht sicheren Schritten vorwärtsbewegte. Der Polizist erkannte den Jungen sofort, «das ist doch der kleine Kiyak!». Er vergewisserte sich in der Zentrale, ob jemand sein Kind vermisste, aber es war kein Notruf eingegangen. Er schnappte das Kind und fuhr direkt zu unserer Adresse, alles war ruhig, der Bruder hatte bloss vergessen, die Haus­tür unten zu schliessen. Die Eltern umarmten den Polizisten lange und dankbar.

35 Jahre später sass ich im Bundes­tag auf der Zuschauer­tribüne während des Bundestags­untersuchungs­ausschusses, der aufklären sollte, warum 14 Jahre lang eine bewaffnete Terror­gruppe ungehindert durch die Bundes­republik reisen und Morde in fünf Bundes­ländern verüben konnte. Warum andere Väter nicht vom Kupferdraht­lackieren, aus dem Blumen­laden, aus der Schneiderei zurück­kamen.

In den zwei Jahren, die ich in diesem Ausschuss sass, wurden unzählige Polizisten als Zeugen geladen und gaben Auskunft über ihre Ermittlungen, die sie im Prinzip goldrichtig fanden. Polizisten aus verschiedenen Sonder­einheiten und auf verschiedenen Karriere­stufen. Sie waren zufrieden mit sich. Mit ihren Verdächtigungen gegenüber den Opfern, mit ihrer Weigerung, Neonazis als Täter in Betracht zu ziehen, mit ihren Unverschämtheiten gegenüber den Hinter­bliebenen. Ich will hier nicht näher darauf eingehen, denn ich schreibe seit fast zehn Jahren über diese Zeit, die ich mit einem Wort umschreiben möchte: Erschütterung. Damals fragte sich das ganze Land: Ist die Polizei auf dem rechten Auge blind? Die Polizei ein Verdachtsfall?

Ich gehörte nie zu jenen Leuten, die die Polizei als Feind­bild betrachteten. Kam gar nicht auf die Idee, dass ein deutscher Polizist irgend­etwas anderes sein könnte als gesetzes­treu und gewissenhaft. Da, wo wir lebten, brachten Polizisten nachts umherirrende Kinder heim. Und wenn man beim Laden­diebstahl, Drogen­verticken oder anderem Blödsinn erwischt wurde, beliessen sie es bei einer Ermahnung und dem Versprechen, das man ihnen gab, so etwas ganz sicher nie wieder zu tun. Viele Klassen­kameraden entgingen auf diesem Weg einer Jugendstrafe.

Die Polizei, dein Freund und Retter.

Während ich diese Zeilen hier schreibe, erklärt sich gerade der hessische Innen­minister vor der Öffentlichkeit. Es geht um die Frage, wie es sein kann, dass seit Jahren Daten vom hessischen Polizei­computer abgefragt werden und die ausgespähten Personen anschliessend unter dem Absender «NSU 2.0» terrorisiert und mit dem Tod bedroht werden. Wie es sein kann, dass Polizisten Mitbürger zum Feind erklären. Von diesem politischen Terror betroffen sind bislang die NSU-Nebenklage­anwältin Seda Başay-Yıldız und ihre kleine Tochter («Miese Türkensau! … Als Vergeltung schlachten wir deine Tochter!») aus Frankfurt, die hessische Linken­abgeordnete Janine Wissler und die Berliner Kabarettistin Idil Baydar. Der hessische Polizei­präsident Udo Münch ist deshalb jüngst zurückgetreten. Die Bedrohungen gehen mindestens bis August 2018 zurück, da erhielt die Anwältin das erste Droh­schreiben, im März 2019 wurde das erste Mal nach Idil Baydar im Polizei­computer gesucht.

Die Polizei, dein Feind und Risiko.

Die Nordkreuz-Truppe aus Mecklenburg-Vorpommern beispiels­weise hat seit 2012 Munition aus Polizeibeständen geklaut. Bei einem der Beschuldigten, sein Alias ist «Hannibal», fanden sich neben Waffen insgesamt 60’000 Schuss Munition. Die rechts­extreme Vereinigung wurde von einem Soldaten beim Kommando Spezial­kräfte der Bundes­wehr gegründet. Dem rechts­extremen Netzwerk, das sogar verschiedene Sektionen hat (Gruppe West, Gruppe Ost usw.), gehören ausserdem der damalige Chef einer Reservisten­kompanie der Bundes­wehr an und ein ehemaliger SEK-Beamter. Es wurden Feindes­listen mit 25’000 Namen angefertigt, Lösch­kalk und Leichen­säcke gehortet.

Die deutsche Tages­zeitung TAZ recherchierte den Fall um die Nordkreuz-Truppe akribisch und übt mit ihrer Recherche («Hannibals Schattennetzwerk») seitdem kontinuierlich öffentlich Druck aus. Nicht die Polizei, das Innen­ministerium oder die Sicherheits­behörden – sondern eine kleine Genossenschafts­zeitung mit prekären Arbeits­bedingungen.

Dies sind nur zwei von zahllosen Beispielen, in der die Polizei die Demokratie im Allgemeinen und die Bürger im Speziellen nicht schützt, sondern gefährdet. Von Einzel­fällen spricht in Deutschland deshalb erst seit kurzem wirklich niemand mehr. Und besonders aktuell ist das Problem auch nicht.

Mindestens zwei Polizisten waren Mitglieder des Ku-Klux-Klan, einer Gruppe, die Rassismus und Anti­semitismus mit der Bibel legitimiert. «Die European White Knights erkennen Jesus Christus […] als Erlöser an, der sein Blut für die weisse Rasse gab. […] Wir glauben daran, dass deshalb die Blutslinie zu Gott, wie es uns die Bibel lehrt, nicht durch Vermischung gebrochen werden darf.» Besonders pikant: Einer der beiden KKK-Beamten war der Vorgesetzte der Polizistin Michèle Kiesewetter, des letzten bekannten mutmasslichen NSU-Opfers. «Wie kommt es überhaupt zustande, dass Polizei­beamte dem Ku-Klux-Klan beitreten? Das ist wohl einmalig in der Bundes­republik Deutschland», sagte Wolfgang Drexler, Vorsitzender des Untersuchungs­ausschusses in Baden-Württemberg, das war 2015. Im Jahr 2005 verbrannte Oury Jalloh aus Sierra Leone in Polizei­gewahrsam in einer Dessauer Zelle, festgebunden auf einer feuer­festen Matratze.

Nichts ist hier einmalig, leider, rechts­radikale Polizisten sind mehrmalig.

Es ist nicht das eine rechte Netz­werk, das es bei der Polizei auszuheben gibt, sondern viele kleine Inseln des Rechtsextremismus. Es ist dasselbe Problem wie mit ausgeflockter Milch: Man kann die Sache nicht einfach retten, indem man mit dem Löffel versucht, die sauren Teilchen rauszufischen.

Eine Polizei, die nicht die Hüterin des Gesetzes und damit stabiler Garant der Demokratie ist, ist nicht nur eine Bedrohung für die betreffenden Feind­gruppen, sondern für alle. Die Feind­bilder werden irgendwann ausgetauscht. Aber das muss ich hier nicht länger ausführen, das ist, glaube ich, allen klar.

Es ist also wahr, eine Gesellschaft rückt immer als Ganzes nach rechts aussen.

Ich habe mich nur daran erinnern wollen, dass ich einst eine andere Polizei kennenlernte. Eine Polizei, die mit dem Vater im Morgen­grauen Tee trank und der im Leben nicht eingefallen wäre, Hitler­grüsse in Chat­gruppen zu versenden. Es fällt mir schwer, zu akzeptieren, dass diese gute, alte, deutsche Polizei Vergangenheit sein soll, und damit möchte ich für dieses Mal schliessen.

Selam
Ihre Kiyak

Illustration: Alex Solman

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