Welche Farbe hat der Strom?
Europäische Länder steigen Schritt für Schritt aus fossiler Elektrizität aus. Ein Visualisierungsexperiment zur Energiewende.
Von Simon Schmid, 06.07.2020
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Farben sind ein faszinierendes Phänomen. Demokrit, Isaac Newton, Johann Wolfgang von Goethe: Seit Jahrhunderten haben Wissenschaftler und Denker versucht, ihr Wesen zu ergründen. Manche ihrer Folgerungen waren zwar kreuzfalsch. Trotzdem bezaubern ihre Zeichnungen unser betrachtendes Auge bis heute.
Auch die Datenvisualisierungs-Community befasst sich gerne mit Farben. Es gibt unzählige Abhandlungen darüber, wie man Farbkategorien bilden und sie auf Grafiken einsetzen soll, damit diese gut lesbar und verständlich sind.
Abgesehen von kartografischen Darstellungen, etwa zur Ungleichheit oder zum Klimawandel, gibt es aber erstaunlich wenige Infografiken, auf denen Daten tatsächlich als Farben visualisiert werden – also anhand von Skalen, bei denen ein numerischer Wert einer Farbe zugeordnet wird. Es gibt auch kaum Grafiken, auf denen Farben zwecks Visualisierung vermischt werden.
Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, das zu tun. Wie das gehen könnte und was die Vor- und Nachteile sind, loten wir in diesem Beitrag aus. Und zwar anhand von Daten zur Stromproduktion in mehreren Ländern Europas.
Deutschland
Die Daten zeigen uns, mit welchen Technologien die Elektrizität über die letzten acht Jahre erzeugt wurde. Man kann sie in drei Kategorien aufteilen:
fossile Kraftwerke (primär Kohle- und Gaskraftwerke);
erneuerbare Energien (Wasserkraft, Wind- und Solaranlagen, Bioenergie);
Kernkraftwerke.
Für die folgenden Grafiken haben wir jeder Kategorie eine Farbe zugeteilt:
rot für die fossilen Kraftwerke;
blau für die erneuerbaren Energien;
grün für die Kernenergie.
Die Intensität der Farben gibt an, welchen Anteil die drei Produktionsformen über die Zeit am deutschen Strommix gehabt haben. Ein leichtes Hellgrau bedeutet 0 Prozent Anteil am Mix. Knallrot, knallblau oder knallgrün würde bedeuten, dass der jeweilige Stromtyp einen Anteil von 100 Prozent hätte.
Man erkennt, dass der deutsche Strom grösstenteils mit fossilen Kraftwerken und mit erneuerbaren Energien hergestellt wird – wobei der Anteil der Erneuerbaren in jüngster Vergangenheit sichtlich zugenommen hat. Die Atomkraft spielt in Deutschland demgegenüber eine untergeordnete Rolle.
Eine ähnliche Farbstreifen-Darstellung haben wir in diesem Datenbriefing bereits einmal vorgestellt, unter dem Titel «Die schönste Klimagrafik der Welt». Der Reiz dieser Visualisierungsform ist offensichtlich: Sie bietet Nahrung fürs Auge, macht einen als Betrachterin neugierig und vermag etwas zu leisten, was normale Grafiken oft nicht schaffen: Sie prägt sich ins Gedächtnis ein.
Zum Vergleich: Hier sind dieselben Daten – als konventioneller Linechart.
Die Liniengrafik erfordert einen Tick mehr Abstraktionsvermögen als jene mit den Farbstreifen. Was sie im Gegenzug bietet, ist Präzision: Anders als zuvor lässt sich der Zeitpunkt, an dem der erneuerbare den fossilen Strom überholte, gut erkennen: Zwischen 2017 und 2018 stieg der Anteil der Wasser-, Wind- und Solarkraft erstmals über jenen von Kohle- und Gaskraft.
Doch das Schöne an den Farbstreifen ist: Die drei Kategorien lassen sich auch übereinanderlegen. So vermischt sich, fast wie in einem Aquarellkasten, die Intensität der drei Stromtypen. Und heraus kommt ein Streifen, der die Qualität des Stroms auf eine neue – ganzheitliche – Art aufzuzeigen vermag.
Quelle der Daten ist das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme in München. Die Feinaufgliederung der dortigen Webseite zeigt: Es ist vor allem der Windstrom, der in den letzten Jahren ausgebaut wurde. Dagegen ist die Steinkohlestromproduktion in Deutschland schon fast am Ende. Eine mittlere Katastrophe fürs Klima ist jedoch der Ausstiegsfahrplan, den die Bundesregierung nun für die Braunkohle beschlossen hat: Erst 2038 sollen die letzten Kohlekraftwerke in Deutschland endgültig vom Netz.
Grossbritannien
Ähnlich wie in Deutschland ist es in weiteren europäischen Ländern. Die Klimapolitik ist zwar von Widersprüchen durchzogen – vielerorts werden fossile Energien noch immer subventioniert. Doch die Energiewende bei der Elektrizität wird in der Strombranche trotzdem Schritt für Schritt vollzogen.
Zum Beispiel in Grossbritannien: Bis vor gut zehn Jahren war das Vereinigte Königreich eine fossile Hochburg. Kohle- und Gaskraftwerke stemmten fast 80 Prozent der Produktion. Inzwischen ist ihr Anteil auf 40 Prozent gefallen.
Das ist eine gute Nachricht. Schlüsselt man die Kategorien etwas feiner auf, kommt allerdings ein Schönheitsfehler zum Vorschein. Grossbritannien hat zwar die Kohlestromerzeugung massiv heruntergeschraubt – im Mai war das Land sogar einen ganzen Monat lang kohlefrei. Doch im Gegenzug ist der Anteil des Gasstroms (nach einem Zwischentief um 2010) wieder gestiegen.
Gasstrom ist zwar nur ungefähr halb so klimaschädlich wie Kohlestrom – das gilt in Grossbritannien ebenso wie in allen anderen Ländern. Trotzdem ist es ein Makel in der britischen Klimapolitik, dass auch in den 2010er-Jahren noch neue Gaskraftwerke ans Netz gingen. Dieser trübt die positive Entwicklung, die insbesondere beim Ausbau der Windenergie stattfand.
Immerhin: Auch in Grossbritannien tragen fossile Kraftwerke inzwischen weniger als die Hälfte zum Strommix bei. Und so überwiegen im Farbstreifen inzwischen die Blautöne. Und wer genau hinblickt, sieht zwischenzeitlich auch einen gräulichen Stich. Dafür verantwortlich ist die Kernenergie: Sie trug während der letzten acht Jahre konstant etwa 15 Prozent zum Mix bei.
Dass der rote fossile, der blaue erneuerbare und der grüne Nuklearstrom zusammen eine graue Masse bilden, ist übrigens kein Zufall. Sondern eine Folge der Farbskalen, die für die Visualisierung verwendet wurden.
RGB
Diese basiert auf den drei Grundfarben, auf denen Bildschirme von Handys oder von Computern aufgebaut sind: Rot, Grün, Blau (abgekürzt: RGB).
Jedes Pixel erhält dabei drei Werte zugeteilt – jeweils einen für die Rot-, die Grün- und die Blau-Intensität. Die minimale Intensität einer Komponente beträgt 0, die maximale 255. Sämtliche Farben, die wir auf dem Bildschirm erkennen – von Olivgrün bis Altrosa – ergeben sich als Kombination daraus.
(255, 255, 255) bedeutet, dass alle drei Farben in voller Intensität leuchten. Das menschliche Gehirn nimmt diese Kombination als weiss wahr.
(255, 0, 0) bedeutet, dass Rot in voller Helligkeit strahlt, Grün und Blau dagegen ausgeschaltet sind. Das Pixel erscheint deshalb rot.
(127, 127, 127) ist ein Grauton: Sowohl die rote als auch die grüne und die blaue Komponente leuchten auf halber Flamme.
Kein vernünftiger Infografiker käme auf die Idee, Charts anhand der drei RGB- Grundfarben zu kolorieren. Denn diese Farben sind nicht besonders schön. Bei der Republik verwenden wir für Charts deshalb andere Farbkategorien.
Doch genau für diesen Beitrag bieten sich die RGB-Farben an. Denn sie sind gewissermassen drei unabhängige Achsen in einem Farbspektrum. So lassen sich die drei Stromtypen farblich einigermassen unkompliziert mischen. Man braucht dazu nur einen – anhand des Stromanteils gewichteten – Durchschnitt aus den RGB-Codes der drei Stromtypen zu berechnen.
Frankreich
Im Fall von Frankreich führt dies zu einem ziemlich giftigen Mix. Ungefähr 70 Prozent des dortigen Stroms stammen aus der Kernkraft. Entsprechend dominiert im Farbprofil des französischen Stroms die Farbe Grün. 25 Prozent sind aus erneuerbaren Quellen (Tendenz steigend), nur 10 Prozent sind fossil.
Allerdings führt die Gift-Assoziation hier aus Klimasicht in die Irre. Denn bei der Produktion von Atomstrom fällt weniger als 5 Prozent so viel CO2 an wie bei der Produktion von Gasstrom. Und die Kernenergie ist auch etwa fünfmal sauberer als diejenige von Solarstrom. Grün heisst also in Bezug auf den französischen Strom nicht unbedingt toxisch, sondern: klimafreundlich.
Dass der französische Strom ziemlich CO2-arm ist, bestätigen die Zahlen der Europäischen Umweltagentur. Innerhalb der Europäischen Union wiesen 2016 nur Schweden und Litauen eine bessere Klimabilanz als Frankreich auf.
Aber auch ein Nicht-EU-Land schneidet sehr gut ab: die Schweiz.
Schweiz
Dies einerseits, weil in der Schweiz praktisch kein fossiler Strom produziert wird. Und andererseits, weil die Wasserkraft eine viel bedeutendere Rolle spielt. Sie speist rund die Hälfte der Schweizer Elektrizität ins Netz ein.
Der Schweizer Strom ist also einer der saubersten in Europa. Etwas verschlechtert wird die Klimabilanz jedoch, weil die Stromproduktion nicht ganz dem Verbrauch entspricht: Im Winter ist die Schweiz auf Importe angewiesen, teils auch von fossilem Strom aus Deutschland. Grund dafür ist, dass die Wasserkraftwerke in den Wintermonaten nicht auf Volllast laufen: Der Niederschlag bleibt als Schnee liegen, die Flüsse führen wenig Wasser.
Diese Saisonalität wird auch im Strommix-Streifen sichtbar. Abwechselnd nehmen darin die Blau- und Grüntöne überhand: Im Winter dominiert die Kernenergie, im Sommer – noch etwas ausgeprägter – die Wasserkraft.
Elektrizität ist bekanntlich eine Wissenschaft für sich. Genauso ist es mit der Farbenlehre: Die Forschung hat Jahrhunderte gebraucht, um herauszufinden, wie unser Auge verschiedene Lichtwellenlängen registriert und aus deren Zusammenspiel eine bestimmte Farbe synthetisiert. (Übrigens: Gesunde Menschen haben auf der Netzhaut drei Typen von Farbrezeptoren, einen für Rot-, einen für Grün- und einen für Blautöne. Farbenblinde haben nur zwei.)
Und es gibt auch Dutzende von Arten, wie man Farben ineinander aufgehen lassen kann. Was wir hier mit dem Strommix ausprobiert haben, ist also nur eines von vielen denkbaren Experimenten. Das Spektrum an Farben, das sich dabei herauskombinieren lässt – diese Lichtervielfalt, die Gelehrte seit jeher in ihren Bann zog –, wir haben es in diesem Beitrag erst im Ansatz erkundet.