Wenn es in der Nachbarschaft brennt
Russ, Gestank und Holzdiebstahl: Ein Speicherofen sorgt für Aufruhr zwischen zwei Ehepaaren. Die Verhandlung ist aber vor allem eins – eine Übung in Geduld.
Von Daria Wild, 01.07.2020
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Nachbarschaften sind eine delikate Angelegenheit, das wissen die meisten aus eigener Erfahrung. Nachbarschaften kann man sich kaum aussuchen, schwer ignorieren und noch schwerer loswerden, es sei denn, man zieht um.
Wie fast jeder Lebensbereich ist das nachbarschaftliche Zusammenleben gesetzlich geregelt. So sieht Artikel 684 des Zivilgesetzbuchs unter anderem ein Verbot aller «schädlichen (…) Einwirkungen durch Luftverunreinigung, üblen Geruch, Lärm, Schall, Erschütterung (…)» vor. Übermässige Immissionen sind generell verboten.
Doch was übermässige Immissionen sind, da scheiden sich die Geister. Gerichten bleibt nichts anderes, als jeden einzelnen Fall – innerhalb eines relativ grossen Ermessensspielraums – zu analysieren und zu beurteilen.
Ort: Regionalgericht Berner Jura-Seeland, Zivilabteilung
Zeit: 15. Juni 2020, 14.00 Uhr
Fall-Nr.: CIV 15 5738
Thema: Nachbarrecht
Die Mediensprecherin des Bieler Regionalgerichts hatte vor der Verhandlung gewarnt: «Es wird sehr technisch.» Sie sollte recht behalten.
Der Anwalt des beklagten Ehepaars wird später in einer Verhandlungspause sagen: «Es ist vor allem menschlich.» Auch er wird recht behalten.
Der Prozess ist aber auch eins: langwierig. Vier Stunden sind an diesem Montagnachmittag vor dem Regionalgericht Berner Jura-Seeland für eine Verhandlung an der Zivilabteilung angesetzt. Vier Stunden allein für die Befragung der Beklagten. Fünf werden es am Ende sein, ohne längere Pausen.
Die Plädoyers der Anwälte fanden noch im alten Jahr statt und «dauerten so lange, dass die Befragung keinen Platz mehr hatte». Mit diesen Worten eröffnet Gerichtspräsident Christoph Horisberger die Verhandlung.
Also noch eine Vorwarnung.
«Exzessives Räuchern von Würsten»
Dabei klingt die Sache zunächst gar nicht kompliziert: Stein des Anstosses ist ein Speicherofen in einem idyllischen Einfamilienhausquartier direkt an einem Kanal, der in den Bielersee führt. Er steht seit achtzehn Jahren im Haus des Ehepaar Rüegg* und hat bereits mehrere Renovationen hinter sich. Dieser Speicherofen, so die Klage des benachbarten Ehepaars Schubiger*, verursache Gestank und Dreck.
Laut Frau Schubiger, aus deren Befragung der Richter ab und an zitiert, müssen es die Rüeggs mit diesem Ofen faustdick hinter den Ohren haben: Die Vorwürfe reichen vom illegalen Fällen von Bäumen am Bieler Nidaukanal über das Verbrennen von nassem Holz, Öl und «chemischem Zeug» bis hin zum exzessiven Räuchern von Würsten. «Auf Deutsch gesagt», zitiert Horisberger die Klägerin, «sei es scheisse, was da passiere.»
Der Streit reicht Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurück, Schlichtungsversuche blieben ungenutzt, das Ehepaar Schubiger klagte, altersbedingt starb irgendwann auch noch der Anwalt der Rüeggs, und die Söhne, zu einem späteren Zeitpunkt als Zeugen eingeplant, sind inzwischen ausgezogen. Die Rüeggs stehen vor der Pensionierung, die Schubigers sind mindestens ein Jahrzehnt älter.
Bitte nicht wild durcheinanderreden!
In manchen Momenten scheint sich im Saal eine seltsame Vertrautheit zwischen dem Richter und den Parteien einzustellen; man kennt den Fall langsam, man scheint sich auch gegenseitig langsam zu kennen. Man solle bitte, mahnt Horisberger zu Beginn fast flehend, nicht wild durcheinanderreden wie letztes Mal. Zwar kommen Klägerin und Kläger an diesem Nachmittag nicht zu Wort und halten sich – bis auf eine spontane Wortmeldung und ein ungeduldiges Aufstrecken – tatsächlich zurück, doch ihre Körperhaltungen und geschüttelten Köpfe sprechen Bände: Der Nachbarschaftssegen hängt schon lange mächtig schief.
Heute also ist es an den Rüeggs, sich zu erklären. Die Fragen werden fast schmerzhaft detailliert im langsamen Seeländer Singsang von Herrn Rüegg beantwortet. Sicher ist: Dieser Mann kennt seinen Ofen in- und auswendig und er spricht auch gern darüber. Die Bitte des fast durchgehend engelsgeduldigen Richters, man könne auch einfach mal Ja oder Nein sagen, bleibt ungehört. «Das hat schon letztes Mal nicht funktioniert», fügt Horisberger denn auch prophetisch an.
Seitenlange Protokolle über die Ofenbeobachtung
Zentral in diesem Nachbarrechts-Fall sind die Fragen nach der Häufigkeit und Art der Ofennutzung. Schon da gehen die Aussagen der Schubigers und der Rüeggs diametral auseinander. Während die Schubigers behaupten, es würde «Tag und Nacht» eingefeuert, und seitenlange Protokolle über ihre Ofenbeobachtungen vorlegen, behaupten die Rüeggs stoisch, sie würden den Sitzofen zwischen zehn und fünfzehn Mal benutzen, im Winter und in der Übergangssaison. Für praktisch alle Daten auf den Protokollen könnten sie, wenn nötig, ein Alibi vorweisen. Und ausserdem werde es so heiss, es würde den Ofen, das Haus und sie butzen, wenn sie öfter einheizen würden.
Auch ein Stein des Anstosses: Was alles in den Ofen gerät. Frau Schubiger riecht alle möglichen Dinge: Zopf, Würste, Öl und Fisch. Die Rüeggs sagen: Ja, acht von diesen zehn- bis fünfzehn Mal würden sie die Restwärme für einen Gratin oder ein Brot benutzen, für etwas anderes eigne sich der Ofen nicht. Zopf täte ihnen gesundheitlich nicht gut. Richter Horisberger hakt geduldig nach: Wirklich nichts anderes? Frau Rüegg: «Wähe. Aber das geht für mich auch unter backen.» Horisberger: «Dörren? » Herr Rüegg: «Dörren ist ein viel zu langer Prozess.» Horisberger: «Räuchern?» Herr Rüegg: «Auf keinen Fall, wir wollen ja keinen Rauch im Feuerraum, wir wollen ein sauberes Feuer.»
Vorbeikommen und schauen wollen die Kläger nicht
Die Rüeggs positionieren sich vor Gericht – ob bewusst oder unbewusst – als sehr gut vorbereitete, ofentechnisch versierte, sich bemühende Nachbarn. Man habe bereits alles gemacht, was von den Schubigers verlangt worden sei; den Kamin verlängert, sich von Fachleuten beraten lassen, auf Zeitungspapier beim Anfeuern verzichtet. «Wir sagten mehrmals, sie sollen doch mal schauen kommen», sagt Frau Rüegg. «Das wollten sie nicht.» Aufrichtig klingt das Bedauern von Frau Rüegg, sie fände es «betrüblich», hier zu sitzen.
Der Geruch ist das eine, der Dreck das andere: Die Schubigers ärgern sich über Russ auf den Fenstersimsen und «ganze Pflatschen» im Garten. Die Natur sei schlicht nicht mehr – so zitiert ihr Anwalt aus der Klage – «mit allen Sinnen» wahrnehmbar. Dreck hätten auch sie auf den Fenstersimsen, gibt Herr Rüegg zu, er könne aber nicht sagen, ob das nun Feinstaub der Strasse sei oder Blütenstaub, Dreck von Bäumen im Quartier oder von anderen Öfen.
Ja, andere Öfen: Auch das wird an diesem Nachmittag nicht geklärt. Es werden andere Nachbarn zitiert, ein 92-jähriger Nachbar, der den Schubigers bestätigt haben solle, dass es wieder stinke. Auf der anderen Seite eine Nachbarin, die möglicherweise auch einen Einfeuerungsofen besitzt. Als Frau Rüegg auf die Frage nach einer möglichen dritten Feuerungsquelle schliesslich ein ganzes Arsenal an verschiedenen Racletteöfen zu Protokoll gibt, kann sich auch Richter Horisberger ein Schmunzeln nicht mehr verkneifen.
So geht es stundenlang weiter.
Die Argumentation reicht bis in die Achtzigerjahre zurück
Jede Anschuldigung der Schubigers, zum Beispiel jene, dass die Rüeggs nasses Holz verbrennen würden, kontert Herr Rüegg mit Fachkenntnissen. An Nachbarschaftskomik kaum zu überbieten ist die Klage, die Rüeggs würden Bäume fällen und am Kanal Holz klauen. Gemäss den Rüeggs hat Frau Schubiger die beiden «gestellt» und das kantonale Amt alarmiert. Nur hätten sie mit ebendiesem eine Abmachung, störende Sträucher auf dem Kanalsteg wegzunehmen. Die Frage danach, was für Holz sie denn verbrennen würden, beantwortet Rüegg dermassen ausführlich, dass Horisberger nun doch ungeduldig sagt: «‹Man kann Fragen auch knapp beantworten, man muss nicht immer in den Achtzigerjahren anfangen.›»
Die vom Bundesamt für Gesundheit verlangte Lüftezeit von fünf Minuten kommt jetzt sehr gelegen.
Doch die Rüeggs beginnen auch danach gern in den Achtzigerjahren: Er habe bereits im Gymnasium «Club of Rome» gelesen, erwähnt Herr Rüegg, heute Berufsschullehrer, sie seien auf der ersten Ökomesse der Schweiz gewesen und zudem überzeugte Christen; Nachhaltigkeit sei ein zentraler Faktor ihres Lebensstils. Frau Rüegg, in der Kirchgemeinde aktiv, verdeutlicht das mit den Worten, wenn sie ein Pellet weniger verbrenne, denke sie daran, gerade ein Bäumchen gerettet zu haben.
Das Privatleben muss offengelegt werden
Manches bleibt so technisch wie angekündigt, es geht um Feinstaubfilter, um Lüftungswartungen, um Lüftungslärm, um Abluft auf dem Dach, Minergie und darum, ob die Rüeggs am Tag des Schlichtungsverfahrens das russverfärbte Vordach geputzt haben. Es geht um das Gutachten, das der Anwalt der Schubigers in einem dicken Ordner vor sich auf dem Tisch liegen hat, das Simulationen beinhaltet, Emissionen berechnet.
Manches scheint logisch: Dass ein Ofen Russ verursacht, dass der sich ablagern kann, vielleicht sogar stört. Anderes wiederum ist an Absurdität kaum zu überbieten: Dass Frau Rüegg beim Dachdecker einen Wurstrost bestellt haben soll, um Würste zu grillieren, wie es Frau Schubiger behauptet.
Klar ist: Nirgends ist die soziale Kontrolle so stark wie unter Nachbarn, niemandem kommt man schlechter aus dem Weg. Mit ihrem Gang vor Gericht erwirken die Schubigers, dass die Rüeggs Auskunft geben müssen – über ihre Zubettgeh-Zeiten, über ihre Essensvorlieben und ihre Beziehung zu den Söhnen. Die innigste Beziehung aber, so scheint es, führen die vier miteinander, obwohl sie sich nicht in die Augen schauen. Nicht nur betreffend Abluftwärme fragt man sich, woher hier eigentlich der Wind weht.
Nach vier Stunden neigt sich die Befragung dem Ende zu, es folgt noch eine Stunde Protokollvorlesen und wieder fast schmerzhaft detaillierte Präzisierungen. Die Rüeggs scheinen sich einen Galgenhumor zugelegt zu haben: Sie seien jetzt wenigstens Experten für Speicheröfen, sagt Frau Rüegg vor dem Gerichtssaal. Die Schubigers stehen noch einmal konspirativ mit ihrem Anwalt zusammen.
Das letzte Wort in diesem Fall ist noch lange nicht gesprochen. Ein Urteil übrigens auch nicht.
* Namen geändert
Illustration: Till Lauer