Auf lange Sicht

Wie Daten Rassismus sichtbar machen – und wo ihre Grenzen sind

In den USA werden Hautfarben in der Statistik abgebildet. In Frankreich wird dagegen versucht, via Statistiken die «Égalité» durchzusetzen. Was ist besser?

Von Marie-José Kolly, 29.06.2020

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Vielleicht haben Sie in den vergangenen Wochen diese Grafik aus Minneapolis gesehen. Auf einen Blick zeigte damit die «New York Times»: Der Tod des Schwarzen George Floyd unter dem Körper eines weissen Polizisten ist kein isolierter Vorfall. Er steht für etwas Systematisches:

Schwarze Amerikaner sind unter den Betroffenen von polizeilichem Gewalt­einsatz bedeutend stärker vertreten als in der Gesamtbevölkerung.

Schwarze in Minneapolis

Das ist ihr Anteil ...

Schwarze
alle anderen
an der Bevölkerungin der Polizeiunter den Betroffenen von polizeilichem Gewalteinsatz0 25 50 75 100 %

Quelle: «New York Times»; die Daten zum polizeilichen Gewalteinsatz stammen von der Stadt Minneapolis und decken den Zeitraum von 2015 bis Ende Mai 2020 ab.

Dass Rassismus ein systemisches Problem ist, kann man also für Minneapolis mit harten Zahlen belegen. Das dortige Polizei­korps hat aus nach­vollziehbaren Gründen einen besonders schlechten Ruf.

Aber auch landesweit richten Polizisten häufiger eine Pistole auf Schwarze als auf Weisse und drohen ihnen häufiger Gewalt an. Auch landesweit werden Schwarze häufiger gestossen, getreten, geschlagen.

Schwarze in den USA

Das ist ihr Anteil ...

Schwarze
alle anderen
an der Bevölkerungin der Polizeiunter den Betroffenen von polizeilichem Gewalteinsatz0 25 50 75 100 %

Quelle: US Census Bureau, US Department of Justice – Local Police Departments, US Department of Justice – Police Use of Nonfatal Force; Daten zur nicht fatalen Polizeigewalt und deren Androhung sind nur als jährlicher Durchschnitt von 2002 bis 2011 verfügbar und basieren auf Umfragen mit einer repräsentativen Stichprobe von rund 90’000 Personen pro Jahr.

Die Daten hinter diesen Grafiken machen sichtbar, dass im Zusammen­leben etwas grundlegend schiefläuft. Sie erlauben eine Debatte über das Problem und ermöglichen gesellschaftliche sowie politische Reaktionen darauf.

Dass solche Daten – zum Anteil von Personen mit bestimmter Hautfarbe in der Bevölkerung, in der Polizei und unter den Betroffenen von Polizeigewalt – überhaupt existieren, ist aber nicht selbstverständlich.

Denn: Rassismus gibt es zwar überall auf der Welt. Daten, die ihn präzise belegen könnten, nicht. Das hat verschiedene Gründe.

Zum einen ist es notorisch schwierig, diskriminierende Vorfälle systematisch zu registrieren. Mal basieren die Daten zu Kontakten zwischen Polizei und Bevölkerung auf Umfragen, mal auf freiwilligen Erhebungen der Polizei, mal auf gemeldeten Vorfällen. All diese Quellen bringen ihre Schwierigkeiten mit sich, insbesondere: Dunkel­ziffern. Das gilt für Polizei­gewalt, für Racial Profiling, es gilt aber auch für diskriminierende Handlungen oder gewalt­tätige Vorfälle ausserhalb des polizeilichen Kontextes.

Zum anderen braucht es für eine Einordnung dieser Zahlen auch Daten zur Vertretung bestimmter Gruppen in der Bevölkerung. In den USA gehört es im Rahmen der administrativen Volks­zählung einfach dazu, dass man auch Informationen zur race angibt, in Gross­britannien ebenso – dort unter dem Stichwort ethnicity.

In vielen anderen Ländern werden Daten zur Hautfarbe oder zur ethnischen Zugehörigkeit aber nicht erhoben.

Frankreich erhebt keine «statistiques ethniques»

In den meisten europäischen Ländern gehören solche Daten nicht zur administrativen Statistik. Und bei der französischen Volks­zählung ist es sogar ausdrücklich verboten, sie zu erheben. Warum?

Der erste Artikel in der Verfassung lautet:

La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale. Elle assure l’égalité devant la loi de tous les citoyens sans distinction d’origine, de race ou de religion.

Der Zusammenhalt der République soll also unter anderem durch den Laizismus und die Gleichheit aller Bürger gesichert werden – «ohne Unter­scheidung nach Herkunft, Rasse oder Religion». Ihre universalistische Kultur erkennt keine Gemeinschaften an. So fragt auch die Volks­zählung nicht nach ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Hautfarbe. Sie darf gar nicht: Wer dagegen verstösst, riskiert Geldstrafe oder Gefängnis.

Frankreich debattiert regelmässig darüber, ob man diese Statistiken bräuchte und neu erlauben sollte oder eben gerade nicht – auch jetzt wieder. Die Debatte verläuft nicht entlang der klassischen politischen Lager. Linke Befürworterinnen etwa wollen die grosse Zahl der Diskriminierungen nachweisen, Rechte die grosse Zahl der Menschen mit Migrations­hintergrund.

Nun gibt es von diesem prinzipiellen Verbot der Daten­erhebung immer wieder Ausnahmen, unter bestimmten Bedingungen und für bestimmte Zwecke. Für gewisse Forschungs­projekte, aber auch für punktuelle nationale Untersuchungen darf man auch in Frankreich nach der Hautfarbe fragen – und diese Daten streng anonymisiert abspeichern und analysieren.

Ein Beispiel dafür ist eine Umfrage des Défenseur des droits, einer unabhängigen administrativen Ombuds­stelle. Die Teilnehmenden werden gefragt, ob sie denken, dass sie als Schwarze, Weisse oder Araber wahrgenommen werden. Die Untersuchung schlüsselt anschliessend auf, wie oft die Angehörigen dieser Gruppen in den vergangenen fünf Jahren von der Polizei kontrolliert wurden.

Die Polizei kontrolliert Schwarze häufiger als Weisse

Häufigkeit von Identitäts­kontrollen durch Polizei und Gendarmerie

nie
1- bis 5-mal
mehr als 5-mal
Schwarze MännerArabische MännerWeisse Männer0 25 50 75 100 %

Quelle: Défenseur des droits. Für die Umfrage wurde 2016 eine Zufalls­stichprobe à 2422 Personen per Telefon nach Identitäts­kontrollen in den vergangenen fünf Jahren befragt. Die Studie weist keine Fehlermarge aus.

Weisse Männer wurden also deutlich weniger oft von Polizei­beamten nach ihren Papieren gefragt als Männer, die angaben, als Araber oder als Schwarze wahrgenommen zu werden.

Aber wie viele von ihnen gibt es jeweils in Frankreich? Wir wissen es nicht – und Schätzungen dazu sind ziemlich grob. Die Zahlen aus der Grafik adäquat einzuordnen, ist also schwierig. Wie viele Schwarze arbeiten als Polizisten? «Das erheben wir nicht», sagt das nationale Statistikamt auf Anfrage.

Ist die «Farbenblindheit» der französischen Statistik wirklich sinnvoll?

Wie macht es die Schweiz?

In der Schweiz erheben die Behörden mehr Daten als in Frankreich, aber weniger als in den USA oder in Gross­britannien. Daten zur Hautfarbe oder ethnischen Zugehörigkeit würden unter anderem aufgrund von Datenschutz­bedenken nicht zur Volks­zählung gehören, sagt das Bundesamt für Statistik auf Anfrage. Systematisch erhebt das Amt aber die Staatsangehörigkeit und die Religion der Einwohnerinnen.

Informationen zur Diversität der Bevölkerung erhebt die Schweiz indirekt: über Staats­angehörigkeit, religiöse Zugehörigkeit und Sprachen ihrer Einwohner. Die Stichproben­erhebung «Zusammenleben in der Schweiz» beobachtet zusätzlich Phänomene wie Rassismus, Fremden­feindlichkeit und Diskriminierung.

Daten zu diskriminierenden Handlungen werden der Polizei, dem Justiz­system oder Beratungs­stellen gemeldet sowie per Umfragen erhoben – sie sind mit denselben Dunkelziffern behaftet wie anderswo.

Was für die «statistiques ethniques» spricht …

Das Hauptargument für ethnisch kategorisierte Statistiken lautet: Kenne deine Bevölkerung.

Liegen detaillierte Populations­daten vor, so kann eine Regierung die Diversität messen. Das erlaubt es unter anderem, die Verbreitung von Diskriminierungen oder die Benachteiligung von bestimmten Bevölkerungs­gruppen besser einzuschätzen – und mit gezielten politischen Massnahmen dagegen vorzugehen.

In den Vereinigten Staaten hat man etwa via Quoten an Universitäten versucht, benachteiligte Bevölkerungsgruppen gezielt zu fördern.

In den USA oder in Gross­britannien weiss man auch, dass Schwarze ein rund dreimal grösseres Risiko hatten, an Covid-19 zu sterben, als Weisse. In Frankreich lässt sich lediglich beobachten, dass die Sterberate in manchen Ortschaften höher ist – etwa in Seine-Saint-Denis nördlich von Paris, einer Banlieue, in der viele Menschen mit Migrationshintergrund leben.

… und was dagegen

Kategorisierungen nach Hautfarbe, kultureller Herkunft oder Religion erkennen sozial sowie numerisch an, dass es innerhalb der Bevölkerung verschiedene Gruppen gibt.

Daraus folgt ein sogenannt performatives Risiko. Will heissen: Diese Kategorien können für Individuen identitäts­bildend werden (insbesondere auch für Weisse). «Indem man ‹Rasse› oder ‹Herkunft› in die offiziellen Statistiken aufnimmt, konsolidiert man ihre Wirksamkeit», schreiben Ethnologinnen.

Das entspricht weder dem Selbstbild noch den Zielen der egalitären République. Denn die andere Seite des communautarisme, also der Hervor­hebung von Merkmalen bestimmter Gruppen, sei die Stigmatisierung, sagen manche Statistiker. Das gefährde die soziale Kohäsion. Diese Position verteidigte auch der langjährige Präsident von SOS Racisme gegenüber der Zeitung «Le Parisien».

Andere, etwa der Demograf Hervé Le Bras, weisen auf die Schwierigkeit hin, ethnische Kategorien überhaupt zu definieren. Sie könnten die Wirklichkeit nur bedingt abbilden und änderten sich laufend. Eine gemischte Herkunft etwa sei schwierig zu kategorisieren und der Grad des Zugehörigkeits­gefühls zu einer bestimmten Gruppe subjektiv. In den USA versucht man, diesem Problem bei der Volks­zählung mittels Selbst­identifizierung beizukommen, und seit dem Jahr 2000 ist es möglich, mehrere Kategorien anzuwählen. Nur: Bei Diskriminierungen tritt die durch andere wahrgenommene Identität zutage und eben gerade nicht die Selbstwahrnehmung.

Zudem ist in Frankreich und weiteren europäischen Ländern die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nur zu präsent. Daten zur jüdischen Identität von Kindern in Pflege­familien etwa waren in die falschen Hände gelangt und hatten zu Deportationen geführt. Deshalb dürfen in Frankreich solche Daten, wenn Ausnahmen gemacht werden, nur strikt anonym erhoben werden.

Es gibt keine perfekte Lösung

Erheben – oder nicht? Beides birgt Chancen für den Kampf gegen den Rassismus, und beides birgt Risiken für eine Zunahme der Diskriminierung. Die Debatte zeigt, dass Daten immer im Kontext entstehen, dass deren Erhebung, Behandlung und Analyse auch Teil der Geschichte eines Landes, Teil einer Haltung ist.

Vielleicht überschätzt man in Frankreich die Macht der Statistik. Denn es ist fraglich, ob sie als Gleich­macherin taugt. Staaten, welche die Hautfarben in Daten sichtbar machen, bringen lediglich Unter­schiede ans Licht, die für die Bevölkerung zu einem gewissen Grad so oder so sichtbar sind.

Vielleicht unterschätzt man in den USA die Macht der Statistik. In den falschen Händen können Daten über ethnische Zugehörigkeit zu einer Gefahr für Minderheiten werden. «Man muss immer aufpassen, dass die Methoden, die man vorschlägt, nicht für das exakte Gegenteil dessen, wofür man kämpft, verwendet werden», sagt der französische Historiker und Immigrations­forscher Patrick Weil der «New York Times».

Aber ganz ohne Daten geht es eben auch nicht. Um systematisch gegen ein Problem vorgehen zu können, muss dieses sicht- und belegbar sein. Hierfür ist vielleicht gar nicht so erheblich, ob die Daten via Volks­zählung oder Umfrage erhoben werden – voraus­gesetzt, die Methodik dahinter ist stichhaltig.

Seitens der Forschung ist dafür auch Kreativität gefragt. Während die US-Behörden Daten zu race sammeln, berufen sich französische Demografen dagegen auf geografisch codierte Daten wie jene aus Seine-Saint-Denis. Ohne explizit die Hautfarbe zu ermitteln, wird trotzdem klar, in welchen Gemeinden ökonomisch und sozial benachteiligte Menschen wohnen.

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