«Lettre d’amitié», 2019.

Ansichten aus Afrika

Die Anmut im Abstossenden

Der ivorische Maler Obou Gbais zeigt in seinen Bildern die Wider­sprüchlichkeiten der Welt, in der er lebt. Und er trägt eine Maske, die sein Leben verändert hat.

Von Flurina Rothenberger (Text) und Obou Gbais (Bilder), 20.06.2020

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Ein Abend in Abidjan Ende September 2019, die Galerie LouiSimone Guirandou ist gut besucht. Es ist die Eröffnung der Ausstellung des jungen ivorischen Künstlers Obou Gbais. Die gross­formatigen grafischen Kompositionen spiegeln eine Kultur der dichten Bebauung, des Gedränges und der Über­lastung von Städten. In dieser wimmelnden Undurchsichtigkeit wird die Stadt zum Tanz, die Dichte zu Leben. Urbaine, so heisst Obous grosse Schwester, weckte die Liebe zur Kunst in ihm, da war er noch ein kleiner Junge. Sie zeichnete und nahm ihren Bruder mit in den Malclub. Er illustrierte ununterbrochen, meistens Comics.

Dann bricht 2002 eine politische Krise im Land aus, die zum Bürger­krieg zu werden droht. Obou stammt aus einem Berg­gebiet im Westen der Côte d’Ivoire, in der Nähe der Stadt Man. Die Region ist besonders betroffen, und im Alter von zehn Jahren wird Obou Zeuge der Gewalt gegen die Zivil­bevölkerung. Seine Familie flüchtet nach Abidjan, in den Stadt­teil Yopougon. Sie leben in einem Bidonville, wo Obou die prekären Wohn­verhältnisse und die Über­bevölkerung entdeckt, aber auch die beseelte Abend­stimmung und die Lichter der Stadt.

«Le choco Dan», acrylique et collage sur toile, 2020.
«Wourou factor, Série: boribiana», 2019.
«La Terreur, Série: portraits de guerre», acrylique sur papier, 2015.

Obou ist sechzehn, als ein junger Kunst­student ihn ermutigt, eine künstlerische Ausbildung zu absolvieren. «Meine Mutter glaubte immer an mich, aber mein Vater war dagegen. Er wollte, dass ich Beamter werde. Mit Kunst, sagte er, verdient man kein Geld. Ich aber wollte unbedingt Künstler werden und spürte, dass ich in diesem Beruf viel zu sagen habe.» Die Schwester übernimmt die Gebühr für die Prüfung und sagt zu Obou: «Mein Kleiner, ich glaube an dich, du wirst meinen Traum leben.» Obou wird angenommen und beginnt seine Ausbildung an der Kunsthochschule.

In seiner Arbeit setzt er sich mit den Traumata von Kriegs­opfern auseinander. Auf Leinwand, Papier und in Collagen übersetzt er die vielen Facetten und die Wider­sprüchlichkeiten der Welt, in der er lebt: Gewalt und Freude, Ängste und Träume werden zur Therapie und zum Leit­motiv seines Schaffens.

Obou hat es anfangs nicht leicht, sein nonkonformistischer Stil wird von den Lehr­kräften, die sich einen akademischeren Ansatz wünschen, nicht gut aufgenommen. Doch Obou bleibt dabei, dass seine Praxis, «das Schöne zu verfremden», seinem Thema entspricht: «Ich kann nicht mit hübschen akademischen Porträts über mein Kriegs­trauma sprechen. Der Krieg entstellt und verändert, das wird immer ein Teil meiner Praxis sein.»

«Akouedo II», 2019.
«Bintou la confiné», acrylique sur papier, 2020.
«Ambassadrices Dan 1», acrylique sur toile, 2020.
«Le quartier est dehors», 2019.

In seinen neueren Arbeiten taucht er ein in das bemerkens­werte urbane Phänomen der Bidonvilles, jener informellen Stadtteile, die mit der Land­flucht wachsen. Hier wird der tägliche Kampf um Wohn­raum sichtbar. Obou lebt in Anono, einem Viertel «derer, die sich hinzufügen», wie man in Abidjan sagt, und das er oft malt.

Obou ist sehr produktiv, Malen, sagt er, sei für ihn wie Atmen. Während seines diesjährigen Aufenthalts in Deutschland schuf er viele Werke, die er in Berlin einlagerte. So kann er den zahl­reichen Anfragen aus Europa einfach und kosten­günstig nachkommen.

Es lohnt sich, genau hinzusehen. Mit seinen selbstbewussten grafischen Kompositionen, diesen von der Moderne geprägten Gestalten, verweist der Künstler gleichwohl auf die verborgene Verzweiflung der Figuren und auf ihre Verwundbarkeit. Freude vermischt sich mit Schmerz, Widrigkeit mit Schönheit.

«Rendez-vous de midi, Série: Ambassadeurs Dan», 2020.
«Boribana 3, Série: mon bidonville», acrylique et argile sur toile, 2019.
«Classique women», acrylique et collage papier pressé sur toile, 2020.
Carrefour Garage Anono, 165x165 cm, Acrylique sur toile, 2020.
«Je me protège afin de vous protéger, Série: les confinés», 2020.
«Mère et fille 001», 2019.

Obou, bevor wir über deine neuere Arbeit sprechen: Wie ist Braid Art entstanden, eine künstlerische Bewegung, die du mitinitiiert hast und mit der du dich stark identifizierst?
Wir verstanden Braid Art als eine logische Fortsetzung des Vohou Vohou, dieser grossen künstlerischen Emanzipations­bewegung, die während der Wirtschafts­krise in den Siebziger­jahren in Côte d’Ivoire entstand, die den europäischen Klassizismus kontrastierte. Vohou bedeutet irgendetwas in der Sprache der Gouro. Da die Künstler es sich nicht mehr leisten konnten, Leinwand und Farbe zu kaufen, arbeiteten sie mit allen möglichen Materialien und nutzten natürliche Pigmente für ihre Werke. Mit Braid Art griffen wir die Idee auf, mit etwas Gutem zu schockieren. Wir reagierten damit auf die Bachelor-Master-Reform, denn als diese eingeführt wurde, ersetzte die theoretische Lehre die praktische. Die vielen Marketing- und Management­kurse liessen uns kaum noch Zeit, uns der praktischen Anwendung zu widmen. So wichen viele auf einen schnellen Arbeits­stil aus, was zu unfertig wirkenden Bildern führte. Wir begannen solche missglückte Werke mit «Ah, ein Braid!» zu kommentieren. Braid bedeutet in unserem Slang verfehlt und abstossend. Wir beschlossen, das Hässliche so gut zu meistern, dass es wieder schön sein würde – Braid Art. Ich identifiziere mich stark damit, die Anmut im Abstossenden zu finden, deshalb fühle ich mich auch so zu Masken hingezogen.

«De faux espoirs», 2019.
«Sortir du lot et arriver», 2019.
«Les demoiselles d’Abidjan», 2018.

Deine Mutter ist Bété, dein Vater Yacouba. Die Yacouba haben eine grosse Kultur der Masken, du nutzt die Biansi-gué-Maske fast wie ein Alter Ego. Was ziehst du daraus?
Die Begegnung mit Biansi gué, der Läufer­maske, hat es mir erlaubt, mich selbst zu entdecken. Zunächst einmal ist es eine Jungen­maske. Die Yacouba versammeln alle männlichen Masken unter dem Begriff Guégon und alle weiblichen unter Gué non nan. Während meiner Abschluss­arbeit sagte mein Mentor, der Maler Pascal Konan, zu mir: «Deine Arbeiten sind gut, aber du musst rausfinden, was wirklich in dir steckt. Kehr zu deinen Wurzeln zurück, mach dich auf die Suche nach dir selbst.» Also reiste ich in den Nord­westen, in mein Dorf Bounta. Ich erfuhr von den Dorf­bewohnern, dass früher bei den Yacouba und Guéré der Region die Läufer­maske das Dorf repräsentierte. So, wie die Stadt Manchester allen wegen ihrer Fussball­mannschaft ein Begriff ist, so zeichnete sich ein Dorf bei uns durch die Geschwindigkeit ihrer Biansi-gué-Maske aus. Die Dörfer organisierten Lauf­wettbewerbe untereinander, und man durfte nicht wissen, welcher Läufer sich hinter der Maske verbarg. Man erkennt die Läufer­maske an ihren grossen runden Augen, die gute Sicht und einen schnellen Lauf ermöglichen. Die Biansi gué ist wie ein Mannschafts­tenue, und jedes Dorf hat seinen eigenen Stil. Als ich das alles erfuhr, suchte ich die Masken­schnitzer auf, aber ohne zu wissen, wer ich bin, durften sie mir keine originale Läufer­maske zeigen. Mein Vater war eine Weile das Dorf­oberhaupt, und als ich erklärte, dass ich sein Sohn bin und meine künstlerische Arbeit nutzen möchte, um unsere Kultur in der Gegenwart zu vertreten, stand der vorsitzende Masken­schnitzer auf, holte die besagte Biansi gué hervor und sagte zu meiner grossen Überraschung: «Die ist für dich.» Er weihte die Maske, bevor ich sie entgegen­nahm, und ich spüre diese Energie, wenn ich sie trage.

Wie hat diese Maske deine Selbst­wahrnehmung und dein künstlerisches Schaffen verändert?
Zurück in Abidjan fand ich mich eines Tages mitten in der Stadt wieder. Die Maske war in meiner Tasche, und ich beschloss, sie aufzusetzen und ein Selfie zu machen, um zu sagen: Biansi gué ist in der Stadt angekommen. Ich liess die Maske auf und ging weiter, aber ich sah die Dinge nicht mehr gleich. Schon meine Sicht war begrenzt, aber zusätzlich spürte ich plötzlich die Anwesenheit meines Innersten, das alles sah, was da war. Ich war nicht mehr Obou, ein Mensch, der zu gefallen versucht. Die Maske hatte die Oberhand gewonnen. Der Blick der Passanten streifte mich wachsam. Ich kriegte Angst und legte die Maske ab. Ich begann nachzudenken und erkannte, dass mein nonkonformistischer Stil zu malen, die grossen Augen und entstellten Köpfe meiner bisherigen Porträts, viele Parallelen zum Ausdruck der Masken meines Volkes aufweisen. Man hatte mir die Läufer­maske meines Dorfes, meines Volkes, anvertraut, und ich wollte sie tragen, damit sie in einer Gesellschaft der Gegenwart, in der sie ein wenig fremd geworden ist, ihre kulturellen Spuren hinterlässt. Mein Onkel sagte mir: «Diese Maske spricht weder Französisch noch irgendeine andere Sprache. Wer sie trägt, spricht Yacouba.» In einem Kontext, in dem wir allmählich unsere Kultur verlieren, möchte ich die meine laut und deutlich tragen und zum Ausdruck bringen.

«Big Mama, Série: boribiana», 2019.
«Le couple Dan 2», acrylique sur toile, 2020.
«Les Ambassadrices Dan 2», acrylique sur toile, 2020.
«Le penseur», encre sur papier, 2019.

Die widersprüchlichen Gesichter der Moderne spiegeln sich auch in der Realität der Bidonvilles, ein zentrales Thema deiner Arbeit. Oft gross­formatige Werke, die die Beharrlichkeit der Bewohner zeigen und eine Jugend verteidigen, die mit dem Leben zu kämpfen hat.
Die Architektur der Bidonvilles, das ist Braid Art! Ich finde es schön, was sich die Bewohner dieser Viertel angesichts ihrer nicht einfachen Realität einfallen lassen. Ich mag es, wenn alles selbst gebaut ist und lebt. In meinem Viertel Anono ist es auch so. Meine Werke sprechen über unser menschliches Dasein aus der Sicht der jungen Person, die ich bin, in dieser Stadt und dieser Epoche. Ich lebe in einem Umfeld, in dem es keine Gleich­berechtigung gibt, in dem nur die Kinder von privilegierten Personen eine Chance kriegen. Die Jugend ist ohne Arbeit. Ich spreche von Unter­werfung. Eingeschlossen im selben Milieu, sind wir vereint in der Abwesenheit von Perspektiven, und wir kommen da nicht mehr heraus. Wir, die Jungen, werden benutzt und dann wie Müll fallen gelassen. Man sagt mir, dieser Begriff sei zu stark, aber für mich ist das menschliche Entsorgung. Ich drücke es in mehreren Werken aus. Diese jungen Leute steigen in Boote und fahren in Richtung Europa, nicht etwa, weil sie nichts im Kopf haben, sondern weil sie die Hoffnung verloren haben und sich sagen: Ich muss Afrika verlassen, um es zu schaffen. Seit meiner Rückkehr aus Deutschland hat sich die Wert­schätzung der Menschen hier für meine Arbeit verändert. Erst jetzt beachten sie, was meine Bilder vermitteln, und beginnen zu verstehen, obwohl ich diesen Diskurs schon seit langem führe. Wenn ich nach Europa zurückkehre, dann um zu dekolonisieren und über unsere Kultur aufzuklären. Die Maske hat ihre Schublade verlassen. Sie reist und spricht Yacouba in Berlin.

Zum Künstler

Obou Gbais, geboren 1992 in Guiglo im Südwesten von Côte d’Ivoire, ist Maler. Er ist Absolvent der Hochschule der Künste INSAAC, wo er sein Diplom in Fine Arts und Kunst­vermittlung gemacht hat. Gbais Werke wurden unter anderem ausgestellt in der Galerie Tart in Zürich, in der Rotonde des Arts und der Galerie LouiSimone Guirandou in Abidjan und im Iwalewa-Haus der Universität Bayreuth, wo er dieses Jahr zu einem Künstler­aufenthalt eingeladen ist. Obou Gbais war 2019 zu Gast bei der Biennale Internationale de la Sculpture in Ouagadougou, Burkina Faso, und bei der RIAC Rencontre Internationale de l’Art Contemporain in Brazzaville, Republik Kongo. Seine Werke sind Teil der Sammlung Leridon. Er lebt in Abidjan, Côte d’Ivoire. Seine zwei Instagram-Accounts finden Sie hier und hier.

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