Binswanger

Der Sommer der Möglichkeiten

Das Leben unter Pandemiebedingungen ist voller Unsicherheiten. Doch genau das schafft Raum für Optimismus.

Von Daniel Binswanger, 20.06.2020

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Es stellt sich ein Gefühl von Normalität ein: Die Cafés sind belebt, die Verkehrs­mittel sind voll, die Grenzen sind offen. Man trifft sich seltener auf Zoom und häufiger im Sitzungs­zimmer. Die ausser­ordentliche Lage ist beendet, der Sommer kann beginnen. Und dennoch: Es herrscht so viel Zukunfts­ungewissheit wie noch nie.

Je mehr sich die Lage stabilisiert, desto ergebnis­offener scheint sie zu werden. Je mehr wir uns von der Dringlichkeit des Ausnahme­zustands entfernen, desto stärker macht sich das Orientierungs­vakuum fühlbar, in dem das Abflauen der Pandemie uns zurücklässt. Und nun, als wäre dies der ambivalenten Gestimmtheit nicht genug, platzen mitten in die epochale Unsicherheit die Massen­proteste gegen Diskriminierung und Rassismus, in den USA, aber auch in der Schweiz, wo am letzten Samstag Zehntausende Bürgerinnen auf die Strasse gingen.

Zum einen waren diese Demonstrationen – nicht anders als die Anti-Lockdown-Versammlungen der Aluhüte oder auch die Jubiläums­märsche zur Frauendemo – eine Social-Distancing-technische Verantwortungs­losigkeit. Aber wer würde es nicht als machtvolles Zeichen der Hoffnung deuten, dass aus der Lähmung der Quarantäne eine so entschiedene Mobilisierung kommt? Unerwartet schnell hat sich die Zivil­gesellschaft zurück­gemeldet und steht ein für Grund­werte, welche die unabdingbare Grund­lage eines respektvollen Zusammen­lebens bilden.

Wie werden die Dinge sich nun nach der akuten Krisen­situation entwickeln? Wie müssen wir sie einordnen – medizinisch, wirtschaftlich, politisch? Wie werden wir diesen epochalen Umbruch gesellschaftlich bewältigen? Die Aussichten sind wider­sprüchlich, verworren. Aber nicht so verzweifelt, wie man hätte fürchten können.

Mit der in fast ganz Europa sehr positiven Entwicklung der Covid-Fallzahlen kontrastieren Länder wie Südkorea, Israel oder Japan, welche die Epidemie erfolgreich eingedämmt hatten – und dann plötzliche Rückfälle erlitten. Die vorläufige Bilanz scheint zu sein: Ein Zurück­drängen der Epidemie ist möglich, bleibt aber immer fragil. Dies gilt umso mehr, als die Entwicklung im globalen Massstab nach wie vor katastrophal verläuft. In den USA haben sich die täglichen Neuansteckungen vorläufig auf einem hohen Niveau von rund 20’000 stabilisiert und sind in vielen Bundes­staaten am Steigen. Mit einem Präsidenten im Wahlkampf­modus – heute Samstag hält Trump seine erste Indoor-Massenveranstaltung in Tulsa ab – ist das Land offen­sichtlich gegen keinen Wahnsinnsakt gefeit.

Noch bedrohlicher ist die Lage in den Entwicklungs­ländern. In der südlichen Hemisphäre wütet das Virus mit mörderischer und steigender Dynamik. Ist Covid-19 zu beherrschen oder von unkontrollierbarer Zerstörungs­kraft? Beides scheint nicht falsch zu sein.

Auf wirtschaftlicher Ebene ist leider eines gewiss: Der Einbruch ist gigantisch. Die OECD schätzt in ihrem letzten «Economic Outlook» die weltweite Kontraktion auf mindestens 6 Prozent für dieses Jahr, die Weltbank nennt die Rezession «den schwersten negativen Schock zu Friedens­zeiten, den die Welt­wirtschaft in über hundert Jahren erlebt hat». Insbesondere für die ärmsten Länder werden die Folgen dramatisch sein. Gemäss Arif Husain, dem Chef des Welt­ernährungs­programms der Uno, sind 265 Millionen Menschen von akuter Hungersnot bedroht. Wie weit die Verwerfungen jedoch letztlich reichen werden, wie lange es dauern wird bis zu einer Erholung, das lässt sich nur schwer abschätzen.

Die für uns Europäer heute beunruhigendste Frage gilt wohl den politischen Konsequenzen. Wie werden wir diese Krise gesellschaftlich bewältigen? Welche politische Entwicklung wird sie begünstigen? Der bulgarische Politologe Ivan Krastev hat dem Thema einen eben erschienenen, klugen Essay­band mit dem Titel «Ist heute schon morgen?» gewidmet. Krastev hat sich als zunehmend pessimistischer EU-Skeptiker einen Namen gemacht. Aber seine Einschätzung der Folgen der Corona-Krise ist vorsichtig optimistisch.

Krastev fasst die heutige Weltlage nicht in einem Set von Thesen, sondern in einer Reihe von Paradoxien zusammen: Einerseits führte uns die Pandemie schlagartig die tödliche Gefahr der Globalisierung vor Augen, anderer­seits liess sie uns eine Erfahrung machen, die in nie da gewesener Weise rund um den Globus geteilt wurde. Oder haben Sie sich je zuvor so intensiv für weltumspannende Länder­vergleiche interessiert, bezüglich Todes­raten, Spital­betten, wirtschaftlicher Unterstützungs­massnahmen?

Einerseits hat Corona gezeigt, dass im Krisenfall nur die National­staaten wirklich Schutz bieten, und das dürfte einen Renationalisierungs­schub auslösen. Andererseits hat die Seuche auch deutlich gemacht, dass die Heraus­forderungen nur in internationaler Kooperation bewältigt werden können. Wird Corona die EU weiter schwächen oder im Gegenteil viel stärker zusammen­schweissen? Letzteres scheint nicht weniger plausibel.

Schliesslich und endlich erzwang das Virus zwar in fast allen Ländern die Ausrufung des Notstands und suspendierte die demokratischen Grund­rechte. Aber ein breit gestreuter autoritärer Schub lässt sich bisher nicht feststellen. Die traditionellen Regierungs­parteien konnten ihre Handlungs­fähigkeit unter Beweis stellen, während die Rechts­populisten gelitten haben. In der Bundes­republik erhält die Kanzlerin wieder so viel Zustimmung wie zu ihren besten Zeiten, die AfD hingegen hat stark verloren. Wenn es wirklich drauf ankommt, verlieren Protest­parteien ganz offensichtlich an Charme. Leben und Tod will man den Freaks dann doch nicht in die Hände legen.

Zwar gewann schon lange vor dem Ausbruch von Corona ein autoritärer Politikstil rund um den Globus an Terrain. Die Demokratie schien bedroht und tendenziell auf dem Rückzug. Die Befürchtung, dass eine Jahrhundert­krise diese Entwicklung nur verschärfen und beschleunigen könne, schien gut begründet. Momentan jedoch machen sich die gegen­läufigen Kräfte bemerkbar.

Das ist auch ein Grund, weshalb es ein so starkes Zeichen ist, dass die breiten Demonstrationen gegen Rassismus nun sogar die Schweiz erreicht haben. Sicher: Der senile und der halbsenile Teil des Schweizer Kommentariats ist immer noch damit beschäftigt, den nationalen «Mohrenkopf» zu verteidigen, als wäre er die leibhaftige Gotthard-Festung. Geistige Landes­verteidigung 2.0. Aber die Mobilisierung, die gegen strukturellen Rassismus und für Respekt gegenüber unseren rund 100’000 Mitbürgern of Color ein Zeichen setzen will, ist ungleich relevanter.

In einem Podiumsgespräch, das die Republik und die Zürcher Festspiele diese Woche veranstaltet haben, legte der Soziologe Harald Welzer dar, dass hier letztlich ein Generationen­konflikt ausgetragen wird. Mit den «Fridays for Future»-Demonstrationen – und in der Schweiz auch mit dem Frauenstreik – wurden zivil­gesellschaftliche Kräfte mobilisiert, die ihre Dynamik nicht zuletzt aus einer generationen­gebundenen Repolitisierung schöpfen und die parteilichen Kräfte­verhältnisse bereits entscheidend modifiziert haben. Mit der Black-Lives-Matter-Bewegung eröffnet sich neben der Klima­politik und der Gleich­stellung ein weiteres Feld, auf dem dieser Konflikt nun relevant wird. Das ist eine Entwicklung, die weitreichende Effekte haben könnte.

Es herrscht so viel Zukunfts­ungewissheit wie noch nie. Das Virus kann jederzeit wieder aufflackern, die Wirtschafts­krise ist schwerwiegend. Doch der Sommer kann beginnen. Wir haben politische Ressourcen, um diese Zukunft zu gestalten.

Illustration: Alex Solman

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