Rassismus in der Schweiz – die Fakten

Die aktuellen Diskussionen über Rassismus und Polizeigewalt offenbaren: Die Schweizer Öffentlichkeit weiss zu wenig über die Vergangenheit – und ihre Folgen für die Gegenwart. Sechs Lektionen Nachhilfe für eine bessere Debatte.

Von Andrea Arežina, Elia Blülle, Anja Conzett und Carlos Hanimann, 19.06.2020

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Viele tun sich schwer damit, über Rassismus zu reden. Eine Auseinander­setzung mit der kolonialen Vergangenheit der Schweiz? Ein kritischer Umgang mit aktuellen Diskriminierungs­formen? Fehlanzeige.

Das gipfelte vergangenen Freitag in der Sendung «Arena» des Schweizer Fernsehens. Unter dem Titel «Jetzt reden wir Schwarzen» erörterten drei weisse Politikerinnen und ein schwarzer Comedian den Rassismus in der Schweiz – und das, obwohl es in der Schweiz Dutzende Expertinnen und Wissenschaftler gibt, die zu Rassismus im Land forschen. Auch wenn in jüngerer Zeit verschiedene Netzwerke und Thinktanks von Menschen mit Rassismus­erfahrungen entstanden sind, scheint sich die Diskussion in der breiten Öffentlichkeit kaum zu bewegen.

Stattdessen verteidigt der Stammtisch alle paar Jahre wieder mit bemerkenswerter Energie überholte Namen für Süssspeisen und Cafés. Die Schweiz braucht dringend Nachhilfe­unterricht in Sachen Rassismus. Ein erster Schritt wäre die Selbst­erkenntnis: Die Öffentlichkeit weiss viel zu wenig über die Vergangenheit – und über die Folgen für die Gegenwart.

1. Die Frage ist nicht, ob es Rassismus gibt, sondern wie und wo er sich zeigt

Die Sozialwissenschaft unterscheidet grob zwischen zwei Formen rassistischer Diskriminierung: der individuellen und der strukturellen. Erstere zeigt sich in rassistisch motivierten Gewalt­taten oder Beleidigungen, Letztere bei der systematischen Benachteiligung von People of Color oder Menschen mit Migrations­geschichte – zum Beispiel auf dem Arbeits­markt oder bei Polizei­kontrollen.

2018 hat das Innendepartement im Bericht «Rassistische Diskriminierung in der Schweiz» der Fachstelle für Rassismus­bekämpfung das letzte Mal zu quantifizieren versucht, wie häufig diese Diskriminierungs­formen auftreten:

  • Jede dritte Person gibt an, zwischen 2013 und 2018 aufgrund ihrer Sprache, Hautfarbe, Nationalität Diskriminierung erlebt zu haben.

  • Diskriminierung wird gemäss der Umfrage am häufigsten im Schul- oder Arbeits­alltag erlebt.

  • Als häufigste Formen von rassistischer Diskriminierung erweisen sich verbaler Rassismus und die Diskriminierung auf dem Arbeits- oder Mietmarkt; Angriffe auf die körperliche Integrität kommen eher selten vor.

In einer weiteren repräsentativen Erhebung des Bundesamtes für Statistik wurde zudem festgestellt, dass rund 51 Prozent der Befragten Rassismus gegen People of Color eher als Rand­phänomen wahrnehmen, und 45 Prozent stimmen der Aussage zu, dass sich People of Color zu oft darüber beklagten, diskriminiert zu werden. Rund ein Viertel der Befragten ist zudem der Ansicht, dass «die Anwesenheit von schwarzen Menschen die Kultur der Schweiz» auf Dauer bedroht.

Die jährlichen Berichte des Beratungsnetzes für Rassismus-Opfer zeigen zudem, dass schwarze Menschen in der Beratung stark vertreten und überdurch­schnittlich häufig von Diskriminierung betroffen sind.

2017 hat ein Team von Juristen der Zürcher Fachhoch­schule im Auftrag der Eidgenössischen Fachstelle für Rassismus­bekämpfung spezifisch den Rassismus untersucht, der sich gegen schwarze Menschen richtet.

Die Wissenschaftler schreiben, dass schwarze Menschen wegen ihrer Hautfarbe «unübersehbar» und «unentrinnbar» unterschiedlichsten Formen rassistischer Diskriminierung ausgesetzt seien – und die Schweizer Bevölkerung an eine Überlegenheit der «europäischen und christlichen Kultur» glaube, dem die rassische Idee eines unzivilisierten Zentral-, West- und Südafrikas gegenüberstehe.

In seiner Studie kommt das Team zum Schluss, dass dem Anti-Schwarze-Rassismus in der Schweiz zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet werde; in der Politik bestehe wenig Einsicht in den Zusammen­hang zwischen gegen­wärtiger rassistischer Diskriminierung und der Kolonial­geschichte. Ausserdem werde institutioneller Rassismus oft als Ausnahme­erscheinung verharmlost, als Fehl­wahrnehmung eingeschätzt oder ganz grundsätzlich infrage gestellt.

2. Die Schweiz hat eine koloniale Vergangenheit, die bis heute wirkt

Spätestens als im britischen Bristol bei einer Black-Lives-Matter-Kundgebung die Statue des Sklaven­händlers Edward Colston vom Sockel geholt und im Hafen entsorgt wurde, ist auch hierzulande die Diskussion um das koloniale Erbe der Schweiz entflammt. Im Baselbiet wurde ein Gedenkstein von Johann August Sutter mit einem Blutlaken verhüllt, Zürich streitet über das Escher-Denkmal am Haupt­bahnhof, weil das Vermögen des Wirtschafts­pioniers laut neuerer Forschung auch auf Sklaven­arbeit gründete.

Wer aufmerksam ist und weiss, wo er suchen muss, findet sie in der Schweiz an vielen Orten: die stillen Zeugnisse der kolonialen Verstrickungen der Schweiz. Sie stehen als bauliche Überreste neben Autobahneinfahrten, als Denkmäler vor Bahnhöfen und als Steinpaläste auf Dorfplätzen.

Die Schweiz, eine Kolonial­macht also ohne Kolonien?

Lange Zeit herrschte die Meinung vor, die Schweiz habe mit dem trans­atlantischen Sklaven­handel, mit dem Rassismus des kolonialen Zeitalters nichts zu tun gehabt, weil sie selbst keine Kolonien besass.

Der Historiker Hans Fässler hat diese Ansicht (die noch heute verbreitet ist) bereits vor 15 Jahren widerlegt, als er «Eine Reise in Schwarz-Weiss» vorlegte und darin anhand verschiedener «Ortstermine» zeigte, wie die Schweiz von der Sklaverei profitierte.

Die Verstrickungen mit dem Kolonialismus und dem transatlantischen Sklaven­handel sind vielfältig: Der Auswanderer Johann Sutter beispielsweise handelte zur Schulden­tilgung mit indigenen Sklaven, wie Recherchen der Historikerin Rachel Huber zeigen. Der IKRK-Gründer Henry Dunant wiederum war als Kolonial­unternehmer in Algerien tätig, wie sich im Standard­werk «Postkoloniale Schweiz» nachlesen lässt. Andere Schweizer heuerten als Söldner in fremden Kolonien an, in Schweizer Städten fanden sogenannte Völker­schauen statt, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es gar Stimmen, die vom Bund eigene Kolonisierungs­projekte forderten (was allerdings vom Bundesrat als zu aufwendig eingeschätzt wurde, Stichworte: Meeranschluss und Flotte).

Nicht zuletzt waren Schweizer auch an kolonialer Wissens­produktion beteiligt, wenn sie sich wie der Basler Mediziner Carl Passavant auf Afrika­reisen begaben, dort nach «Ursprünglichem» suchten und mit Schädel­vermessungen hofften, zur Klärung von «Rassen­fragen» beizutragen.

In diesem Zusammenhang gab es in den letzten Jahren eine grössere Kontroverse um eine Walliser Bergspitze, die nach dem bekannten Gletscherforscher Louis Agassiz benannt ist. Der Historiker Hans Fässler wollte das Agassizhorn umbenennen lassen, weil Agassiz nicht nur Naturforscher, sondern auch ein führender Rassist und Rassen­theoretiker war, der 1850 in den USA Sklavinnen fotografieren liess, um damit die Minder­wertigkeit von schwarzen Menschen zu beweisen.

Eines der Bilder zeigt einen Sklaven namens Renty, der vermutlich aus dem Kongo stammte. Die Fotografien befinden sich bis heute im Besitz der Universität Harvard. Letztes Jahr reichte die mutmassliche Ur-Ur-Ur-Enkelin deshalb Klage gegen die amerikanische Elite-Universität ein. Derweil wurde Fässlers Bestreben, das Agassizhorn in Rentyhorn umzutaufen, von den zuständigen Gemeinden stets abgelehnt.

Einen Erfolg konnte Fässler allerdings verbuchen: In Neuenburg wurde der Louis-Agassiz-Platz umbenannt. Er heisst heute Tilo-Frey-Platz – benannt nach der ersten schwarzen Parlamentarierin der Schweiz.

3. Rassistische und postkoloniale Stereotype sind tief in unserer Kultur verankert – zum Beispiel in Kinderbüchern

In vielen Schweizer Apotheken liegt das Kinder­magazin «Junior» auf, das bald seinen 70. Geburtstag feiert. In der aktuellen Ausgabe gibt es auch ein «Malen nach Zahlen»: Das fertige Bild zeigt einen grossen Löwen in einer ausgetrockneten Landschaft. Daneben: eine Lehmhütte mit Strohdach und ein schwarzer Mann, der breit grinsend auf die Raubkatze zeigt.

Eine harmlose Darstellung?

Keineswegs, sagt Rahel El-Maawi, ehemalige Dozentin der Hochschule Luzern. Das Bild lasse die Betrachterin an ein «Afrika» erinnern, das wild und unzähmbar, archaisch und rückständig sei. «Das sind kolonial gelernte Zuschreibungen an einen ganzen Kontinent, die auch heute noch präsent sind. Ein Beispiel dafür, wie rassistische Bilder subtil weiter­getragen werden.»

Kinderliteratur und Hörspiele eigneten sich wegen ihrer scheinbaren Harmlosigkeit sehr gut, um zu untersuchen, wie postkoloniale Vorstellungen im Schweizer Alltags­wissen eingelassen seien, schreibt die Kultur­forscherin Patricia Purtschert in «Postkoloniale Schweiz». Sie hat die «Globi»-Kinderbücher auf rassistische und stereotype Darstellungen untersucht. Bereits im ersten «Globi»-Band aus dem Jahr 1935 begleiten Kinder den blauen Vogel auf einer Weltreise und sehen, wie er mit Gewehr, Patronen­gurt, Jägerhut und Pfeife afrikanische Stämme besucht, die im Blätter­rock auftreten. Der Verleger wehrte sich trotz massiver Kritik über Jahrzehnte, wenigstens das N-Wort aus den Büchern zu kippen. Die postkoloniale Vorstellung afrikanischer Stämme aber ist geblieben.

Auch die neueren «Globi»-Ausgaben brächten alte wie neue koloniale Narrative zum Vorschein, schreibt Purtschert. In der Ausgabe «Globi bei den Nashörnern» aus dem Jahr 2007 verfolgt der blaue Vogel einen Bösewicht – einen Chinesen, der mit Nashörnern handelt.

Globi spürt ihn auf, lässt ihn festnehmen und wird als Held gefeiert: Der Schweizer Vogel beschützt die unbeholfenen Ostafrikaner vor dem verschlagenen Chinesen, der deren Ressourcen klauen will. Dabei werde nicht nur der schwarze Mensch, sondern auch die Figur des Chinesen in einer unverhohlen kolonialen Weise gezeichnet, schreibt Purtschert.

4. Rassistische Erfahrungen werden verharmlost und negiert

Im letzten September berichteten schwarze Menschen in der Zeitung «Bund» von ihren Rassismus­erfahrungen in der «linken Stadt Bern». Dshamilja Gosteli, eine schwarze Sekundar­lehrerin, erzählte, wieso es so schwierig sei, den Alltags­rassismus zur Sprache zu bringen. «Wenn ich problematische Vorfälle thematisiere, werde ich häufig nicht ernst genommen», sagte sie. «Das Problem wird kleingeredet, oder ich werde als hyper­sensibel dargestellt. Manchmal wird mir auch vorgeworfen, dass ich schlechte Stimmung verbreite, wenn ich sage, dass für mich etwas nicht in Ordnung ist.»

Eine Erfahrung, die viele schwarze Menschen in der Schweiz teilen, sagt Stefanie Boulila. Die Dozentin am Institut für Sozio­kulturelle Entwicklung der Hochschule Luzern hat dieses Phänomen in einer Studie untersucht. Sie schreibt, dass Rassismus auch im öffentlichen Diskurs immer wieder «normalisiert» und «kleingeredet» würde.

In ihrer Studie verweist sie beispielhaft auf die Rassismus­debatten im Jahr 2013. Damals hat die Aargauer Stadt Bremgarten ein Rayonverbot für Asylsuchende ausgesprochen, die mehrheitlich aus afrikanischen Ländern stammen. Die Gemeinde hat ihnen untersagt, die Badeanlage, die Sportplätze, die Schul- und Kindergarten­standorte sowie die Kirchen mit ihren Vorplätzen, das Casino oder die Mehrzweck­halle zu besuchen. Der Aufschrei in der internationalen Presse war gross und wurde dadurch verstärkt, dass die afroamerikanische Fernseh­grösse Oprah Winfrey in ihrer Sendung zeitgleich von einer rassistischen Erfahrung in Zürich berichtete. Sie erzählte, wie sich die Verkäuferin einer Luxus­boutique geweigert habe, ihr eine 35’000 Franken teure Krokodil­ledertasche zu zeigen.

Renommierte Pressetitel wie der «Spiegel» oder «The Independent» nahmen die Vorfälle in Bremgarten und Zürich als Beleg für die weite Verbreitung von Rassismus in der Schweiz und kritisierten den laschen Umgang mit dem Thema. Das kam nicht gut an. Viele Schweizer Journalisten und Politikerinnen taten die Vorwürfe der schwarzen Community und der internationalen Presse als «unfair» und «übertrieben» ab. In einer SRF-Sendung machte sich die weisse Komikerin Birgit Steinegger mit Blackface – einer rassistischen Karikatur – über Oprah Winfrey lustig. Als Kritik laut wurde, verteidigte der Fernseh­sender den Sketch. Der damalige SRF-Unterhaltungschef Christoph Gebel meinte, man habe mit dem Witz die angebliche «Rassismus­hysterie» auf die Schippe nehmen wollen.

Ein Muster, das sich wiederholt. Vor zwei Wochen hat die Migros einen Schaumkuss aus dem Sortiment gestrichen, dessen Produzent seit Jahren am Namen für sein Produkt festhält. Obwohl der rassistische Hintergrund des Begriffs «Mohrenkopf» historisch längst geklärt ist, debattiert das Land zum wiederholten Mal, ob man sich von der Bezeichnung verabschieden solle. Viele halten die Debatte für «hysterisch» und «übertrieben» und sehen im Hersteller der Süssspeise eine Art Märtyrer.

Diese erneute Diskussion um den Schaumkuss zeige deutlich, wie stark in der Schweiz Rassismus negiert und individualisiert werde, sagt Stefanie Boulila. «Institutionen und Menschen müssen dahin­gehend sensibilisiert werden, dass existierende rassistische Prägungen und rassistisches Wissen in der Schweiz erkannt wird als das, was es ist: eine gewaltvolle Konstruktion, die negative Konsequenzen für die Betroffenen hat.»

5. Racial Profiling ist eine ständige Tatsache – und kein bedauerlicher Einzelfall

Am 5. Februar 2015 wird Mohamed Wa Baile auf dem Weg zur Arbeit am Haupt­bahnhof Zürich von der Polizei angehalten. Wie der Polizeirapport später zeigt, erscheint Wa Baile den Polizisten verdächtig, weil er dunkelhäutig ist und den Blick von den Polizisten abwendet. Sie vermuten, er befinde sich ohne Aufenthalts­bewilligung in der Schweiz. Ein klassischer Fall von Racial Profiling.

Wa Baile hat solche Kontrollen schon häufig über sich ergehen lassen, aber an diesem Morgen ist er sie leid. Er weigert sich, den Ausweis zu zeigen. Das bringt ihm einen Strafbefehl wegen Nicht­befolgung einer polizeilichen Anordnung ein. Wa Baile zieht den Strafbefehl bis vor Bundes­gericht weiter – erfolglos. Aber Wa Bailes Weigerung, den Ausweis zu zeigen, wird zum juristischen Modellfall, an dem sich die Praxis rassistischer Polizei­kontrollen aufzeigen lässt. Derzeit ist Wa Bailes Fall am Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte hängig.

Dass Racial Profiling eine Tatsache ist, wissen alle Nicht-Weissen in der Schweiz. Im Zug oder zu Fuss, am Bahnhof oder an der Grenze, morgens auf dem Weg zur Arbeit oder abends im Park beim Feierabend­bier: Die Polizei hat, wann immer sie will, das Recht, auf den nicht weissen Körper zuzugreifen, ihn anzuhalten, zu kontrollieren, je nachdem gar in Fesseln zu legen und abzuführen – gewaltsam oder unter Androhung von Gewalt.

Kaum jemand streitet ab, dass Racial Profiling existiert. Auch Polizei und Politik nicht. Sie schieben allerdings die Verantwortung auf einige wenige Polizisten ab, statt es als institutionelles und strukturelles Problem zu begreifen. Racial Profiling als bedauerliches «Fehlverhalten Einzelner». Dabei ist die Praxis, Menschen aufgrund ihrer Haut- und Haarfarbe zu kontrollieren, nichts anderes als amtlich bewilligter, strukturell begünstigter, gewaltsamer Rassismus.

Dass diese Form rassistischer Gewalt durch die Polizei in der Öffentlichkeit negiert werde, sei ein grosses Problem, sagt die Rassismus­forscherin Stefanie Boulila. Sogar UN-Gremien hätten in der Vergangenheit Besorgnis über die Praxis des Racial Profilings in der Schweiz geäussert. «Aber das kommt weder in der politischen noch der öffentlichen Debatte an, was klar mit der kategorischen Verneinung von Rassismus überhaupt zu tun hat», sagt Boulila.

Entgegen verbreiteter Meinung betrifft Racial Profiling längst nicht nur schwarze Männer. Eine Studie der kollaborativen Forschungsgruppe Racial Profiling beispielsweise zeigt, dass sehr viel breitere Bevölkerungs­gruppen Erfahrung mit Racial Profiling machen: Schwarze, People of Color, Jenische, Sinti, Roma, Asiatinnen, Muslime.

Racial Profiling existiert hierzulande auch nicht erst seit gestern. Ihre Anfänge nimmt die (polizeiliche) Praxis bereits zwei Jahre nach der Gründung der Schweiz, als 1850 «Heimatlose», «Zigeuner» und «Vaganten» per Gesetz sesshaft gemacht werden sollten. Ihre Fortsetzung, schreibt der Sozialanthropologe Rohit Jain im Sammelband «Racial Profiling», findet die Praxis in «Zigeuner­registern» und der «Zwangs­versorgung» von Jenischen, Sinti und Roma, die in der Aktion «Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute ihren skandalösen Höhepunkt hatte.

Die Abwehr eines inneren und äusseren Fremden zieht sich wie ein roter Faden durch die Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts: die Institution der «Fremdenpolizei» mit ihren Assimilations­forderungen, das Ausländer­gesetz und das Saisonnier­statut, die «Überfremdungs­debatten» der späten 1960er-Jahre, die heutigen Ein- und Ausgrenzungen von Asylsuchenden, die Abwehr von Migrantinnen an den polizeilich gesicherten EU-Aussen­grenzen und deren Vertreibung im Landesinnern, indem schwarzen Menschen und People of Color aufgrund ihres Aussehens eine illegale Anwesenheit unterstellt wird – wie im Fall Wa Baile.

Jain schreibt: «Die Geschichte der Polizei ist schon seit ihren Anfängen im frühmodernen Staat eine Geschichte der Registrierung, Kontrolle und Ausweisung von internen und externen «Fremden» – also eines Racial Profilings (im weiteren Sinne).»

6. Medien bilden die Diversität nicht ab

Das erste Bild, das Google zeigt, wenn man nach «Eritreer in der Schweiz» sucht, ist eine Gruppe schwarzer Männer, die vor einer Asylunterkunft im Tessin auf dem Boden sitzen. «Über 30-mal ist es von den Medien als Symbolbild verwendet worden – es ist das Bild, das am häufigsten auftaucht, wenn über Eritreer berichtet wird», sagt Okbaab Tesfamariam vom Eritreischen Medienbund. Auch sonst würden fast immer nur Männer gezeigt – Frauen, Kinder, Jugendliche unsichtbar gemacht. «Mit der Realität stimmt das nicht überein», sagt Tesfamariam.

Auch andere Fachstellen und Expertinnen auf dem Gebiet der Rassismus­forschung sind sich einig: Die mediale Repräsentation deckt sich nicht mit der Lebens­realität von People of Color und Schwarzen in der Schweiz.

Dass ethnokulturelle Minderheiten in den Medien einerseits unter­repräsentiert sind, andererseits überproportional negativ über sie berichtet wird, stellen Studien aus der Schweiz und dem Ausland immer wieder fest. Repräsentative Untersuchungen darüber, wie Schweizer Medien spezifisch über People of Color berichten, gibt es hingegen keine.

«Weil die Schweizer Kolonial­geschichte noch immer zu wenig erforscht ist, hinkt auch die Forschung über People of Color hinterher», sagt Denise Efionayi-Mäder, die Vizedirektorin des Schweizerischen Forums für Migrations- und Bevölkerungs­studien der Uni Neuenburg. Sie ist eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die zum Thema Anti-Schwarze-Rassismus in der Schweiz geforscht haben. «Es existieren noch nicht einmal verlässliche Zahlen darüber, wie viele People of Color in der Schweiz leben.»

Auch die Medien hinken hinterher. Im Rahmen ihrer Studien hat Efionayi-Mäder festgestellt, dass Medien im Zusammenhang mit Anti-Schwarze-Rassismus wenig und nur sehr punktuell berichten – zum Beispiel, wenn es um Racial Profiling geht oder um den Gebrauch rassistisch aufgeladener Begriffe.

Efionayi-Mäder hält es für ausserordentlich wichtig, dass Anti-Schwarze-Rassismus gerade auch in den Medien genauer untersucht wird: «Anti-Schwarze-Rassismus hat eine andere Beschaffenheit als der Rassismus, der sich beispielsweise gegen jemanden aus dem Balkan richtet – auch wenn es durchaus Parallelen gibt.» Natürlich lasse sich Rassismus nicht in jedem Bereich auseinander­dividieren, sagt die Forscherin, «aber damit wir eine differenzierte und zielgerichtete Debatte führen können, müssen wir uns der verschiedenen Facetten des Rassismus in der Schweiz bewusst sein.»

Beim medialen Diskurs beobachtet Efionayi-Mäder, dass die Westschweiz der Deutschschweiz voraus ist. So sei vor kurzem ein ausgewogener Dokumentar­film über Nigeria auf dem französisch­sprachigen Kanal des SRF gezeigt worden. «In der Deutschschweiz wurden kurz darauf nur die problematischen Ausschnitte ausgestrahlt – jene, die Aufmerksamkeit generieren», sagt Efionayi-Mäder. Das solle nicht heissen, dass die Westschweiz weniger rassistisch sei, aber die Repräsentation von People of Color sei höher. Dadurch habe auch der Diskurs eine andere Qualität.

«Bei den meisten Interview­anfragen merke ich, dass die Journalisten glauben, die Frage, ob es Rassismus gebe, müsse kontrovers besprochen werden», sagt Fatima Moumouni. Die Spoken-Word-Poetin leitet Workshops für Rassismus-Sensibilisierung. Sie beobachtet, dass bei jeder medialen Rassismus­debatte der Hardcore-Hardliner als gesetzt gilt. «Und dann müssen wir erst mal den Beweis erbringen, dass wir Rassismus in der Schweiz erleben.» Das kostet wertvolle Zeit. Bei der ohnehin knappen Sendezeit, die People of Color in der Schweizer Medien­landschaft zugestanden werde, zähle aber jede Sekunde, jedes Wort.

Das unsensible Vorgehen der Medien­schaffenden führt Moumouni auf zwei Dinge zurück: Einerseits herrsche eine erstaunliche Unkenntnis über die Fakten in Sachen Rassismus. «Die journalistische Grund­aufgabe kann unter diesen Umständen gar nicht geleistet werden.» Anderseits komme ein schiefes Demokratie­verständnis zum Vorschein, das davon ausgehe, dass auch die abstruseste Stimme gehört werden müsse. «Würden die diversen Realitäten des Landes in den Medien tatsächlich widergespiegelt, könnte man das ja machen», sagt Moumouni. «Aber die Schweizer Medien­landschaft ist nicht divers.»

Als Moumouni vor ein paar Jahren mit dieser Begründung ablehnte, mit einem SVP-Exponenten in der «Arena» über Rassismus zu debattieren, entgegnete ein damaliger SRF-Moderator, sie müsse einfach mal Gesicht zeigen. Sie sei schuld, dass es kein Gespräch über Rassismus gebe. Die Sendung wurde abgesagt.

Glossar

Alltagsrassismus, der. Alltägliche Benachteiligung, Herab­würdigung oder Ausgrenzung einer ethnokulturellen Minderheit durch einzelne Angehörige der Dominanz­gesellschaft. Wichtig: Alltagsrassismus ist nicht deckungsgleich mit rassistisch motivierter Diskriminierung – weder Bewusstsein noch böse Absicht sind Voraussetzung für alltags­rassistische Handlungen. Diese können aber als genauso schlimm empfunden werden.

Institutioneller Rassismus, der. Diskriminierung ethno­kultureller Minderheiten, die von Gesetzen, gesellschaftlichen Normen und staatlichen Institutionen ausgeht (zum Beispiel → Racial Profiling). Auch struktureller Rassismus genannt.

Racial Profiling, das. Diskriminierungsform, bei der Polizeibeamte Personen aufgrund einer wahrgenommenen ethnokulturellen «Andersartigkeit» als verdächtig kategorisieren. Auch Racist Profiling genannt.

Black Lives Matter. Zu Deutsch: Schwarze Leben zählen. Internationale Bewegung, die 2013 in der afroamerikanischen Gemeinschaft entstanden ist, nachdem der Mörder des afroamerikanischen Teenagers Trayvon Martin freigesprochen worden war. Oft in der Kurzform BLM verwendet.

Anti-Schwarze-Rassismus, der. Rassismus, der sich je nach Definition gegen → People of Color richtet, respektive gegen afrodeszendente Menschen. Im Artikel steht der Begriff für erstere Leseart in Abgrenzung zu → Schwarze.

Schwarze. Afrodeszendente Menschen, die nicht als weiss wahrgenommen werden. Kann auch synonym für → People of Color verwendet werden.

People of Color, die / Person of Color, die. Wichtig: Kann als stehender Begriff nicht ins Deutsche übersetzt werden. Der Begriff stammt ursprünglich aus der US-amerikanischen Bürger­rechtsbewegung der 1960er-Jahre und ist eine Wieder­aneignung und positive Umdeutung der abwertenden und rassistisch konnotierten Zuschreibung «Colored». Oft in der Kurzform PoC verwendet – zunehmend auch in der erweiterten Form Black Indigenous People of Color; kurz BIPoC.

Schaumkuss, der. Süssspeise, bestehend aus Waffel­boden, Schaumzucker und Schokoladen­überzug. Auch Schokokuss genannt.

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