Binswanger

Kopflos

Die Auseinandersetzung der USA mit Rassismus hat die Schweiz einst zum weltweit modernsten Staat gemacht. Und heute? Schokokuss-Gate.

Von Daniel Binswanger, 13.06.2020

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Soziale Netzwerke beschädigen leider auf nachhaltige Weise die allgemeine Vernunft und Einordnungs­kompetenz: Das wäre die optimistische These. Es liegt gar nicht am Internet; sondern jenseits aller Medien­effekte hat sich eine kollektive Verblödung breitgemacht, die in der digitalen Echokammer lediglich hörbarer und transparenter wird. Das wäre die pessimistische Variante.

Lassen wir es offen, aber fest steht, dass das Twitter- und Facebook-Gezänk um den «Mohrenkopf», das Schoko­gebäck der Firma Dubler, nun wirklich verblüffende Blüten treibt. Sicher, um nur die meistangeführten Argumente aufzugreifen: Entwicklungs­hilfe für Afrika wäre effizienter als sprachliche Korrektheit. Und ohne jeden Zweifel: Durch die Umbenennung des Dubler-«Mohren­kopfs» würde die Welt nicht fundamental eine andere. So tönt es ja jetzt auf allen Kanälen.

Aber genau das ist der Punkt. Wem wird etwas weggenommen, wenn man den Schokokuss jetzt eben Schokokuss nennt? Sind Konventionen der Höflichkeit und des Respekts nicht immer eine von Zufälligkeiten geprägte, zeitgebundene Verhandlungs­sache und per definitionem eben nicht eine Notwendigkeit? Liegt der Sinn von symbolischen Gesten nicht genau darin, dass es um nicht mehr geht als um ein Symbol? Es ist bizarr, mit welch schäumendem Eifer nun der «Mohrenkopf» verteidigt wird – mit dem Argument, dass seine Benennung ja gar nicht wichtig sei. Der Schweizer Detail­handel vollzieht eine überfällige Geste des Respekts und des Antirassismus, nicht mehr und nicht weniger. Wem wird dadurch etwas weggenommen? Wer fühlt sich durch so etwas allen Ernstes bedroht?

Dass die Junge SVP sofort zur Schokokuss-Verteilaktion geschritten ist, muss weiter nicht verwundern. Beelendend ist allerdings, dass auch die Junge FDP an keinerlei Hemmungen leidet, gegen «Gutmenschengetue» zu Felde zu ziehen. Wie gross ist der ideologische Abstand zwischen dem national­konservativen und dem freisinnigen Nachwuchs eigentlich noch? Wie liberal ist in ihrem Kern die Wertebasis der heutigen FDP? Sind Antirassismus und Respekt für ethnische Minderheiten nicht die unverbrüchliche Grundlage von liberaler Freiheitlichkeit?

Gerade mit Blick auf die Geschichte stellen sich diese Fragen. Ein exzellenter Weg, sich mit ihnen auseinander­zusetzen, ist das neue Buch von Jo Lang, «Demokratie in der Schweiz». Der Historiker und ehemalige grüne Nationalrat hat ein sehr kenntnis­reiches und thesen­starkes Buch über die Geschichte der Schweizer Demokratie geschrieben. Er macht keinen Hehl daraus, dass sein Blick auf die Vergangenheit von den Dringlichkeiten der Gegenwart gelenkt wird. Das lässt manche seiner historischen Herleitungen gewagt erscheinen. Aber er entwirft ein konsistentes und im besten Sinne engagiertes Geschichtsbild.

Langs Grundthese besteht darin, dass die verschiedenen Schübe des Demokratisierungs­prozesses, der die Schweizer Geschichte auszeichnet, stets von starken sozialen Bewegungen voran­getrieben wurden. Den wichtigsten Schritt machte die Eidgenossenschaft gemäss Lang mit der Total­revision der Bundes­verfassung von 1874, welche die Schweiz für einige Jahrzehnte zum weltweit fortschrittlichsten Staats­wesen überhaupt werden liess. Möglich wurde der Modernisierungs­schub von 1874 durch die Allianz dreier Bewegungen: der Zürcher Demokraten, welche den volks­demokratischen Aufstand gegen das «System Escher» und die Wirtschafts­liberalen anführten; der freisinnigen Kultur­kämpfer, die den katholischen Konservatismus zurück­drängen wollten; und der Grütlianer, demokratische Arbeiter­vereine, die sich der sozialen Frage annahmen.

Brisant ist aus heutiger Sicht, welches der erste Anlass ist, der diese Gruppierungen zusammen­finden liess: die Bewegung der Solidarität mit den Vereinigten Staaten im Frühjahr 1865. Das Ende des Sezessions­krieges und die unmittelbar darauf folgende Ermordung des Sklaven­befreiers Abraham Lincoln führten zu starken Sympathie­aufwallungen unter den progressiv-demokratischen Kräften der Schweiz. Im 19. Jahrhundert war man himmelweit davon entfernt, zu glauben, die Rassismus­frage sei keine helvetische Angelegenheit.

Während reaktionäre Katholiken sich dagegen verwahrten, dass Juden und Schwarze mit guten Christen auf einer Stufe stehen sollten, und während die Zürcher Wirtschafts­liberalen (und ihr Hausblatt, die NZZ) aufgrund der textil­industriellen Verbandelungen stillschweigend für die Südstaaten Partei nahmen, scharten sich die Demokraten und die Radikalen hinter dem Banner von Emanzipation und Menschen­rechten. Es entstand eine politische Dynamik, die schliesslich zu einer neuen Schweizer Verfassung führen sollte.

Man kann den Amerikanischen Bürgerkrieg natürlich nicht unmittelbar mit den heutigen Protesten gegen Rassen­diskriminierung in den USA vergleichen. Aber es ist dennoch frappierend, wie sich die Schweizer Reaktionen auf die historischen Umbrüche in Amerika gewandelt haben: Damals entwickelte sich eine progressive Volks­bewegung, heute ein Twitter-Shitstorm. Und eine Schokokuss-Verteilaktion.

Politisch am brisantesten an Jo Langs Demokratie­geschichte ist seine Interpretation der Periode von 1992 bis 2020, das heisst der Zeit des rasanten Aufstiegs und – gemäss Lang – des sich abzeichnenden Abstiegs der SVP blocherscher Prägung. Lang ist überzeugt, dass heute erneut zwei soziale Bewegungen existieren, deren Dynamik die Schweizer Politik in eine fundamental neue Richtung lenken wird: einerseits die Klimajugend, andererseits die Frauen­bewegung, wie sie sich im Frauenstreik neu manifestiert hat. Die zahlreichen Abstimmungs­niederlagen, welche die SVP in den letzten Jahren hinnehmen musste, und die letzten Wahlen, die zu einem sehr viel grüneren und weiblicheren Parlament geführt haben, scheinen diese Theorie zu bestätigen. Allerdings drängt sich die Frage auf: Ist hier der Wunsch Vater des Gedankens?

Langs Einordnung des blocherschen Rechts­populismus ist insofern originell, als er ihn in der Kontinuität der geistigen Landes­verteidigung situiert. Die SVP erscheint in dieser Inter­pretation nach dem Ende des Kalten Krieges als die letzte Bastion des traditionellen Schweizer Nachkriegs­konservatismus, und Blochers eigentliche Leistung besteht darin, dass es ihm zum ersten Mal gelungen ist, den katholischen und den protestantischen Konservatismus unter einem Dach zu vereinen und die SVP auch in den katholischen Stamm­landen zu verankern.

Allerdings weist auch Lang darauf hin, dass die SVP sich mit ihrem Anti-Classe-politique-Diskurs und ihrem Widerstand gegen Konsens und Konkordanz vom traditionellen Konservatismus fundamental unterscheidet. Ist die heutige SVP tatsächlich die Endmoräne der Schweizer Sonderfall-Ideologie, oder ist sie nicht vielmehr die Vertreterin eines durchaus zeitgemässen Rechts­populismus, dessen von Eliten-Bashing und Xenophobie geprägte Agenda inzwischen in zahlreichen Ländern zum Blühen gekommen ist?

Sicherlich zutreffend ist die Beobachtung, dass die klima- und die gleichstellungs­politischen Herausforderungen den National­konservatismus in Bedrängnis bringen dürften. Aber gerade die Klima­politik könnte auch einen Backlash provozieren. Entscheidend wird die Frage sein, wer die Kosten für die CO2-Reduktion zu tragen hat. Werden die ökologisch aufgeschlossenen, bürgerlichen Kräfte und die Linke einen Deal finden für eine akzeptable Lastenverteilung?

Mit dem Referendum gegen das CO2-Gesetz steht ein erster Test ins Haus.

Illustration: Alex Solman

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