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Der Punkt mit dem Strich

10.06.2020

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Liebe Leserin, lieber Leser

Seit letztem Samstag dürfen wieder erotische Dienstleistungen angeboten werden, in Etablissements oder auf der Strasse. Die Sexarbeiterinnen waren durch das wochenlange Berufsverbot hart getroffen worden. Glücklich waren jene, die noch ein Dach über dem Kopf hatten, von den Betreibern nicht auf die Strasse gestellt wurden. Sie harrten aus, warteten – manche von ihnen ohne einen roten Rappen in der Tasche.

Das Bundesamt für Gesundheit erkannte die prekäre Lage: Zusammen mit dem Schweizer Sexwork-Netzwerk Prokore wurde eine Koordinationsstelle geschaffen, die im ganzen Land mit Rat, Tat und Geld aushalf. Und die nun auch für den Neuanfang ein Schutzkonzept erarbeitete. Dazu gehört: Den Namen und die Telefonnummer der Kunden erfassen, Desinfektionsmittel, Schutzmasken und Handschuhe sind zur Verfügung zu stellen, nach jedem Kunden muss die Wäsche gewechselt und das Zimmer gelüftet werden.

Melanie Muñoz, Geschäftsleiterin der Solothurner Fachstelle Lysistrada, hat am Samstagabend am Strassenstrich von Olten den ersten Arbeitstag der Sexarbeiterinnen nach der unfreiwilligen Pause mitverfolgt. Sie berichtet:

«Das Wetter war für die Arbeit auf der Strasse denkbar ungünstig, es goss wie aus Kübeln. Trotzdem traf ich rund zwanzig Sexarbeiterinnen an, und es herrschte ein reger Autoverkehr. Darunter dürften sich allerdings viele Gaffer befunden haben, vor allem am frühen Abend. Eine Mitarbeiterin und ich brachten den Frauen neben Kondomen, Gleitmitteln und Intimtüchern erstmals auch Schutzmasken, Desinfektionsmittel, Latexhandschuhe, eine Liste für die Freier-Koordinaten, einen Kugelschreiber und Couverts mit.

Mir fiel auf, dass die Frauen auf dem Strassenstrich, die draussen oder im Auto arbeiten, schlechter über die neuen Corona-Regeln informiert waren als ihre Berufskolleginnen, die in den naheliegenden Häusern Zimmer mieten und von den Betreiberinnen instruiert worden waren.

Grosse Sorge bereitet den Sexarbeiterinnen die Auflage, Namen und Telefonnummern der Kunden aufzuschreiben und die Datenblätter aufzubewahren. Die Frauen befürchten, dass die Freier nicht kooperieren. Und wie wollen sie verhindern, dass die Kunden falsche Namen oder falsche Telefonnummern angeben? Aber sie müssen es tun, es ist eine Vorschrift. Das Tragen von Schutzmasken hingegen ist nur eine Empfehlung.

Ich habe den Sexarbeiterinnen klargemacht, dass die Polizei kein Recht dazu hat, die Kundenliste anzuschauen. Das darf bei einem Infektionsfall nur der kantonsärztliche Dienst.

Ausserdem habe ich den Frauen empfohlen, nur kurze Dienstleistungen anzubieten, das verringert das Ansteckungsrisiko. Und ich rate ihnen, einen Corona-Preisaufschlag einzufordern; so, wie das andere Gewerbetreibende auch tun. Ob das gelingt, wird sich erweisen. Ich werde es in den nächsten Tagen und Wochen erfahren. Und ich werde auch hören, ob die Kunden die neuen Auflagen und Schutzmassnahmen akzeptieren und mittragen.»

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen insgesamt 31’011 Personen positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 23 Fälle mehr. Im Zusammenhang mit einer laborbestätigten Covid-19-Erkrankung sind bisher 1675 Personen verstorben.

WHO krebst zurück: Nachdem die Wissenschaftlerin Maria Van Kerkhove von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Montag behauptet hatte, dass asymptomatische Corona-Übertragungen nur selten wären, zog sie ihre Aussage gestern wieder zurück. Es sei ein «Missverständnis» gewesen, erklärte Kerkhove. Ihre Bemerkung repräsentiere nicht den offiziellen WHO-Standpunkt. Sie habe sich bei ihrer Einschätzung nur auf ein bis zwei Studien bezogen und auf Daten mancher Staaten, die noch nicht öffentlich seien.

Ende der deutschen Grenzkontrollen: Ab dem nächsten Dienstag dürfen EU-Bürgerinnen und Schweizer wieder ohne Kontrolle und Vorschriften nach Deutschland einreisen. Das hat der deutsche Innenminister Horst Seehofer heute Mittwoch dem Bundeskabinett mitgeteilt. Für Einreisende aus EU-Staaten, die noch mehr als 50 Corona-Fälle pro 100’000 Einwohnerinnen aufweisen, gilt in den meisten Bundesländern weiterhin Quarantänepflicht.

Die interessantesten Artikel:

  • Wir sind keine Roboter: Eine Pflegefachfrau erzählt auf ihrem Blog von ihrem Corona-Alltag und stellt sich selber viele Fragen. «Was bedeutet es denn für die Pflegenden einer Abteilung, wenn innerhalb weniger Tage einfach fünfzehn von fünfundzwanzig betreuten Menschen sterben würden? So viel Abschied, so viel geballtes Loslassen innerhalb von wenigen Stunden? Wie kann man das aushalten, vor allem, wenn man seinen Job ernst nimmt?»

  • Übersterblichkeit: Die «New York Times» zeigt in einer Grafik, wie viel tödlicher Corona im Vergleich zu anderen bekannten Epidemien und zu Naturkatastrophen ist – und wo besonders viele Menschen an einer Sars-CoV-2-Infektion gestorben sind. So viel sei hier verraten: Die Autorinnen schreiben, dass Bergamo weltweit wohl am härtesten von der Pandemie betroffen gewesen sei. Im März starben in der italienischen Provinz 6,67 Mal mehr Menschen als normal.

Frage aus der Community: Können Klimaanlagen das Corona-Virus verbreiten?

Das Bundesamt für Gesundheit schreibt, dass Klimaanlagen aus heutiger Sicht kein erhöhtes Risiko für eine Ansteckung mit dem neuen Coronavirus darstellen, solange sie korrekt betrieben und unterhalten würden. Eine gute Klimaanlage kann sogar die Gefahr einer möglichen Übertragung von Viren durch Aerosole mindern, da sie Belastungen in der Raumluft verdünnt. Wichtig ist, dass die Lüftungen oder Klimaanlagen mit Frischluftzufuhr betrieben werden. Das Bundesamt für Gesundheit rät insbesondere auch, Räume ohne Klimaanlagen oder Lüftungssysteme regelmässig und ausreichend zu lüften, um die Ansteckungsgefahr durch Aerosole zu senken.

Zum Schluss ein Blick nach Brasilien, wo sich Präsident Bolsonaro die Pandemie schönzensieren wollte – und scheiterte

Die brasilianische Regierung hat sich am Wochenende dazu entschieden, die Gesamtzahlen der Corona-Fälle und -Opfer nicht mehr zu veröffentlichen. Stattdessen hat das Gesundheitsministerium nur noch die Zahl der letzten 24 Stunden bekanntgegeben – und alle Datensammlungen, welche die Entwicklung der vergangenen Monate aufgezeigt haben, aus dem Netz gelöscht. Nach den USA verzeichnet kein anderes Land der Welt so viele Corona-Tote wie Brasilien. Gemäss offiziellen Angaben sind bis heute rund 38’500 Menschen an einer Corona-Infektion gestorben. Vor allem in den urbanen Armenvierteln verbreitet sich das Sars-CoV-2 beängstigend schnell. Bisher haben sich in Brasilien über 742’000 Personen angesteckt.

Die hohen Zahlen sind die Quittung einer verfehlten Politik: Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat sich lange geweigert, Massnahmen zu ergreifen. Stattdessen verharmlost er das Virus als «Grippchen» und attackiert die Teilstaaten, die Abstandsregeln und Geschäftsschliessungen veranlassten. Sein Versuch, jetzt auch noch die Statistiken zu zensurieren, scheiterte aber kläglich. Das Oberste Gericht Brasiliens verfügte Anfang Woche, dass das Gesundheitsministerium unverzüglich wieder alle Daten über die Zahl der Infektionen und die Entwicklung der Pandemie zur Verfügung stellen müsse. Einer der Richter attackierte Bolsonaro auf Twitter scharf: «Die Manipulation von Statistiken ist ein Manöver totalitärer Regimes.» Seit heute Mittwoch sind alle Zahlen wieder online.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Elia Blülle und Brigitte Hürlimann

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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