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Wir müssen reden

03.06.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Man kann und muss darüber streiten, wie strikt die Schutzkonzepte zu bleiben haben, aber wer würde den Cappuccino auf der Café-Terrasse nicht als unaussprechliches Glück empfinden? Die Sonne auf dem Gesicht. Und vor allem: das Gespräch und die physische Begegnung mit anderen Menschen. Gerade in dieser Zeit denkt Republik-Autor Daniel Binswanger ganz besonders an diejenigen, die eben nicht auf den Terrassen sitzen.

Diejenigen, die zu einer Risikogruppe gehören.

Es war schon die ganze Lockdown-Phase über eines der schwierigsten Probleme: Wie soll man mit besonders gefährdeten Menschen umgehen? Und ganz besonders: Wie soll man mit gebrechlichen Senioren umgehen?

Es ist unbestritten, dass sie besonders geschützt werden müssen, weil die Dinge im Ansteckungsfall eine schlimme Wendung nehmen können. Aber ist es richtig, die zu schützenden Personen deshalb wegzusperren? Darf man – zu ihrem eigenen Besten – über ihre Freiheit einfach verfügen? Müsste Fürsorge nicht so gestaltet sein, dass sie die Menschen ermächtigt, anstatt sie aus dem Verkehr zu ziehen? Müsste man nicht zuallererst auf die Stimmen derer hören, die es zu schützen gilt, anstatt sie in die Isolation zu stecken und die Kommunikation zu kappen?

Besonders im Hinblick auf die Bewohnerinnen von Alters- und Pflegeheimen haben sich diese Fragen gestellt. Mit der Gefährdung von alten Menschen lässt sich nicht spassen: Über 50 Prozent der Todesfälle im Kanton Zürich betreffen Heimbewohner. Recherchen der Republik haben im Übrigen offengelegt, dass die Massnahmen zur Abschottung gebrechlicher Senioren teilweise zweifelhaft und vermutlich ungenügend waren. Aber was haben eigentlich die Betroffenen dazu zu sagen? Was denken die Menschen, denen wir diesen Schutz angedeihen lassen und die doch vollwertige Mitglieder unserer Gemeinschaft sind?

Nichts könnte wichtiger sein, als ihre Stimmen zu hören. Gerade jetzt, wo zwar auch in Altenheimen die Sicherheitsvorkehrungen wieder zaghaft gelockert werden, wo aber weiterhin die Vorsicht walten muss. Während draussen das Leben schon fast wieder den gewohnten Lauf nimmt.

Man muss mit den Menschen reden. Auf beeindruckende Weise haben das die Schauspielerin Alicia Aumüller und der Videokünstler Yannik Böhmer vom Zürcher Schauspielhaus getan. In der Zürcher Tagespresse wird ja gerade verbreitet, die grossen Kulturinstitutionen hätten versagt, hätten sich – gemästet mit Subventionen! – während des Lockdown auf der faulen Haut ausgeruht, seien nicht system-, sondern irrelevant. Ich finde, man muss wirklich ahnungslos sein, um so etwas zu behaupten. Was auch bei Pressevertretern, die sich Kulturjournalisten nennen, leider gelegentlich vorkommt.

Aumüller und Böhmer haben stattdessen gearbeitet – und den Filmessay «Window Talks» geschaffen. Gemeinsam mit Theaterleuten in Tallinn, Hamburg, Mailand und Zürich haben sie an verschiedenen Orten Europas alten Menschen das Wort gegeben. Durch Fenster, auf Balkonen, mit Sicherheitsabstand im Freien. Entstanden sind faszinierende Gespräche.

Annemarie Heuer in Hamburg zum Beispiel begegnet ihrer Situation mit hanseatischer Haltung und bewundernswerter Gefasstheit. Sie hat schon andere Dinge erlebt. Als junges Mädchen litt sie an Tuberkulose, musste zehn Monate in einem Gipsbett liegen und wurde nur von einer einzigen Freundin manchmal besucht.

Oder Marje Särme, die sich an die Bombardierung von Tallinn erinnert und noch heute in panische Angst verfällt, wenn ein Düsenjäger zu hören ist. «Das hier ist anders», meint sie. «Ich weiss, dass ich auf mich aufpassen kann.»

Es sind berührende, kluge, interessante Zeugnisse. Aus verschiedenen Kontexten, aus verschiedenen Ecken Europas. Von Menschen, die tatsächlich unseren Schutz verdienen. Es ist wichtig und im fundamentalsten Sinn systemrelevant, mit diesen Menschen im Gespräch zu bleiben. Nicht deshalb, weil wir sie versorgen müssen.

Sondern weil sie uns etwas zu sagen haben.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen insgesamt 30’893 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 19 Fälle mehr. Im Zusammenhang mit einer laborbestätigten Covid-19-Erkrankung sind bisher 1660 Personen verstorben.

App im Ständerat: Die kleine Kammer des Parlaments hat heute die gesetzliche Grundlage für die Schweizer Contact-Tracing-App gutgeheissen. Insbesondere hat sie beschlossen: Via App ausfindig gemachte Kontakte von Infizierten sollen Anspruch auf einen kostenlosen Covid-19-Test haben – und erweist sich die App als nicht mehr notwendig oder zu wenig wirksam, dann soll der Bundesrat sie einstellen. Am Montag behandelt der Nationalrat die vorgeschlagene Gesetzesänderung.

Italienreise möglich: Die Schweiz hält an den Beschränkungen gegenüber Einreisen aus Italien fest, Italien jedoch hat seine Grenze zur Schweiz (und zu anderen Staaten) einseitig geöffnet. Wer hinfährt, sollte sich auf lokal geltende Massnahmen einstellen – in der Lombardei etwa sind Masken obligatorisch. Möglicherweise muss man als ausländische Touristin in Quarantäne – Details hierzu gaben die Behörden noch nicht bekannt. Nach einer Rückkehr in die Schweiz jedoch gibt es vorerst keine obligatorische Quarantäne. Der Bund rät aber von nicht notwendigen Reisen ab.

Wo die Fallzahlen (wieder) steigen: Brasilien vermeldet erstmals mehr als 1200 Todesfälle in einem Tag – und auch die Ansteckungszahlen scheinen ungebremst weiter zu steigen. Etwa gleich schnell breitet sich die Epidemie in Indien aus. Trotzdem stehen die ersten Lockerungen an: Das Land könne sich den Lockdown schlicht nicht mehr leisten, schreibt SRF. Südkorea hat seine Massnahmen in Seoul nach einem erneuten Ausbruch hingegen erst gerade wieder verschärft.

Ein paar Perspektiven von jenen, die die Lockerungen weniger locker nehmen können

Frage aus der Community: Liegt es am guten Wetter, dass die Fallzahlen trotz Lockerungen so niedrig bleiben?

Ein «mulmiges» Gefühl hatten manche Wissenschaftlerinnen vor der Öffnung von Läden und Restaurants, andere sagten zur Republik, es «sollte – hoffentlich – gut kommen». Nun, mehrere Wochen nach dem grossen Lockerungspaket, schauen viele von uns mit erleichtertem Erstaunen auf die Schweizer Fallzahlen.

Hilft uns das Wetter? Möglicherweise, und zwar aus zwei Gründen.

Erstens: Unter warmen, trockenen Bedingungen überlebt das Virus schlechter, gleichzeitig ist der Mensch besser dagegen gerüstet.

Dazu gibt es vereinzelte Studien, die im März und April publiziert wurden, sowie eine noch nicht wissenschaftlich begutachtete Arbeit von Forschenden aus den USA und Dänemark. Die Wissenschaftlerinnen sammelten Infektions- sowie Wetterdaten aus aller Welt und fanden einen Zusammenhang zwischen steigenden Temperaturen und sinkenden Ansteckungsraten. Der Zusammenhang sei aber relativ «bescheiden», schreiben sie.

Das heisst: Warmes Wetter könnte die Ausbreitung des Virus an manchen Orten und in manchen Monaten verlangsamen. Gewisse Orte auf dem indischen Subkontinent etwa dürfen auf die heissen Monate hin auf eine nur mehr halb so hohe Übertragungswahrscheinlichkeit hoffen. Diese Prognosen kommen natürlich, wie jede Prognose, mit einer gewissen Portion Unsicherheit.

Zudem werde der prognostizierte Effekt allein aufgrund des warmen, trockenen Wetters in der Regel nicht ausreichen, um den Reproduktionswert Rt unter 1 zu bringen, schreibt das Forschungsteam.

Zweitens: Viele Menschen verhalten sich bei «schönem» Wetter anders: Sie verbringen mehr Zeit draussen, und wenn sie drinnen sitzen, lüften sie die Räume häufiger. Beides trägt dazu bei, Ansteckungen über Aerosole zu vermeiden (das sind die Kleinsttröpfchen, die in der Luft hängen und die man zu Beginn der Pandemie unterschätzt haben könnte).

Hinzu kommt: Viele Menschen verhalten sich vermutlich nach wie vor vorsichtiger. Sitzen etwas häufiger auf dem Velo statt im Tram, halten etwas mehr Distanz. Verteilen etwas weniger Küsschen und Umarmungen. Und waschen sich die Hände häufiger als noch im Januar.

Zum Schluss – wieder einmal – ein Blick nach Schweden

Was tut man als Regierung, wenn die Pandemie anrollt? Man beschliesst Massnahmen. Aufgrund des Wissens, das man hat, und vor dem Hintergrund vieler Unbekannten.

Es folgen drei mögliche Szenarien:

  1. Man ist in seiner Antwort auf die Pandemie extrem präzise und schneidert die Massnahmen genau so, dass sie die Balance zwischen maximalem Schutz (vor dem Virus) und minimalem Eingriff (in Grundrechte und wirtschaftliche Freiheit) perfekt treffen. (So präzise kann man ob der anfangs vorliegenden Ungewissheiten vermutlich nur durch Zufall sein.)

  2. Man wird im Nachhinein dafür kritisiert, dass man zu starke Massnahmen ergriffen hat – und man den Schutz der Bevölkerung auch mit weniger einschränkenden Massnahmen hätte gewährleisten können. Das ist, was noch während des Shutdown vielen Regierungen mit Blick auf den schwedischen Umgang mit der Pandemie vorgeworfen worden war. (Hierfür fehlt notabene die Evidenz).

  3. Man wird im Nachhinein dafür kritisiert, dass man zu schwache Massnahmen ergriffen hat – und so die Bevölkerung zu wenig schützen konnte. Das ist, was man Schweden immer wieder vorgeworfen hat, wobei der federführende Epidemiologe Anders Tegnell immer wieder dagegenhielt. Bis jetzt. Erstmals äusserte er sich am Radio selbstkritisch: Würde man erneut auf diese Krankheit stossen und wüsste man, was man heute wisse, so würde man irgendwo zwischen den schwedischen Massnahmen und denen, die anderswo ergriffen worden seien, landen, sagte er.

Was Tegnell aber auch sagt: Man wisse immer noch nicht, welche von all den Massnahmen den besten Effekt erzielten. Vielleicht könne man nun, da anderswo die Beschränkungen Schritt für Schritt aufgehoben würden, beobachten und lernen.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Daniel Binswanger, Marie-José Kolly

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Seit gestern und nach 11 Shutdown-Wochen dürfen Pariser Café-Betreiber wieder Gäste empfangen. Ein Espresso an der Bar oder an einem Tisch im Innern ist zwar noch nicht möglich, auf Terrassen darf man aber sitzen. Un petit noir an der Sonne steht für mehr als zwei Schluck Koffein: Nach den vielen Wochen des confinement, während deren man etwa in Paris lediglich eine Stunde und innerhalb eines 1-Kilometer-Radius an die frische Luft durfte, dürften sich diese petits plaisirs anfühlen wie ein neuer Lebensbeginn.

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