Strassberg

Seien Sie ruhig erschüttert

Wer auf Kritik empfindlich reagiert, wer angewiesen ist auf Respekt, gilt heute schnell als unsouverän. Doch ist es falsch, vom Urteil anderer abhängig zu sein?

Von Daniel Strassberg, 02.06.2020

Synthetische Stimme
0:00 / 11:44

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

«Nimm es nicht persönlich», höre ich immer wieder. Zum Beispiel, wenn mir beim Lesen von Kommentaren zu meiner Kolumne Puls, Blutdruck und Atem­frequenz derart in die Höhe schnellen, dass man schon von einer kleineren Panik­attacke sprechen muss. Ich muss gestehen, ich nehme es sehr persönlich. Ich bin auch sonst ziemlich empfindlich. Aber die Isolation durch den Lockdown hat alles noch schlimmer gemacht.

Da ist einer aber leicht kränkbar, denken Sie jetzt vielleicht, narzisstisch gekränkt, wenn Sie vom Fach sind. Souverän ist das jedenfalls nicht: So viel muss einer aushalten, der an die Öffentlichkeit tritt. Aber bitte klicken Sie jetzt nicht weg, auch wenn Sie bereits etwas peinlich berührt sind.

Denn genau darum soll es heute, im Jahr des 250. Geburtstags von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, gehen. Um Anerkennung. Hegel war nämlich der grosse Theoretiker der Anerkennung.

Offen Anerkennung zu wollen, sie sogar zu brauchen, ist heute verpönt, und Menschen, die um Anerkennung buhlen, sind immer ein wenig peinlich. Unlängst sagte ein renommierter Psychologie­professor in einem Interview über Männer, die schlecht altern: Vor allem narzisstische Männer, die viel Bestätigung von aussen brauchen, sind anfällig [Affären zu beginnen; Anmerkung des Autors].

Nicht das Bashing des alten weissen Mannes liess mich stocken, daran habe ich mich als alter weisser Mann gewöhnt. Auch der fahrlässigen Verwendung psychiatrischer Diagnosen begegne ich mittler­weile relativ gelassen. Nein, es waren die Worte «von aussen». Wäre eine Bestätigung «von innen» vorzuziehen? Wäre die ständige Wieder­holung des Mantras «Was bin ich für ein toller Hecht» durch eine leise innere Stimme weniger narzisstisch als eine Affäre mit einer jungen Frau?

Oder meint der Professor, die guten Alten hätten das alles nicht mehr nötig, weil sie gelassen sind und in sich ruhen? Da ging einer in sich, schrieb einst der Philosoph Ernst Bloch, und blieb zu lange drin.

Genau darauf scheint es hinauszulaufen: so lange in sich zu gehen, bis man auf andere Menschen emotional nicht mehr angewiesen ist. Wer dieses Stadium der Coolness erreicht hat, gilt als besserer Mensch, reifer, freier, souveräner. Auf Anerkennung für Leistung darf man selbst­verständlich hoffen, wird hier wohl eingewendet werden.

Eigentlich ist das doch merkwürdig. Sind Frauen nicht satisfaktions­fähig? Stehen Riesen­boni oder gerahmte Diplome auf der Anerkennungs­skala höher? Es scheint eine klare Hierarchie legitimer Anerkennungs­verleiher zu geben. Ganz unten steht die Anerkennung durch Frauen, ganz oben diejenige durch das Nobelpreis­komitee. Bei der Verleihung des Nobel­preises ist verhaltene Freude erlaubt, sofern man darauf achtet, allen zu danken, die eigentlich für den Preis verantwortlich sind. Bis hin zu Hasso, dem Haushund. Doch wer souverän über allem steht, übertrifft selbst den Nobelpreisträger.

Da trifft es sich ausgezeichnet, dass der Psycho­markt genau diese Form der Autonomie feilbietet: Sei, wer du bist, lerne Nein zu sagen, lerne loszulassen, lerne dich durchzusetzen, sei achtsam auf deine Bedürfnisse, mach dich von gesellschaftlichen Konventionen unabhängig, kauf niemals Nike-Schuhe, nur weil das andere auch tun. Und vor allem: Bleib immer professionell! Vielleicht ist es kein Zufall, dass autistische Menschen zurzeit als Film­helden und Film­heldinnen boomen. Sie erfüllen dieses Autonomie-Ideal perfekt. Nie würden sie von einem einmal gefassten Vorsatz abweichen, nur um jemandem zu gefallen (obwohl sie, anders als Sheldon in «The Big Bang Theory», oft sehr darunter leiden, wenn sie aus dem Rahmen fallen).

Wie erreicht man solche Unabhängigkeit von der Meinung anderer? Durch Meditation, dänk. In meiner näheren Umgebung gibt es kaum noch jemand, der nicht meditiert, und das mit dem erklärten Ziel, persönliche Wider­fahrnisse nur noch zu betrachten und sich nicht mehr von ihnen erschüttern zu lassen, Selbst­zweifel auszuräumen und nur noch auf die innere Stimme zu hören (die nach Rousseau die Stimme der Natur und deshalb wahr ist). Wer kennt nicht das Gebet des amerikanischen Theologen und Philosophen Reinhold Niebuhr: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unter­scheiden? Sicher hing das bei so einigen im Teenager­zimmer neben einem mystischen Gedicht von Khalil Gibran.

Nur allzu gern würde ich aus der Beobachtung, dass emotionale Unberührbarkeit zu einem gesellschaftlichen Ideal sonder­gleichen geworden ist, eine scharfe kultur­kritische Zeit­diagnose basteln. Aber leider ist das unmöglich, weil es dieses Ideal in der europäischen Geistes­geschichte schon seit etwa dreitausend Jahren gibt. Es kam wahrscheinlich von Indien nach Griechenland – wie heute auch wieder. Bei den Griechen hiess es ataraxia oder apatheia (ja, genau: unsere Apathie), was wörtlich übersetzt Unerschütterlichkeit und Nicht-Leiden heisst.

Auf den ersten Blick ging es also damals wie heute um Leidens­verminderung. Wer sich emotional nicht involviert, leidet ohne Zweifel weniger: kein Liebes­kummer, keine Verlust­ängste, keine Angst, sich blöd anzustellen. Nur noch innere Ruhe. Was man dabei an Leben verpasst, davon ist nie die Rede. Doch die Leidens­verminderung ist nur die subjektive Seite der Gleichmut, objektiv steht das reibungs­lose Funktionieren der Gesellschaft auf dem Spiel. Wem alles egal ist, der beteiligt sich sicher nicht an einem Aufstand.

Was heute die Psycho­therapie verspricht, gebot früher die Philosophie: Verzichte auf Ruhm, Ehre, Reichtum. Und widme dich der Erkenntnis, dann wirst du nicht mehr leiden. Bei Baruch de Spinoza klingt das so:

Nachdem die Erfahrung mich gelehrt hat, dass alles, was im täglichen Leben sich gewöhnlich ereignet, nichtig und wertlos ist, […] so beschloss ich endlich zu erforschen, ob es irgend­etwas gäbe, das ein wahres Gut sei, dessen man teilhaftig werden könne.

In der Tat, von der Genuss­sucht wird das Gemüt so umspannt, als ob es in einem richtigen Gut ruhte. Wird unsere Erwartung aber einmal enttäuscht, dann entsteht die grösste Trauer.

Schliesslich ist die Ehre deshalb ein grosses Hindernis [unseres Vorhabens], weil wir, um sie zu erlangen, unser Leben notwendiger­weise nach den herrschenden Ansichten der Menschen richten müssen, also das zu vermeiden haben, was sie allent­halben vermeiden, und das aufzusuchen haben, was sie allenthalben aufsuchen.

Ich sah, dass ich mich in höchster Gefahr befand und [deshalb] gezwungen war, ein Heilmittel, mag es auch unsicher sein, mit aller Kraft zu suchen, ganz so wie ein Todkranker, der seinen sicheren Tod voraussieht, wenn nicht ein Heilmittel angewendet wird, nach diesem Mittel, obschon es unsicher ist, mit aller Kraft zu suchen gezwungen ist, liegt doch in ihm seine ganze Hoffnung.

Aus: Baruch de Spinoza: «Über die Verbesserung des Verstandes», Einleitung.

Das gewöhnliche Leben, in dem es auch mal Enttäuschungen gibt und in dem man sich manchmal anpassen muss, ist offenbar eine tödliche Krankheit. Diese Haltung war während langer Zeit für die Philosophie charakteristisch. Bis Hegel kam und die folgenden Zeilen schrieb:

Das Selbstbewusstsein ist an und für sich, indem, und dadurch, dass es für ein anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.

Aus: G. W. F. Hegel, «Phänomenologie des Geistes».

Das ist typischer Hegelsprech. Es hat keinen Sinn, mehr davon zu zitieren, besser man übersetzt ihn, wie meine Mutter zu sagen pflegte, von Deutsch ins Verständliche. Was Hegel in seinem berühmten Herr-Knecht-Kapitel der «Phänomenologie des Geistes» sagen will, ist Folgendes: Ein Mensch wird erst im vollen Sinne des Wortes ein Individuum, wenn er von anderen als Individuum anerkannt wird. Das bringt ihn in einen schier unlösbaren Konflikt: Er wird nur unabhängig – selbstständig bei Hegel –, wenn er abhängig wird.

Wie dieser Konflikt zu lösen ist, sei im Moment dahin­gestellt, Hegel braucht dafür etwa vierhundert Seiten, und was dabei heraus­kommt, ist meines Erachtens nicht besonders überzeugend. Wichtig aber ist, dass Hegel als Erster unsere existenzielle Abhängigkeit von der Anerkennung durch andere erkannt hat.

Was versteht Hegel unter Anerkennung? Wahrscheinlich genau das Gegenteil von dem, was heute unter Anerkennung verstanden wird. Um die Auszeichnung als Mitarbeiter des Monats, eine Lohn­erhöhung oder ein Diplom für heraus­ragende Leistungen geht es ihm nicht. Axel Honneth, ein Nachfolger von Max Horkheimer als Leiter des Frankfurter Instituts für Sozial­forschung, unterscheidet drei Formen der Anerkennung: emotionale Zuwendung, Anerkennung der Rechte anderer und Solidarität, also Akzeptanz unter­schiedlicher Lebensentwürfe.

Das trifft zweifellos zu, nur denke ich, dass Hegel noch etwas Grund­legenderes anspricht: Anerkennung bedeutet, nicht in einem echolosen Raum leben zu müssen, sondern gehört, gesehen und berührt zu werden. Das ist aber an die Bedingung geknüpft, dass das Individuum, das Anerkennung will, sich auf ein anderes Individuum einstellt, das es anerkennen soll. Ohne Anpassung keine Individualität – aus diesem Paradox kommen wir nicht heraus. Hegel beschreibt diesen Wider­streit sogar als Kampf auf Leben und Tod. Möglicherweise hat die merkwürdige Apathie und Paralyse, die viele Menschen, die ich kenne, während des Lockdown überkommen haben, mit der Echo­losigkeit zu tun, die auch Zoom und Skype nicht überwinden können.

Die ständige Feier der Autonomie hingegen leugnet diesen Konflikt. Abhängigkeit wird als narzisstisch verunglimpft, während Unabhängigkeit bejubelt wird. Die meisten Patienten, die bei mir um eine Therapie nachsuchen, sind darüber erschüttert, dass sie erschüttert sind, wenn ihnen etwas widerfährt. Dass sie, um Shylock, Shakespeares Kaufmann von Venedig, zu paraphrasieren, bluten, wenn sie gestochen werden, dass sie lachen, wenn sie gekitzelt werden, dass sie sterben, wenn sie vergiftet werden, dass sie sich rächen wollen, wenn sie beleidigt werden.

Ein groteskes Extrem des Unberührbarkeits­ideals findet sich in den neuesten psychiatrischen Diagnose­manualen: Wer mehr als vier Wochen um einen geliebten Menschen trauert, ist krank und braucht Medikamente. Diese Art der Apathie führt zu genau jener Entsolidarisierung und Entpolitisierung der Gesellschaft, die dem Kapitalismus entgegen­kommt. Ironischer­weise legitimiert dieser das Ideal der völligen Unabhängigkeit mithilfe sogenannt östlicher, sich antikapitalistisch gebender Weisheit. Der Kapitalismus war schon immer verdammt gut darin, seine Gegner zu verein­nahmen.

Deshalb meine Bitte: Nehmen Sie es wieder persönlich! Das bisschen Leiden lohnt sich.

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!