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02.06.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Als die ersten Corona-Fälle in der Schweiz auftauchten und klar wurde, dass unser Leben für die nächsten Monate völlig anders aussehen würde, wollten Tausende Menschen helfen. Sie boten sich als freiwillige Einkaufshelfer für Seniorinnen oder als Einsatzkräfte beim Bund an. Eine Welle der Solidarität, die viele berührte – und trotzdem oft ins Leere lief. Denn viele ältere Menschen wollten keine Unterstützung. Sie gingen lieber selber Lebensmittel einkaufen, wollten nicht noch den letzten Grund verlieren, ihre Wohnung zu verlassen.

Nicht wenige potenzielle Helfer waren enttäuscht. In den Nachrichten war von einer nie da gewesenen Katastrophe die Rede. Doch statt einer Mission bekamen sie die Order, weiter zu Hause Netflix zu schauen – und den Hinweis, auch das sei heldenhaft. Die Zeit verging, die Laune wurde eher nicht besser.

Wenn man mit Julia Meier und Luca Fábián spricht, schaut man dagegen in strahlende Gesichter. Die beiden jungen Juristen hatten im März fast zur selben Zeit eine Idee, die sofort auf grosse Nachfrage stiess. «Das Recht in der Schweiz hat sich vermutlich noch nie so schnell entwickelt wie in diesen Tagen», erzählt Luca Fábián im Skype-Gespräch mit der Journalistin Charlotte Theile. «Sonst sind wir eine sehr gemächliche Entwicklung gewohnt», ergänzt Julia Meier. «Es gibt Vernehmlassungen, alle betroffenen Parteien werden gehört. Jetzt galten von einem Tag auf den anderen neue Regeln.» Die Schlussfolgerung lag nahe: Tausende Menschen in der Schweiz standen plötzlich vor Situationen, die juristisch unklar waren. Sie brauchten Hilfe.

«Nur drei Tage nachdem ich die Idee einer kostenlosen Rechtsberatung hatte, gab es genug Mitstreiterinnen. Am 1. April ging corona-legal.ch live», erinnert sich Luca Fábián. Von da an ging alles sehr schnell:

Selbstständige, Familien, Mieter, Arbeitgeberinnen, Konsumenten stellen Anfragen – und Jura-Studentinnen, Professoren, Anwältinnen antworten. In vielen Fällen kann das Anliegen bereits in einem kurzen Chat oder Telefongespräch geklärt werden. Die komplizierten Anfragen geben Meier und Fábián an Kanzleien weiter, die sich bereit erklärt haben, pro bono zu arbeiten.

Stolz sind die beiden 28-Jährigen vor allem auf ihr Tempo. Inzwischen arbeiten 77 Freiwillige bei Corona-Legal – während der Bürozeiten wird jede Anfrage innerhalb von zwei Minuten gelesen. Mithilfe einer modernen Chat-Software, die die Juristinnen gratis nutzen dürfen, wissen viele schon wenige Minuten nach ihrer Anfrage etwas mehr. «Wir versuchen, besonders die wirklich dringlichen Fälle schnell zu bearbeiten», sagt Meier – also zum Beispiel die Anfrage einer jungen Frau, der wegen Corona gekündigt werden sollte und die sich auf das Gespräch am nächsten Tag vorbereiten wollte.

Mit dieser Art zu arbeiten zeigt Corona-Legal auch, wie Digitalisierung die Arbeitsprozesse von Kanzleien beschleunigen kann. «Ich kann mir vorstellen, dass genau beobachtet wird, was wir machen», sagt Fábián. «Nicht zuletzt, weil es zeigt, was gratis möglich ist.»

Wenn die Corona-Krise vorbei ist, soll corona-legal.ch weiterentwickelt werden. Meier und Fábián sehen sich als «Versuchslabor für neue Arbeitsformen», schon jetzt übernimmt die Plattform auch Anfragen, die nur am Rande mit Corona zu tun haben. «Ich finde vor allem wichtig, dass Hilfe und Solidarität weiter im Vordergrund stehen», sagt Meier. «Nur wenn dieses Ziel klar ist, kann man Freiwillige begeistern.»

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen insgesamt 30’874 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 3 Fälle mehr. Gestorben sind bisher im Zusammenhang mit einer laborbestätigten Covid-19-Erkrankung 1657 Personen.

Detailhandel hat gelitten: Rund –20 Prozent: Um so viel ist der Umsatz im April im Vergleich zum April 2019 zurückgegangen, vermeldet das Bundesamt für Statistik.

Italien hat eine App: «Immuni» heisst die Contact-Tracing-App, die Kontakte von positiv auf Covid-19 getestete Personen via Bluetooth nachverfolgen kann – und die nun heruntergeladen werden kann. Ab dem kommenden Montag werden ihre Funktionen in vier von insgesamt zwanzig italienische Regionen aktiviert: in den Abruzzen, in Ligurien, in den Marken und in Apulien.

Früher(er) G-20-Gipfel? Ein offener Brief von (Ex-)Politikern und Wissenschaftlerinnen fordert einen früheren Gipfel, um ärmeren Ländern zu helfen, denn die Pandemie verstärke die Armut. Sie fordern Schuldenerlasse, Finanzspritzen und Gelder für die Forschung an Impfstoffen. Bisher war geplant, den nächsten G-20-Gipfel im November abzuhalten.

Die interessantesten Artikel

«Hören Sie auf, Experten zur Zukunft nach dem Coronavirus zu befragen», schreibt Mark Lilla, Professor für Geisteswissenschaften der Columbia-Universität, in der «New York Times». «Denn diese Zukunft existiert noch nicht.»

Zurzeit werden Prognosen schnell zur Prophezeiung. Vier Gedanken hierzu fanden wir besonders interessant:

  • Personen, deren Beruf es ist, Prognosen zu erstellen, kennen die damit verbundenen Ungewissheiten. Deshalb legen sie im Kleingedruckten detailliert dar, welche Annahmen der Prognose zugrunde liegen, mit welcher statistischen Zuverlässigkeit sie Schätzungen vornehmen, immer vor dem Hintergrund der verwendeten Daten und Methoden. Gestresste Journalisten und Beamte lesen (oder verstehen) aber nicht immer alle Fuss- und Endnoten – und kommunizieren häufig einfach die auffälligsten Werte.

  • In der Antike war «Orakel» oder «Prophet» ein Hochrisikoberuf. Stellten sich Vorhersagen als falsch heraus, bezahlten die Wahrsager nicht selten mit dem eigenen Leben. Heute äussert sich die Reaktion des Publikums zwar nicht in Blutbädern, wohl aber als schwindendes Vertrauen in Experten, Medien und Regierungen.

  • Warum? Ein Beispiel. Vor 50 Jahren war die Wettervorhersage noch nicht so präzise. Dass die Schule wegen eines Sturms geschlossen wird, erfuhr man als Kind oder Elternteil via Radio oder Fernsehen erst dann, als es schon stürmte. Bis zu dem Zeitpunkt blieb die Unsicherheit, ob der Unterricht stattfinden würde. Heute erwarten wir Sicherheit. Wetterdienste kommunizieren aufgrund von Sturmprognosen schon ein oder mehrere Tage vorab. Bleibt der Sturm dann aus, hagelt es Kritik von Eltern, die vergebens daheim blieben. Und stürmt es, obwohl man sich gegen eine Schliessung entschieden hatte, ebenfalls. (Mit Reaktionen von Regierungen auf die Covid-Welle verhält es sich ähnlich.)

  • Nichts ist vorherbestimmt. Wie viele Menschen an Covid-19 erkranken werden, hängt von unser aller Verhalten ab. Es kommt zum Beispiel auf die Testing- und Tracing-Kapazitäten an, auf künftige Behandlungs­möglichkeiten und die Entwicklung eines Impfstoffs. Die Post-Covid-Zukunft existiert noch nicht – wir werden sie gemeinsam entstehen lassen.

Bei aller Liebe für Daten, Modelle und Projektionen; bei aller Dringlichkeit, heute schon Entscheidungen zu treffen, welche die Zukunft tangieren: Was, wenn wir lernten, etwas mehr Ungewissheit zu akzeptieren?

  • Ein weiteres gutes Argument hierfür liefert Daniel Strassberg heute in seiner Republik-Kolumne. Waren Sie während des Shutdown auch häufiger unsicher, gekränkt, voller Selbstzweifel? Weshalb wir Menschen in der (auch gemässigten) Isolation empfindlicher sind und warum diese (auch etwas peinlichen) Gefühle ganz okay sind.

  • Irgendeine Form von Shut- oder Lockdown haben diesen Frühling Milliarden von Menschen erlebt. Die «South China Morning Post» hat Bewegungsdaten der Tech-Giganten Apple und Google visualisiert: Die interaktiven Grafiken zeigen für Hongkong und 12 Länder, wie stark man sich wo einschränkte – in der Freizeit, beim «systemrelevanten» Einkaufen, im Grünen, bei der Arbeit.

Frage aus der Community: Warum erfährt man nicht genauer, wo neue Infektionen stattgefunden haben? Dann könnte man diese Orte meiden, um sich zu schützen.

Praktisch wäre in der Tat eine zoombare Karte, auf der man sähe: Berner Bärenplatz und Umgebung meiden. In Zürich das Seebecken und in Lausanne das Quartier um die Kathedrale.

Wir haben das Bundesamt für Gesundheit gefragt: «Können Sie sich vorstellen, dass man der Bevölkerung Daten zur Lokalisierung neuer Infektionen zur Verfügung stellt?»

Das Amt schrieb uns heute, dass zwar die Kantone die lokale Situation sehr gut kennen: Sie isolieren zurzeit Personen, die positiv getestet wurden und verfolgen Kontaktpersonen nach, die sich dann ebenfalls in Quarantäne begeben. Nur seien wie das Bundesamt auch die Kantone an die Wahrung des Datenschutzes gebunden – die Wohngemeinde betroffener Personen dürften sie nicht veröffentlichen. Aber: «Das BAG ist daran, die Möglichkeiten einer möglichst kleinräumigen Publikation der Daten mit Datenschutzexperten auszuloten.» Wir bleiben also vorsichtig optimistisch.

Zum Schluss: Ein Akt, solidarisch und eigennützig zugleich

«Der grösste Risikofaktor für einen schweren Verlauf scheint nach allem, was wir bisher wissen, das Alter zu sein» – das schrieben wir Mitte Mai in unserem grossen Corona-Erklärartikel, und die Erkenntnis gilt, ebenso wie die, dass Vorerkrankungen das Risiko eines schweren Covid-19-Verlaufs erhöhen.

Wir sollten jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass auch junge Patientinnen ohne Vorerkrankungen schwer erkranken. Lange hat man hierbei an Einzelfälle gedacht, nun liegen SRF Zahlen der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin vor. Sie bestätigen, dass die Mehrheit der Patienten auf Intensivstationen älter als 60 Jahre war. Nur: «Mehrheit» ist ein weiter Begriff. In diesem Fall machte diese Mehrheit lediglich 60 Prozent aus. Und damit waren 40 Prozent der Intensivpatientinnen jünger als 60. Bei einem Drittel von ihnen lag zudem keine relevante Vorerkrankung vor.

Massnahmen und Vorsicht aller Art – Händewaschen, Abstandhalten – sind also bei jüngeren, gesunden Menschen nicht lediglich als solidarischer Akt zu verstehen. Natürlich auch. Aber ebenso schützen sich die Jungen damit selbst.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Marie-José Kolly und Charlotte Theile

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Wir schieben doch noch eine positive Nachricht nach: Obwohl man im Schnitt jeden Tag gut 2000 Personen getestet hat, fallen in Neuseeland seit zehn Tagen alle Tests auf Covid-19 negativ aus.

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