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Freudig panisch und glücklich entsetzt

27.05.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Heute ist ein besonderer Tag, nicht nur wegen des fantastischen Wetters. Vor ein paar Stunden hat der Bundesrat bekannt gegeben, dass er die Pandemie-Massnahmen noch stärker und schneller lockert, als bislang vorgesehen war – die Details lesen Sie gleich, im Abschnitt mit den Nachrichten des Tages. Zum 19. Juni beendet der Bundesrat auch die «ausserordentliche Lage», die er am 16. März ausgerufen hatte – es ist eine Ewigkeit her.

Bei uns in der Redaktion löst das sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Bei den einen überwiegt die Freude, dass laufend mehr Normalität zurückkehrt. Sie sind sowieso in guter Stimmung und freuen sich, dass sie wieder in der Sonne Waldbeerglace geniessen, auswärts essen und ausgiebig einkaufen können. Andere halten diese beschleunigte Öffnung für ein waghalsiges Experiment, getrieben von der Hybris oder der Naivität (oder beidem) eines bisher meist verschonten Landes. Viele von uns empfinden irgendwie beides, abwechselnd oder gleichzeitig – und halten sich an der Hoffnung fest, dass es gut kommt.

Einmal mehr wissen wir im Moment noch nicht, was jetzt auf uns zukommt. Es wird an uns als Bürgern sein, und auch an uns als Journalistinnen, in nächster Zeit genau hinzuschauen: ob die Schweiz tatsächlich über die Infrastruktur und eine kluge Strategie verfügt, um auf lange Frist mit dem Coronavirus umzugehen. Wer für die politischen Entscheide, die wir fällen, den Preis bezahlt – und wem sie nützen. Was wir allenfalls falsch gemacht haben – als Amtsträger oder Politikerin, als Expertinnen, als Journalisten – und was wir für die Zukunft lernen können.

Kurz: Wir kommen um eine ständige Debatte nicht herum. Und es ist wichtig, dass wir sie mit Respekt und Empathie führen – für Menschen, die Dinge gerade anders wahrnehmen als wir. Und für die Ambivalenz des Lebens in einer komplexen, gerade von einer Pandemie heimgesuchten Welt.

Damit zum üblichen Programm.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen 30’776 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 15 Fälle mehr. Gestorben sind bisher im Zusammenhang mit einer laborbestätigten Covid-19-Erkrankung 1649 Personen.

Bundesrat beschliesst Lockerung: Die Regierung hat heute an einer Medienkonferenz in Bern zahlreiche weitere Lockerungen bekannt gegeben. Darunter diese:

  • «Ausserordentliche Lage» endet: Der Bundesrat beendet die «ausserordentliche Lage» zum 19. Juni und damit auch das Notrechtsregime. Er hat immer noch weitreichende Kompetenzen, um allfällige Massnahmen zu erlassen, doch die Kantone erhalten wieder ein Mitspracherecht.

  • Grössere Gruppen: Das Versammlungsverbot im öffentlichen Raum wird zum 30. Mai gelockert: Neu sind Zusammenkünfte von bis zu 30 statt wie bislang 5 Personen erlaubt.

  • Konzerte erlaubt: Ab dem 6. Juni sind Veranstaltungen mit bis zu 300 Personen wieder möglich. Dazu gehören beispielsweise Konzerte, Ausgang, Theatervorstellungen oder auch politische Kundgebungen. Auch Sportveranstaltungen sind wieder erlaubt; Wettkämpfe mit engem Körperkontakt allerdings bleiben noch bis voraussichtlich zum 6. Juli verboten.

  • Schwimmbäder öffnen: Ebenfalls ab dem 6. Juni dürfen auch Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe wie beispielsweise Zoos, Bergbahnen oder Campingplätze sowie Schwimmbäder wieder öffnen. Auch Erotikbetriebe und Prostitution sind wieder möglich.

  • Grössere Runden in Bars: In Restaurants und Bars wird ebenfalls zum 6. Juni die Beschränkung der Gruppengrösse auf 4 Personen aufgehoben. Auch Livemusik ist wieder erlaubt. Die Gastrobetriebe sollten allerdings die Nachverfolgung von Kontakten sicherstellen; bei Gruppen mit über 4 Personen müssen sie jetzt zwingend die Kontaktdaten eines Gastes aufnehmen.

  • Reisefreiheit für Schengen-Staaten: Ab dem 6. Juli sollen die Reisefreiheit und die Personenfreizügigkeit für alle Schengen-Staaten wieder gelten. Bereits ab dem 8. Juni bearbeitet die Schweiz wieder alle Gesuche um eine Aufenthalts- oder Grenzgängerbewilligung von Erwerbstätigen aus einem EU- oder Efta-Staat. Das gilt auch für Gesuche für Arbeitskräfte aus Drittstaaten.

Milliarden-Aufbauprogramm für Europa: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat heute dem Europaparlament ein 750-Milliarden-Euro-Aufbauprogramm für die Mitgliedsstaaten vorgeschlagen. Mit dem Programm, das unter anderem über CO2-Abgaben und eine Digitalsteuer finanziert werden soll, will von der Leyen die wirtschaftliche Erholung aller Mitgliedsstaaten vorantreiben. Das meiste Geld soll dabei an Spanien und Italien gehen. Sie sprach von «Europas entscheidendem Moment».

Die interessantesten Artikel

  • Viren aus dem Labor: Viren können tatsächlich aus Forschungslabors entweichen und tun dies auch immer wieder – was übrigens nicht bedeutet, dass sie künstlich hergestellt wurden. «Wie sicher ist die Virenforschung?», fragt der «Spiegel» in einer spannenden Analyse.

Frage aus der Community: Mein Fitnessstudio ist offen, allerdings mit einschränkenden Bedingungen. Wir dürfen nur an bestimmten Halbtagen trainieren, man muss für jedes Training Termine reservieren, dieses darf ausserdem nicht länger als 60 Minuten dauern. Man muss umgezogen kommen und darf nicht vor Ort duschen. Ausserdem sind viele Geräte gesperrt. Muss ich das akzeptieren? Spielt es eine Rolle, dass der Trainingsraum auch für medizinische Therapien genutzt wird und sich in einem Spital befindet?

Mit ähnlichen Fragen melden sich derzeit viele Menschen bei uns. Darf man in solchen Fällen vom Fitnessstudio Geld zurückverlangen – oder gleich ganz das Abo kündigen?

Wir haben bei Simon Henseler und Julia Lehmann nachgefragt, Rechtsexperten bei Corona-legal.ch:

Die kurze Antwort:

Kundinnen müssen solche neuen Bedingungen nicht ohne weiteres akzeptieren und dürften einen Anspruch auf eine Reduktion des Abonnementspreises haben – und zwar unabhängig davon, ob sich der Trainingsraum in einem Spital befindet oder nicht.

Die längere Antwort:

Verträge wie ein Fitnessabonnement sind grundsätzlich mit dem Inhalt verbindlich, den die Parteien vereinbart haben. Üblicherweise verspricht das Fitnessstudio dem Kunden die Benutzung des Studios und von dessen Geräten sowie eine gewisse Betreuung beim Training – gegen die entsprechende Bezahlung. Fitnessabonnemente vereinen also Elemente eines Mietvertrages (Benutzung des Studios und von dessen Geräten) und eines Auftrages (Betreuung beim Training). Ohne besondere gesetzliche oder vertragliche Befugnisse ist es nicht zulässig, diese Abmachung einseitig inhaltlich anzupassen.

Der Vertrag und die damit wahrscheinlich vereinbarten Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) können zwar Regeln für Ausnahmesituationen wie die Corona-Krise enthalten, die es der Studio-Betreiberin ausdrücklich erlauben, bestimmte Einschränkungen der Nutzung einzuführen. In Bezug auf die mietrechtlichen Elemente (Nutzung des Studios und der Geräte) sind solche Klauseln in vorformulierten AGB aber unzulässig.

In solchen Fällen kann der Kunde aufgrund mietrechtlicher Bestimmungen von der Betreiberin verlangen, dass der Preis für die Benutzung entsprechend herabgesetzt wird – sprich, eine Reduktion des Abonnementspreises verlangen. Die erwähnten Schutzmassnahmen wie die Benutzung an bestimmten Halbtagen, die Beschränkung der Trainingszeit und die Absperrung der Garderoben und Duschen stellen im mietrechtlichen Verhältnis unseres Erachtens einen Mangel dar und dürften zu einer Reduktion beim Abonnementspreis führen.

Dabei ist für die Herabsetzung des Preises ein Verschulden der Betreiberin nicht notwendig – entsprechend spielt es aus unserer Sicht auch keine Rolle, dass der Trainingsraum für medizinische Therapie genutzt wird und sich in einem Spital befindet.

Bei Verträgen, die auf Dauer ausgerichtet sind, wie zum Beispiel einem Fitnessabonnement, haben die Parteien bei Vorliegen eines wichtigen Grundes ausserdem ein Kündigungsrecht. Das setzt voraus, dass es der kündigungswilligen Partei – das heisst in diesem Fall allenfalls dem Kunden – aus Sicht einer vernünftigen Drittperson unzumutbar ist, den Vertrag bis zur nächsten Kündigungsmöglichkeit oder dessen Laufzeitende aufrechtzuerhalten. Da das Training im Fitnessstudio nach wie vor (wenn auch mit Einschränkungen) möglich ist und die Einschränkungen voraussichtlich nur vorübergehend sind, fehlt es nach unserem Dafürhalten an der Unzumutbarkeit. Es besteht daher kein solches Kündigungsrecht.

Selbst wenn nach unserer ersten Einschätzung ein Anspruch auf teilweise Rückerstattung des bezahlten Abonnementspreises bestehen dürfte, ist es empfehlenswert, zunächst das Gespräch mit dem Fitnessstudio zu suchen. Vielleicht gelingt es ja, eine einvernehmliche Lösung zu finden.

Zum Schluss: We <3 New York

Die Pandemie hat New York so stark getroffen wie wenige Orte der Welt – besonders die armen Stadtviertel wie etwa die Bronx. Um die Bürgerinnen davon zu überzeugen, Masken zu tragen, schalten die Behörden nun zwei Werbespots. Sie sind genauso wild, bunt, hart und schnell wie New York selber – und damit eine Hommage an die Stadt.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Oliver Fuchs und Olivia Kühni

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Vermissen Sie das Tanzen? Nun, Sie haben es gehört: ab Samstag, 6. Juni, dürfen auch die Nachtclubs wieder öffnen – sofern sie denn Präsenzlisten führen und nur 300 Gäste reinlassen. Beides nicht zwingend ein Stimmungskiller. Eher schwierig allerdings: Sie werden um Punkt Mitternacht schliessen müssen.

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