Kiyaks Exil

Sie sind wieder da

Wer auf die «Hygienedemos» blickt, erlebt so manches Déjà-vu. Auch alte Fragen stellen sich wieder. Vielleicht antwortet ja mal jemand?

Von Mely Kiyak, 26.05.2020

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Ich muss zugeben, das erste Mal, seit ich politisch kommentiere, schaue ich auf eine Entwicklung und bin eher interessiert, als dass ich auf Anhieb eine Meinung parat hätte. Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass ich gerade nicht sehr viel verstehe und eigentlich damit beschäftigt bin, das Gesehene zu sammeln und zu sortieren. Ich versuche, meine Erfahrung und meine Lektüre von Büchern, Essays und Reportagen zu den aktuellen Ereignissen auf die Reihe zu kriegen. Mein Eindruck ist, dass es gerade vielen politischen Kommentatoren so geht. Ich spreche natürlich von den deutschland­weiten Demonstrationen, die sich von Woche zu Woche vergrössern.

Ich schaue und denke: Aha, das passiert also, wenn man eine Gesellschaft aus Gründen einer weltweiten Virus­pandemie wirtschaftlich, politisch, kulturell und sozial für sechs Wochen «einfriert». Wenn man Menschen voneinander separiert und ihnen nichts weiter mit auf den Weg gibt als den Hinweis, auf sich und die Lieben aufzupassen, die Hände regel­mässig zu waschen und solidarisch zu sein: Sie beginnen am Rad zu drehen. Das zumindest geschieht gerade in Deutschland. Und weil hier, ganz egal, was getan wird, alles immer besonders gründlich getan wird, dreht man eben auch besonders gründlich durch.

Obwohl die zur Corona-Prävention beschlossenen Beschränkungen stetig gelockert werden, treffen sich in verschiedenen deutschen Städten Bürger aus unter­schiedlichen Milieus mit vielfältigen politischen Anliegen. Die Melange scheint auf den ersten Blick seltsam. Wahlweise meint man in den bis zu 10’000 Personen umfassenden Versammlungen harmlose «Freaks und Spinner» zu erkennen, dann wieder die üblichen Stören­friede, die politisch infiltrierend die Bevölkerung in Aufruhr zu bringen versuchen. Man sichtet je nach Region homöopathische Hardlinerinnen, Reichs­bürger, Rechts­extreme oder solche, die das Grund­gesetz gelesen haben und darauf bestehen, dass es in ihrem Sinne ausgelegt wird. Manche Kommentatorinnen unterscheiden nach Rechts und Links, andere nach Neoliberalen oder Ökos, und wieder andere meinen, ausgelaugte und erschöpfte Eltern zu erkennen.

Ich weiss nicht, inwiefern es Schnitt­mengen zwischen Impf­gegnerinnen und Regierungs­kritikern gibt, was sie trennt oder verbindet und was genau das mit jener Angst zu tun hat, dass die Regierung aus Speichel­proben Bundes­bürger-Klone in geheimen Laboren züchten wolle – um nur eine dieser Geschichten zu zitieren, die gerade kursieren. Eines aber ahne ich: Diese Gruppen hat nicht die Corona-Pandemie geboren, sie waren vorher schon da. Die Impf­gegner sind für sich genommen schon eine heterogene Ansammlung von besorgten Eltern, Gesundheits­radikalen, Pharma­skeptikerinnen und anderen. So auch die Regierungs­kritiker, die in der Person der Bundes­kanzlerin das Ende der christlichen, weissen Menschheit heran­nahen sehen.

Mein Eindruck ist: All diese Demonstrantinnen sehen sich durch die temporären Beschränkungen legitimiert, ihre alten Anliegen und Agenden erneut auf den Tisch beziehungs­weise auf die Strasse zu bringen.

Es handelt sich bei vielem, was diese Leute gerade formulieren, um längst geführte Debatten, die wie alles, was in Deutschland Debatte wird, besonders erbittert ausgetragen werden, bevor sie irgendwie versanden. Es wird gestritten und getalkt, bürger­dialogisiert und gedings­bumst bis zur totalen Erschöpfung. Und dann einfach geschwiegen oder zur nächsten Erregung geeilt.

Und so ist es häufig in Deutschland.

Man könnte in diesem Land fortwährend fragen: Was ist denn nun? Gehört der Islam jetzt zu Deutschland? Warum darf sich «so etwas wie 2015» nicht wieder­holen? War das nun ein richtiger Akt, syrische Flüchtlinge aufzunehmen? Was ist denn jetzt die Empfehlung der Bundes­regierung in Sachen Homöopathie oder Masern­impfungen? Hatte Thilo Sarrazin eigentlich recht damit, dass Muslime ihre bums­dumme DNA vermehren und damit die Deutschen als Volk komplett abschaffen? Und der National­sozialistische Unter­grund, wo ist der denn, wird noch ermittelt? Was ist denn nun das Ergebnis dieser über Jahre, manchmal über Jahr­zehnte währenden Unter­suchungs­ausschüsse, FAZ-Debatten, «Spiegel»-Vorabdrucke, faschistischen Partei­gründungen samt der Entrüstungen und Distanzierungen? Was genau davon findet sich als Gesetz oder abschliessende politische Erklärung?

Es gibt keine eindeutigen Antworten, keine Haltungen, man weiss nie, woran man als Gesellschaft ist. Nicht nur in den grossen Fragen, sondern auch in kleinen konkreten Sachverhalten.

Was halten die Grünen denn nun von Boris Palmer? Ist er ein herzloser Rassist? Was denkt die SPD über Sarrazin, ist er noch SPD-Mitglied, was ist das Ergebnis des Partei­ausschluss­verfahrens, und was gedenkt die deutsche Regierung konkret gegen den russischen Hacker­angriff zu tun, und was war die Abschluss­erklärung über das Abhören der Kanzlerin durch den NSA? Was ist die Konsequenz daraus, dass ein quietsch­rechter Chef des Verfassungs­schutzes die Vorgänge um die grösste rechts­extreme Verbrechens­serie der deutschen Nachkriegs­geschichte unter­suchen sollte? Was bedeutet es, dass man sich über den Rassismus in Deutschland entsetzt zeigt? Was folgt daraus konkret? Es geht nicht darum, dass alle einer Meinung sein müssen. Was aber ist der Konsens, den man im Parlament fand, was ist das resultierende Gesetz nach Hanau, Halle und den anderen Orten, an denen politische Verbrechen stattfanden? Die Konsequenz?

Die Wahrheit ist: Man weiss es nicht. Und nun wundert man sich, dass die Diskussions­teilnehmer aus ihren Löchern gekrochen kommen und sich versammeln. Dass da schon wieder Reichs­bürgerinnen und Impf­gegner, Flüchtlings­hasser und Pegidistinnen zu sehen sind. Die ganzen guten alten Bekannten sind wieder da.

Ich denke manchmal, das ist alles eine Folge davon, dass die politischen Entscheidungs­träger sich aus Kalkül weigern, sich zu positionieren. Dahinter steckt die Angst, das eigene Wähler­potenzial weiter zu schrumpfen. Die Folge davon ist dann die Schrumpfung des eigenen Wähler­potenzials. Trotzdem bleibt weiter alles in der Luft, die einzelnen Gruppen ziehen an andere Debatten­plätze und bleiben nicht in partei­politischen oder gesamt­gesellschaftlich organisierten Foren, sondern radikalisieren sich in «alternativen» Arenen, die ausnahmslos alle obskur sind und manchmal auch einfach politisch einseitig infiltriert werden. Man hört von Demo­teilnehmern, die an die Verpflanzung von Mikro­chips in Köpfe glauben oder anderes skurriles Zeug. Und da stehen sie dann, die erwachsenen Menschen mit Aluminium­folie auf dem Kopf, und haben ganze Listen von Argumenten gesammelt, warum das Corona­virus wahlweise «gelenkt» oder «erfunden» wurde.

Was ich ausserdem denke: Wenn man es jetzt nicht vollends versauen will, müssen sich die Parteien endgültig, klar und unmissverständlich positionieren.

Stattdessen werden die alten Fehler erneut gemacht. Es mischt sich ein sächsischer Minister­präsident, Michael Kretschmer (CDU), im Freizeit­look unter die Leute, als wäre er zufällig als Privat­person bei der «Hygiene­demo» in Dresden vorbei­geradelt, um mal locker zuzuhören. Und ein Nicht-mehr-Minister­präsident namens Thomas Kemmerich (FDP) taucht unter den Demonstranten einer AfD-Demo auf, angeblich, um die Besorgten nicht alleinzulassen.

Aber vielleicht ist für die Parteien jetzt mal genug mit Zuhören und vielmehr Zeit zu reden. Wenn eine Partei möchte, dass man ihr vertraut, muss sie auch was zu sagen haben. Dazu muss sie wissen, was sie denkt, worauf sie sich stützt, was ihre Werte, Ideale, Ziele und Pläne sind. Wovon sie sich distanziert und wofür sie steht.

Ansonsten, so befürchte ich, zerfasert hier gerade alles.

Aber dennoch, ich will es noch einmal betonen: Ich schaue und sammle noch. Vielleicht weiss ich beim nächsten Mal mehr.

Selam
Ihre Kiyak

Illustration: Alex Solman

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