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Dürfen wir kurz unterbrechen?

25.05.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Als am Wochenende die 42. Solothurner Literaturtage stattfanden, war alles anders als sonst: keine Lesungen im Landhaus, kein Flanieren entlang der Aare, keine bibliophilen Autogrammjäger. Ja, nicht einmal die Autorinnen und Autoren waren da, die sonst kaum irgendwo lieber hinfahren als nach Solothurn.

Warum das so war, erübrigt sich hier auszuführen. Aber auch wenn das wichtigste Ereignis im Schweizer Literaturjahr coronabedingt ins Internet abwandern muss, bleibt eine Konstante: Peter Bichsel ist da.

Das galt schon bei der Gründung 1978, zu einer Zeit also, in der man einen Autor, wie Bichsel heute einer ist, noch als «Urgestein der Schweizer Literatur» bezeichnet hätte. Und während die literarische Schweiz in diesem Jahr also statt in Solothurn zu Hause vor den Rechnern hockte, sah man das Urgestein zwar nicht im «Kreuz», aber im Literaturtage-Studio im «Akropolis» sitzen. Und hörte ihn sagen, dass es die «Hocker», also die verlässlich ausdauernden Beizenbesucher, heute gar nicht mehr gebe. Ein regelrechter Kulturwandel habe sich da vollzogen, hin zur Privatisierung der Öffentlichkeit: «Wir sind eine Grill- und Partygesellschaft geworden.» Und der einzige Ort, wo es in der Schweiz noch Öffentlichkeit gebe, sei der öffentliche Verkehr.

Dann eine Kindergeschichte. Das Kind, sagt Peter Bichsel, will am Montag vor dem Einschlafen das Schneewittchen hören. Und am Dienstag will es das Schneewittchen hören. Und am Mittwoch will es das Schneewittchen hören. Und wehe, der dritte Zwerg hat diesmal keine Giesskanne, sondern eine Harke in der Hand. Keine Varianten!, sagt Bichsel. Denn das Kind will im Grunde nur die Stimme der Mutter hören, die so ganz anders klingt als ihre Schreistimme, wenn sie schimpft. Und so würde jede neue Geschichte bloss vom Eigentlichen ablenken, um das es einzig gehe: das Erzählen selbst.

Was das mit Covid-19 zu tun hat?

Natürlich nichts. Aber ein Urgestein der Schweizer Literatur hat einmal gesagt: Manchmal geht es nur um das Erzählen selbst. Zumal, wenn sonst immer gilt: Montag Corona, Dienstag Corona, Mittwoch Corona …

Ach ja: Unser Autor Daniel Graf hat sich zwei Tage lang vor seinen Rechner gesetzt und sich so ziemlich jede Solothurner Übertragung angesehen. Hier geht es zu seinem Bericht.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen 30’746 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das nur 10 Fälle mehr. Gestorben sind bisher im Zusammen­hang mit einer labor­bestätigten Covid-19-Erkrankung 1642 Personen.

Tracing-App-Test läuft: Heute Montag beginnt die Pilotphase der Contact-Tracing-App des Bundes mit ausgewählten Personen. Dabei ist die Schweiz das erste Land weltweit, das die von Apple und Google bereitgestellten Schnittstellen in deren Handy-Betriebssystemen nutzen kann. (Wenn Sie die Hintergründe dazu interessieren – hier entlang.)

Hoffnung für den Fussball: «Es ist denkbar, dass ab Juli Fussballspiele mit Besuchern stattfinden», sagte Daniel Koch, Delegierter des Bundes für Covid-19, heute an einer Medienkonferenz in Bern. «Aber nur, wenn nachvollzogen werden kann, wer sich wann wo aufhält.» Allerdings müsse noch genau diskutiert werden, wie die Schutzmassnahmen im Detail aussähen.

Einigung bei Lufthansa-Rettung: Der deutsche Staat soll die Airline Lufthansa mit 9 Milliarden Euro unterstützen und 20 Prozent der Aktien übernehmen. Das berichtet die Deutsche Presse-Agentur. Die Einigung benötigt noch Zustimmungen von Gremien der Lufthansa und der EU-Kommission. Die Airline und die Bundesregierung hatten mehrere Wochen über Staatshilfen verhandelt.

Die interessantesten Artikel

  • Würdigung in der «New York Times»: Voraussichtlich am Mittwoch werden die USA die traurige Marke von offiziell 100’000 Corona-Toten erreicht haben. In den letzten drei Monaten starben demnach jeden Tag im Durchschnitt 1100 Menschen. Am Sonntag hat die «New York Times» die Leben der Verstorbenen auf ihrer Titelseite gewürdigt. Es gibt auch eine nicht minder beeindruckende Online-Version (Bezahlschranke).

  • Viel Vertrauen und etwas Glück: Das Wirtschafts-News-Portal «Bloomberg» hat sehr übersichtlich und knapp zusammengefasst, warum die Bekämpfung des Virus bislang in einigen Ländern erfolgreicher war als in anderen.

  • Der wilde Tesla-Mann: Elon Musk hat viele Fans, die ihn für den genialsten Kopf unserer Zeit halten. Weil er nun aber schon seit Wochen gegen die Lockdown-Massnahmen wettert, wenden sich immer mehr Anhänger von ihm ab. Das US-Magazin «The Atlantic» hat sich mit ihnen unterhalten.

  • «Gib Gates keine Chance»: Verschwörungstheorie-Experte Michael Butter erklärt in einem Interview mit dem «Spiegel», warum sich viele Corona-Skeptiker den Milliardär Bill Gates als Feindbild ausgesucht haben.

Frage aus der Community: Ich bin selbstständig erwerbend und möchte die Contact-Tracing-App nutzen. Falls ich nun von der App informiert werde, dass ich mit einer infizierten Person Kontakt hatte: Wer bezahlt mir den Arbeitsausfall, wenn ich in Quarantäne muss?

«Stand heute gibt es keine automatische Lohnfortzahlung», sagte heute Nachmittag Kim Sang-il vom Bundesamt für Gesundheit an einer Medienkonferenz. Dies müsse das Parlament festlegen, wenn es ab nächster Woche über die entsprechende Verordnung debattiere. Falls Sie sich aber testen lassen und das Ergebnis positiv ist, übernimmt die Ausgleichskasse den Lohnausfall in der Quarantänezeit. Wichtig ist, dass Sie dort bereits vor der Verhängung der Corona-Massnahmen als Selbstständigerwerbender registriert waren. Dann erhalten Sie während höchstens zehn Tagen 80 Prozent Ihres Lohnes ausbezahlt. Sind Sie schon früher wieder gesund, endet die Auszahlung ab dem Tag, an dem Sie wieder arbeiten. Der tägliche Maximalanspruch beträgt 196 Franken. Als Grundlage für die Berechnung dient Ihr Jahreseinkommen von 2019. Diese Tabelle des Bundesamts für Sozialversicherungen zeigt, wie hoch das jeweilige Taggeld ist (siehe Abschnitt «Mutterschaft» ab Seite 17, die Corona-Beträge sind damit identisch). Als rechtliche Grundlage dient das Kreisschreiben über die Entschädigung bei Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus.

Zum Schluss eine bewegende Nachricht aus Indien, wo eine Teenagerin grossen Mut und eine beneidenswerte Ausdauer bewies

Hunderttausende Wanderarbeiter mussten Indiens Grossstädte wegen der Corona-Pandemie verlassen. Weil Busse ausfielen oder das Geld nicht reichte, machten sich viele von ihnen zu Fuss auf den Heimweg. Auch die 15-Jährige Jyoti Kumari und ihr Vater, ein E-Rikscha-Fahrer in der Hauptstadt Delhi, entschieden sich, in ihr 1200 Kilometer entferntes Heimatdorf Sirhulli zurückzukehren. Laufen war aber keine Option, weil sich der Vater am Bein verletzt hatte. Also erwarb sich Jyoti für umgerechnet 6 Franken ein gebrauchtes Velo. Mit dem Vater auf dem Gepäckträger nahm sie am 10. Mai die siebentägige Fahrt unter die Räder. Bei 40 Grad im Schatten legte sie bis zu 160 Kilometer pro Tag zurück. Der «India Times» erzählte Jyoti, dass sie Tag und Nacht gefahren sei und zwei- bis dreistündige Pausen eingelegt habe. Auf dem Heimweg überholten sie unzählige Wanderarbeiter, die zu Fuss unterwegs waren. Angst vor Kriminellen habe sie nicht gehabt, erzählte Jyoti nach ihrer Ankunft. Ihre einzige Sorge sei gewesen, von einem Fahrzeug von hinten erwischt zu werden.

Bleiben Sie ausdauernd, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Philipp Albrecht und Daniel Graf

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Die Fondation Beyeler in Riehen zeigt eine kostspielige Edward-Hopper-Ausstellung, die seit dem 11. Mai wieder geöffnet ist. Doch die Besucher kehren nur zögerlich aus dem Lockdown zurück. Ein Video mit dem Basler Slampoeten Laurin Buser, in dem er zu 5 Hopper-Werken rappt («Hip Hopper»!), soll nun auch die jungen Kunst-Sympathisantinnen zurück ins Museum holen.

PPPPS: Noch ein Nachtrag zu den Solothurner Literaturtagen, wo es eine Rubrik namens «Instantdichten» gab. Vier Autorinnen bekamen eine abstruse Wortkombination vorgelegt und mussten sie in 20 Minuten zu einer Geschichte verflechten. Die Wörter hiessen: Weinstampfen, Schwingerkönigin und Richard Nixon. Wenn Sie die Republik abonniert haben, kennen Sie solche dadaistischen Wort-Trios vom Sicherheitsverfahren bei der Anmeldung.

PPPPPS: Melden Sie sich doch mal spasseshalber neu an, instantdichten Sie eine Geschichte mit den Republik-Kontroll-Vokabeln und teilen Sie Ihr Werk mit uns.

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