Betriebstemperatur – Folge 2

«Darum geht es doch im Leben: etwas zu finden, für das man sich mit ganzer Leidenschaft einsetzen mag»: Beat Riedweg, Landwirt im Luzerner Seetal.

Vom Feld in die Stadt

Die Pandemie sortiert politische Prioritäten neu, auch in der Landwirtschaft. Während des Lockdown brachte Bauer Beat Riedweg seine Ware direkt zu den Kunden nach Hause. Jetzt fährt er wieder zum Markt – und hofft doch, dass sich die Branche nachhaltig ändert. Folge 2 der Serie «Betriebs­temperatur».

Von Olivia Kühni (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 22.05.2020

Nach Wochen in der engen Stadt­wohnung ist der Besuch bei Bauer Riedweg eine Offenbarung. Der Himmel spannt sich knallblau über das Luzerner Seetal, vor meinen Füssen schauen sorgfältig aufgereiht Salat­köpfe und Fenchel aus der Erde. Es riecht nach warmem Gras, und mein Herz hüpft vor Freude.

Beat Riedweg baute während der langen Wochen des Lockdown für viele Menschen eine Brücke zum Land, auf dem ihre Nahrung wächst. Jeden Freitag fuhr er nach Zürich und lieferte bis zu 80 Kundinnen an die Haustür, was sie zuvor über Mail bei ihm bestellt hatten. Lauch, Karotten, Eier, was immer sie brauchten. Die meisten dieser Kunden kauften schon vor Corona bei Riedweg: direkt am Marktstand in Zürich oder Affoltern am Albis, von zwei Bioläden, die er beliefert, oder im Hofladen. Den klassischen Weg über Grossverteiler nimmt schon seit Jahren fast nichts von Riedwegs Ware. Als die Märkte im März schliessen mussten, sei für ihn selbstverständlich gewesen, dass man sich gegenseitig nicht im Stich lasse, sagt Riedweg.

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Die Corona-Krise stellt die Wirtschaft auf den Kopf. Das ist auch eine Chance. Die Republik reist durch das Land und hört sich bei Unter­nehmen in verschiedenen Branchen um. Hier finden Sie die Übersicht aller Beiträge.

«In meiner idealen Welt pflegen Bauern und Konsumenten eine Beziehung», sagt er, während wir auf die Salat­reihen blicken. Riedweg geht barfuss mit dem Geschick einer Katze, er lächelt mit strahlend blauen Augen – ein Alternativer, wie man bei uns im Dorf gesagt hätte. Ein Öko.

Beat Riedweg, Biobauer im Luzerner Seetal.

Gleichzeitig sagt er: «Im Grunde müsste man den Bauern die Direkt­zahlungen für die Flächen streichen.» Aufhören, sie auf Produktion zu trimmen, und ihnen stattdessen die Verantwortung zurück­geben für die Natur. Wer die Schweizer Bauern kennt, weiss, wie viel Rückgrat es braucht, einen solchen Satz zu einer Journalistin zu sagen. Bis heute zahlt der Bund den grössten Teil der Direktzahlungen nicht für den Verzicht auf Gift oder grosszügige Weiden, sondern pauschal nach Grösse der land­wirtschaftlichen Nutzfläche. 900 Franken pro Hektare. Darüber hinaus herrscht ein komplexes Subventions­system, für dessen ständige Optimierung viele Bauern heute einen wesentlichen Teil ihrer Zeit und Fantasie einsetzen.

Keine Direktzahlungen mehr – was dann?
Dann ändert sich die Perspektive, ganz langsam. Man beginnt, sich sein Land anzuschauen und zu überlegen, welcher Anbau genau an diesem Ort passt. Man lebt wieder mit der Natur statt von der Natur.

Das tönt gut. Aber ist es realistisch? Produziert die Land­wirtschaft so überhaupt genug?
Sie produziert vor allem das Richtige. Das, was mit der Natur zusammen sinnvoll ist. Ich halte es für einen Irrtum, dass immer mehr und immer grössere Flächen ein guter Weg sind, und immer mehr Spritzerei, damit der erschöpfte Boden liefert, was wir wollen.

Könnten Sie davon leben?
Es braucht die Konsumentinnen dazu. Es geht nur, wenn auch sie sich dafür interessieren, wo ihre Nahrungs­mittel herkommen und unter welchen Bedingungen sie produziert werden. Und bereit sind, einen fairen Preis dafür zu bezahlen.

Lokal und billig

Es gibt in der Schweiz wohl kaum eine Branche, die so mit Bildern besetzt und erwartungs­voll aufgeladen ist wie die Land­wirtschaft. Möglichst alles sollen die Bäuerinnen erfüllen: einen nachhaltigen Anbau mit giftfreien Nahrungs­mitteln und zufrieden grasenden Kühen. Gleichzeitig aber eine Produktion von solcher Potenz, dass Ware in Standard­qualität ständig garantiert und Import möglichst überflüssig wird. Lokal und billig, und am besten noch mit einem Lächeln serviert, das lange, harte Tage, schlecht bezahlte Helferinnen, psychischen Druck und Artensterben vergessen lässt.

Die Schweizer Agrar­politik setze seit Jahren vor allem darauf, immer mehr und intensiver zu produzieren, sagen Kritiker. Wegen ihrer vergleichs­weise kleinen Höfe – und entsprechender finanzieller Anreize vom Staat – spezialisieren sich die Bauern vor allem auf Tierhaltung. Trotz schrumpfendem Agrar­land und sinkender Preise sind die produzierten Mengen an Milch, Eiern und Fleisch seit zwanzig Jahren gestiegen. Die Zunahme beträgt bei der Milch rund 10 Prozent, bei Fleisch 14 Prozent und bei den Eiern sogar 50 Prozent.

Doch die Rechnung geht in vielerlei Hinsicht nicht auf. Die Bauern werden immer abhängiger von Subventionen: Heute machen sie rund 62 Prozent des bäuerlichen Einkommens aus – gegenüber 47 Prozent im Jahr 2000. Gleichzeitig ist die Landschaft mit Stickstoff belastet und das Trink­wasser derart von Pestiziden verseucht, dass ein Berner Wasser­versorger gar damit droht, das Bundesamt für Landwirtschaft zu verklagen. Gleich zwei Volks­initiativen zum Thema, die Trinkwasserinitiative und «Leben statt Gift», sollen demnächst zur Abstimmung kommen.

Trotzdem, sagt einer, der sich im Moment zum Landwirt ausbilden lässt, interessierten sich die meisten seiner Kollegen hauptsächlich für zwei Dinge: mehr Land und grössere Maschinen. Er sagt auch, dass er zwar die Haltung teile, dass nur ein respekt­voller Umgang mit der Natur langfristig Erfolg bringe. Nur: Solange Bauern um die Existenz fürchten müssen, wenn sie nicht ihre Flächen vergrössern, werde sich kaum etwas ändern.

Der Biohof Schönboden

Beat Riedweg lernte Landmaschinenmechaniker, bevor er auf dem elterlichen Hof in Schongau LU erst den Direktverkauf aufbaute und 2009 den ganzen Betrieb übernahm. Heute ist sein Hof nach Demeter zertifiziert. Riedweg ist verheiratet und hat vier Kinder.

Kühe mit Hörnern

Riedweg führt um den Hof. Von der Scheune, wo er seinen Markt­anhänger lagert und grüne Kisten stapelt, nach hinten zu Stall und Weiden für sein knappes Dutzend Mutter­kühe und Kälber. Die Tiere haben sich ins Stall­innere zurück­gezogen und dösen. Sie tragen ihre Hörner. Diese sind spätestens seit 2018 ein Politikum: Damals schaffte die Hornkuh­initiative des Bergbauern Armin Capaul an der Urne mit 45,3 Prozent beinahe einen Überraschungserfolg.

Das Horn gehöre für ihn selbst­verständlich zur Kuh, sagt Riedweg. Es beeinflusse unter anderem auch die Verdauung der Tiere. Dasselbe sagt auch der Demeter-Verband, nach dessen Richt­linien Riedweg lizenziert ist. «Wenn ein Körper­teil so stark durchblutet ist, wie das ein Kuh­horn ist, dann ist es wichtig für den Organismus», sagt er. Viele Menschen, die Milch nicht gut vertragen, hätten keinerlei Probleme mehr, wenn sie von einer gehörnten Kuh stamme. Das hört sich esoterisch an, und ich würde es hier nicht hinschreiben – hätte ich mich nicht vor ein paar Wochen ausgerechnet darüber gewundert, dass ich Milch wieder vertrage, seit wir des Kleinkinds wegen die teurere Demeter-Milch kaufen.

Wir gehen von den Kühen weiter zur Wiese mit den Obst­bäumen, am Hof­laden vorbei und über die Strasse zum Wohn­haus. Es ist 230 Jahre alt: Als es gebaut wurde, blühten in der Schweiz gerade die Textil­industrie, der Maschinen­bau und die ersten Chemie­firmen auf, und die Schweizer Bauern zogen zu Tausenden in die Städte – die erste grosse Landflucht.

Harte Handarbeit: …
Für Beat Riedweg geht es vor allem …
… um die Verantwortung für die Natur …
… und nicht um eine möglichst umfangreiche Produktion.

Riedweg übernahm Haus und Hof von seinem Vater, der damals, als der Junior Kind war, noch ganz konventionell bauerte. Drinnen, in der Eingangs­halle, ist es kühl – «auch im Winter». Das sei eines seiner Projekte für das laufende Jahr: der Umbau von Küche und Stube zu einem grossen Raum, damit der alte Kachel­ofen alles von der Mitte her aufwärmt, statt an einer Wand zu verstrahlen.

Was sind sonst noch Projekte?
Die Kuhherde wieder in ein gutes Gleich­gewicht bringen. Wir haben kürzlich den Stier raus­genommen, damit ein paar Kälber nachwachsen können. Ich will langfristig eine kleinere Herde. Im Moment ist das Fleisch bei uns das Einzige, was noch ganz konventionell in den Handel geht. Aber das ist es halt eben: Man muss eins nach dem andern angehen. Einen Hof umzustellen, braucht sehr, sehr viel Zeit.

Akzeptiert eigentlich Ihr Vater, dass Sie manches anders machen?
Ja. Das ist über viele Jahre passiert.

In der Stube gibt es jetzt Kaffee, Schoggi und Vanille­creme. Am langen Holztisch sitzen auch eine Angestellte, die heute im Hofladen arbeitet, ein Bekannter, der aushilft, eins der vier Kinder im Teenager­alter und Riedwegs Frau Désirée. Auch die inner­familiäre Team­arbeit ist bei Riedwegs anders als auf vielen Höfen: Er bauert – sie hat damit nichts zu tun und betreibt stattdessen ein Näh­atelier. «Ich bin nicht die Bauers­frau», sagt sie. «Ich bin die Frau des Bauern.» Er blickt sie an und grinst.

Zur Debatte: Wie geht es Ihnen, wirtschaftlich gesehen?

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Der politische Kampf hat begonnen

Wenn dieser Beitrag erscheint, wird Riedweg bereits wieder zum Markt fahren. Am Freitag auf den Zürcher Helvetia­platz und am Samstag nach Affoltern am Albis. Nach den langen Wochen mit Corona­virus und Haus­besuchen kehrt auf dem Hof langsam wieder Normalität ein. Doch auf der politischen Bühne hat der grosse Kampf der Bauern gerade erst begonnen. Denn die Corona-Krise platzte für die Schweizer Land­wirtschaft mitten in einen bedeutenden Richtungsstreit.

Nach jahrelangem politischem Seil­ziehen haben die Kritiker der bisherigen Agrar­politik – unter dem Eindruck weltweiter Klima­debatten und der beiden anstehenden Pestizid­abstimmungen – endlich ein wenig Land gewonnen. Die neue Agrar-Strategie des Bundes (AP 22+) will Subventionen stärker an ökologische Vorgaben koppeln, unter anderem an einen reduzierten Einsatz von Pestiziden. Dafür sollen die Acker­flächen leicht zurück­gehen und der Selbst­versorgungs­grad auf 52 Prozent sinken. Weil dies die Böden entlastet, sieht der Bund langfristig die Ernährungs­sicherheit besser gewähr­leistet als mit dem bisherigen System, wie er im Februar argumentierte. Der Bauern­verband war zwar alles andere als begeistert, zeigte sich aber kompromissbereit.

Dann kam Corona.

Am 16. März rief der Bundes­rat die «ausser­ordentliche Lage» aus. Die Schweiz diskutierte plötzlich wieder über Versorgungs­sicherheit, Resilienz, Ausland­abhängigkeit. Nur knapp zwei Wochen später nutzte der Präsident des Schweizer Bauern­verbandes, Markus Ritter, die Gunst der Stunde: «Dass sich der Bundes­rat in der Agrar­politik 22+ für eine Senkung des Selbst­versorgungs­grads ausspricht, ist unhaltbar», sagte Ritter der NZZ. Sollte das Parlament nicht eingreifen, ziehe man «sehr ernsthaft» ein Referendum in Betracht.

Das war eine klare Kampf­ansage. Und Befürworter der Reform, etwa der Thinktank Vision Land­wirtschaft, haben sie sehr wohl verstanden. Der Bauern­verband nutze die aktuelle Situation aus, hielten sie Ritter entgegen. «Er will die Bemühungen des Bundes torpedieren, mit der AP 22+ eine wenigstens etwas ökologischere Land­wirtschaft zu fördern.» Wie der Bund argumentiert Vision Land­wirtschaft, es erhöhe die Versorgungssicherheit der Schweiz, wenn die Bauern weniger produzieren: weil sich einerseits die Boden­fruchtbarkeit der Natur erholt und andererseits die Abhängigkeit der Bauern von Futter­mitteln, Dünger und Pestiziden aus dem Ausland abnimmt.

Vor wenigen Tagen doppelte der Bauern­verband nach und veröffentlichte eine Medien­mitteilung, gezeichnet von Direktor und «Leiter Corona-Task-Force» Martin Rufer. «Mit den aktuellen Entwicklungen» vergrössere sich «die Diskrepanz zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen und den betriebs­wirtschaftlichen Erfordernissen für die einzelnen Betriebe», schreibt er darin. Mit anderen Worten: Schluss mit dem ständigen Ökozeug, das den Bauern das Leben schwer macht. Die Mitteilung verweist darauf, dass der Negativtrend beim Zucker­rüben­anbau eine Folge der tiefen Preise sei – «und der schwieriger gewordenen Bekämpfung von Krankheiten und Schädlingen». Dasselbe Los ereilte angeblich den Raps, der minim (–0,5 Prozent Fläche) weniger angebaut wurde. «Auch hier ist die zunehmend schwierig gewordene Bekämpfung der verschiedenen Schädlinge der Hauptgrund.»

Man nimmt die beiden Pestizid-Initiativen offensichtlich sehr ernst. Zu Recht: Dass land­wirtschaftlicher Dünger und Schädlings­bekämpfungs­mittel das Schweizer Grundwasser verschmutzen und unter anderem zum Bienensterben beitragen, beschäftigt Bürgerinnen quer durch die politischen Lager – auch wenn die FDP trotz sympathisierender Basis bei der Beratung im Parlament kippte.

Zähe, langwierige Arbeit

Kurz vor dem Abschied führt Bauer Riedweg hinters Haus über eine Wiese voller Löwen­zahn und Obst­bäume. Es sei nicht einfach, einen anderen Weg zu gehen, sagt er. Einen, der auf Langfristigkeit ausgerichtet ist. «Es bedeutet eine grosse Verantwortung und oft auch viel harte Handarbeit.»

Beat Riedweg weiss, dass er seinen Weg nicht allein gehen kann, ohne das Mitdenken der Konsumentinnen.

In der Schweiz geben jedes Jahr Hunderte Bauern ihren Betrieb auf. Knapp jeder dritte Hof ist seit dem Jahr 2000 verschwunden. In der Regel, weil die Kinder keine Lust haben, ihr Leben lang unter immer schwierigeren Bedingungen zu krampfen – immer mehr Arbeit für immer weniger Geld. Weil das bäuerliche Boden­recht aus Sorge vor Spekulation den Verkauf an Quereinsteigerinnen erschwert, geht das Land meist an andere Landwirte, die auf Gedeih und Verderb zu wachsen versuchen. Und oft in einem Teufelskreis mit noch mehr Wachstumsdruck landen.

Er wolle seinen Hof nicht zwingend an eins der Kinder übergeben, sagt Riedweg. Sondern vor allem an jemanden, der dafür brennt. «Darum geht es doch im Leben: etwas zu finden, für das man sich mit ganzer Leidenschaft einsetzen mag.» Etwas, das man aufbauen kann.

Auch wenn es zähe, langwierige Arbeit ist.

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