Sind Sie gelangweilt? Nichtstun hilft

Langeweile, Müssiggang, Faulenzen, Erschöpfung, Gleichgültigkeit: Der Schriftsteller Anton Tschechow hat sich sein Leben lang damit beschäftigt. In dieser sonderbaren Zeit lohnt es sich besonders, ihn wieder zu lesen.

Von Sylvia Sasse, 21.05.2020

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Noch nie war Nichtstun so nützlich wie in den letzten Wochen. Das in vielen Ländern mehr oder weniger verordnete Nichtstun in Form von #StayHome, Lockdown und Quarantäne half und hilft dabei, dass die anderen, die Ärztinnen und Pfleger, nicht vor lauter Arbeit zusammen­brechen. Während diese nur scheinbare Paradoxie für einige nur schwer zu begreifen war, wurden andere nicht müde, die Bevölkerung mit Tipps für neue Aktivitäten zu versorgen. Weder traute man offenbar den Menschen allzu viel Fantasie zu, noch konnte man sich vorstellen, dass die Zeit womöglich gar nicht sofort wieder mit neuem Stress gefüllt werden musste.

Die Langeweile hat keinen guten Leumund. Meist wird sie als etwas Unerträgliches und Unnützes betrachtet, etwas, das krank macht, nicht auszuhalten oder einfach sinnlos ist. Und so wurde in einem Ratgeber gegen «Corona-Langeweile» unter anderem vorgeschlagen: zu putzen, aufzuräumen, die Steuer­erklärung zu machen, Regale zu sortieren, Socken zu stopfen, Wände zu streichen – also Dinge zu tun, die ein grosser Teil der Bevölkerung sowieso regel­mässig ohne grosse Begeisterung oder Bezahlung zu erledigen gezwungen ist. «Weitermachen» war die Devise, Hauptsache, etwas tun. Erst am Ende dann, beim 46. Tipp, die Idee: einfach mal nichts tun.

Intensive und extensive Langeweile

Es war Anton Tschechow, der sich vor mehr als hundert Jahren am Nichtstun, an Langeweile, Faulenzen und Müssig­gang, an Apathie, Ataraxie und Gleich­gültigkeit abarbeitete, Stück für Stück und Erzählung um Erzählung. Nichtstun gegen Langeweile – das wäre ganz in seinem Sinne gewesen. Allerdings ging es ihm nie nur darum, das Nichtstun zu glorifizieren, sondern auch darum, die Lang­weiligkeit eines bestimmten Tuns ins Spiel zu bringen.

In «Iwanow», einem seiner ersten Stücke, geschrieben zwischen 1887 und 1888, erzählt Tschechow schon in der ersten Szene von der Konfrontation zweier Protagonisten, deren Aktivitäts­grad gegen­sätzlicher nicht sein kann: Iwanow und Borkin. Die «Nerven­säge» Borkin (der Name erinnert im Russischen an einen Kämpfer, borec) kommt und stört Iwanow bei der Lektüre eines Buches. Er will ihn aufrütteln, zum Arbeiten bewegen – und macht doch nur zunichte, was Tschechow in einem anderen Zusammen­hang «Zeit für Müssig­gang» nennen wird.

Iwanows Müssiggang ist eine Mischung aus Erschöpfung, Wider­stand gegen Borkin und dem Bedürfnis, die Welt erst einmal richtig wahrzunehmen, bevor man sie zum Gegen­stand von Diskussion und Disput macht. Borkin hingegen ist ein quirliger Typ, der ständig zerstreut und unterhalten werden will. Weil er immer schon macht, immer schon weiss und Leute wie Iwanow irgendwie dazu bringen will, doch endlich auch so zu sein wie er selbst.

Bei dieser Szene kann einem der Philosoph Søren Kierkegaard in den Sinn kommen, der zwei Typen von Langweilern unterschied, den extensiven und den intensiven. An diese dachte Tschechow vielleicht auch: «Alle Menschen also sind langweilig. (…) Die sich nicht selbst langweilen, langweilen gewöhnlich die anderen, diejenigen dagegen, die sich selbst langweilen, unterhalten die anderen», schrieb Kierkegaard 1843 in «Entweder – Oder».

Bei Tschechow allerdings stehen Iwanow und Borkin einander zwar als völlig verschiedene Figuren gegenüber, die scheinbar nichts gemeinsam haben. Aber das ist es nicht, was Tschechow zu interessieren scheint. Es ist vielmehr die unheimliche Nähe, die beide Figuren und Phänomene miteinander verbindet, also kein Entweder-oder, eher ein Sowohl-als-auch. Etwa wenn das geschäftige Tun, also das Tun um seiner selbst willen, sich als die schlimmste Art von Lange­weile entpuppt.

Gleichmut oder Gleichgültigkeit?

Tschechow, der selbst Arzt war (sein Medizin­studium hatte er 1884 abgeschlossen), interessierte sich nicht nur als Dichter fürs Nichts­tun, sondern auch als Mediziner. Sich als Arzt zu verlesen, Symptome falsch zu deuten, wäre folgenreich. Ist es Gleichmut, also Seelen­ruhe? Oder doch nur Erschöpfung, gar Unfähigkeit, überhaupt noch etwas zu empfinden? Woran erkennt man das eine oder das andere?

Diese Frage wird auch in einer seiner berühmtesten Erzählungen, in «Kranken­zimmer Nr. 6» von 1892, diskutiert. Der Arzt Ragin, angestellt in einem Provinz­krankenhaus, in dem schreckliche hygienische und soziale Umstände herrschen, scheint auf den ersten Blick ein Stoiker zu sein. Den eigenen Mangel an Gefühls­regungen interpretiert er als Gleichmut im Sinne des römischen Kaisers Marc Aurel. Dieser hatte in seinen «Selbst­betrachtungen», die auch Tschechow intensiv gelesen hat, die «Apathie» gedanklich erhöht: Als Leidenschafts­losigkeit und Unempfindlichkeit sei sie erst die Voraussetzung für «Eudämonie», also Glückseligkeit.

Bei Tschechow ist es dann ausgerechnet der wegen Hysterie eingelieferte Patient Gromow, also der, dem man zu viele Leidenschaften und zu viel Theater unterstellt, der dem Arzt den Stoiker nicht abkauft: «Eine bequeme Philosophie: man braucht nichts zu tun, das Gewissen ist rein, und man hält sich für einen Weisen … Nein, mein Herr, das ist keine Philosophie, kein Denken, kein Weitblick, sondern Faulheit, Scharlatanerie, Verschlafenheit … Jawohl!» Und in der Tat, am Schluss liegt der Arzt selbst im Kranken­bett, nicht mehr als Stoiker, sondern erschöpft und gleichgültig. Seine Überzeugung, dem Schicksal möglichst gleichgültig gegenüber­zutreten, die Umstände als gegeben hinzunehmen, erweist sich weniger als philosophisches Konzept – sondern vielmehr als emotionale Kapitulation.

Utopie des Müssiggangs

Es sind aber nicht nur der Müssig­gänger Iwanow oder der Patient Gromow, die von anderen falsch interpretiert werden. Auch der Dichter Tschechow fühlte sich zeitlebens unverstanden. Zwar wird der Literatur­wissenschaftler Peter Szondi Tschechows Dramen sehr viel später gerade deshalb interessant finden und als Anti­dramen adeln, weil sie auf etwas verzichten, was klassischer­weise Dramen ausmache, nämlich Handlung, Kommunikation und Gegenwart. Aber zu seiner Zeit musste Tschechow sich für die vielen «Faulenzer» und die Ereignis­losigkeit in seinen Werken ständig rechtfertigen. «Ich habe nicht von Faulheit gesprochen», schrieb er 1897 an seinen Verleger, sondern von Müssiggang. Tschechow verteidigte sich, weil man ihm unterstellte, die russische «Oblomowerei» fortzuführen.

Oblomow, der vielleicht bekannteste Faulenzer der russischen Literatur, ist der Held aus Iwan Gontscharows 1859 erschienenem gleichnamigem Roman. Der auf dem Land lebende Gutsbesitzer verbringt die meiste Zeit seines Lebens träumend und dösend im Bett. Er lebt «ein Welt­modell der Faulheit», eine «konservative Utopie eines Lebens ohne Arbeit», wie die Literatur­wissenschaftlerin Renate Lachmann einmal schrieb.

Es war dieser Oblomow, dem das russische sozial­utopische Denken seine berühmteste Frage zu verdanken hat: «Was tun?»

Kaum war der Roman draussen, wurde Oblomow von russischen revolutionären Kritikern als abschreckendes Beispiel gelesen, als Gescheiterter und Schädling. 1863 antwortete dann Nikolai Tschernyschewski mit dem Roman «Was tun?». Und 1902 legte Lenin nach, mit jener gleich betitelten Schrift, die die revolutionäre Rolle des Proletariats begründete. Doch auch Tschechow mochte Oblomow nicht. Er nannte ihn einen «aufgedunsenen Faulpelz», den Roman qualifizierte er ab als zu einfach gestrickt. Tschechow hatte keine «konservative Utopie» im Sinn, aber auch keine sozialistische Rettung durch Arbeit – ihm ging es vielmehr um eine Revolution des Arbeitens selbst.

Nochmals aus dem schon erwähnten Brief an seinen Verleger: «Ich habe gesagt, dass Müssiggang kein Ideal sei, sondern nur eine der unabdingbaren Voraus­setzungen für persönliches Glück.» Und in seinen Tage­büchern ergänzt er, Müssig­gang sei auch als Voraus­setzung für das künstlerische Schaffen zu betrachten: «Nur die Gleichmütigen» seien «imstande, die Dinge zu sehen».

Wie aber soll die «bessere» Arbeit aussehen?

Wiederum ist es eine von Tschechows Figuren, die einen revolutionären Vorschlag macht. In der Erzählung «Das Haus mit dem Mezzanin» (1896) diskutiert der Erzähler, ein Künstler, sein Modell der schritt­weisen Befreiung der Menschen von der harten und stunden­langen physischen Arbeit: «Stellen Sie sich vor», sagt er, «dass wir alle, Reiche und Arme, nur noch drei Stunden am Tag arbeiten, und die restliche Zeit zur freien Verfügung bleibt.»

Das klingt wie eine Forderung aus Paul Lafargues Schrift «Das Recht auf Faulheit» («Le droit à la paresse»), die 1880 auf Französisch erschien. Im Unterschied zur Oblomowerei, dem exzentrischen Nichtstun, geht es hier jedoch um eine politisch-ökonomische Debatte über Arbeit, um das Unter­lassen von Arbeit und um Arbeits­streik, der zur Verbesserung und Verlängerung der Freizeit für die Arbeiter führen soll. Lafargue, Marx’ Schwieger­sohn, kritisiert in seiner Schrift das christlich fundierte Arbeits­ethos des Kapitalismus, das dann auch der Marxismus übernimmt und im Sinne seiner kommunistischen Utopie verwissenschaftlicht und verfeinert.

Später ist es Kasimir Malewitsch, der ausgerechnet kurz nach der Revolution, 1921, in seiner Schrift «Die Faulheit als tatsächliche Wahrheit der Menschheit» die Arbeits­paradoxien von Kapitalismus und Sozialismus vergleicht und festhält: Im Grunde wollen sie beide durch sehr viel harte Arbeit «den einzig wahren menschlichen Zustand erreichen (…), nämlich die Faulheit».

Nichtstun und Nichttun

Und Tschechow? Seine Utopie besteht nicht darin, möglichst viel zu arbeiten, um «danach» Zeit für Musse zu haben. Auch wollte er nicht das Recht auf Faulheit anstelle von Arbeit einklagen. Oder die Menschen so resilient machen, dass sie dasjenige, wogegen sie sich eigentlich wehren müssten, einfach ertragen sollen. Ihm geht es – als Schrift­steller und als Mediziner – um das Recht auf Reflexion und Wahr­nehmung. Sein Ziel war ein Verständnis von Arbeit, die nicht dauerhaft erschöpft, abstumpft und gleichgültig macht – und so verhindert, die Geschäftigkeit kritisch zu hinter­fragen und zu verändern.

Denn für Tschechow ist gerade die Musse Voraussetzung nicht nur für eine sinnliche Wahr­nehmung der Welt, sondern auch für die Fähigkeit, innezuhalten und Nein zu sagen, sich also dafür zu entscheiden, etwas nicht zu tun. Viele seiner Figuren leiden nicht nur unter einer sinnlosen Beschäftigung, die sie erschöpft und gleichgültig macht. Sie leiden vor allem auch daran, dass sie es nicht schaffen, Nein zu diesem Beschäftigt­werden zu sagen.

In diesem Nein verbirgt sich in Tschechows Stücken und Erzählungen nicht nur eine poetische Utopie, sondern eine politische Utopie des Nichttuns. Und auch dieses Nicht wird ständig ausdifferenziert, denn Tschechow hat gerade kein pauschales, nihilistisches oder reflex­haftes Nein im Sinn, sondern ein schöpferisches, lebens­bejahendes, das von unsinnigem Ballast befreit. Wer aus lauter Erschöpfung grundsätzlich zu keinem Nein mehr fähig ist, der kapituliert. Und wer prinzipiell und stets Nein ruft, erschöpft wiederum andere: Deren Kapitulation ist sein heimlicher Traum.

Tschechows Phänomenologie des Nichts­tuns und des Nicht­tuns will für diese Unter­schiede sensibilisieren. Sie hilft auch dabei, strategische Verkehrungen einzuordnen, wie wir sie – nicht nur – aktuell in der Corona-Pandemie beobachten.

Denn viele derjenigen, die nun vermehrt auf die Strasse gehen, um gegen das solidarische Prinzip des Lockdown zu demonstrieren, sagen ja nicht Nein zum Lockdown, weil sie in langwieriger Abwägung und Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Ergebnisse und politischer Über­legungen zu dieser Einsicht gekommen sind. Sondern sie sagen Ja zu denjenigen, die Tschechow im Sinne von Kierkegaard als «extensive Langweiler», als Zeitfresser, beschrieben hatte. Sie folgen den Borkins aka Trump oder aka Ken Jebsen, die andere mit ihrem Unsinn beschäftigen wollen. Um vor der Geschäftigkeit der Borkins nicht zu kapitulieren, das würde uns wohl Tschechow nahelegen, muss man zu ihnen Nein sagen können – und nicht umgekehrt ihrem zerstörerischen Nein folgen. Nichtstun hilft, so gedacht, nicht nur gegen extensive Lange­weile. Im Nichtstun liegt auch die Quelle für das Nichttun.

Zur Autorin

Sylvia Sasse ist Professorin für Slavische Literatur­wissenschaft an der Universität Zürich. Sie hat in Konstanz und Sankt Petersburg studiert, in Berkeley und Berlin geforscht und gelehrt. 2009 wurde sie nach Zürich berufen, wo sie seither mit ihrem Partner und ihren zwei Söhnen lebt. Sie ist Mitheraus­geberin von «Geschichte der Gegenwart». Für die Republik schrieb sie zuletzt über Masha Gessens Buch «Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor».

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