Haftstrafe ohne Straftat, Lauber soll abgesetzt werden – und bald nicht mehr alles in Butter?
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (102).
Von Elia Blülle, Dennis Bühler und Anja Conzett, 21.05.2020
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Corona, Corona, Corona ... Sind Sie langsam, aber sicher auch coronamüde?
Die Pandemie ist leider noch nicht vorbei. Damit Sie aber nicht jede neueste Wendung und Irrung verfolgen müssen, fassen wir an dieser Stelle kurz und knapp zusammen, was vergangene Woche in der Schweizer Pandemie- und Krisenbekämpfung passiert ist:
Der Bundesrat hat gestern Mittwoch eine gesetzliche Grundlage für die Corona-Tracing-App verabschiedet. Sie legt fest, dass die Nutzung der App freiwillig erfolgen und der Datenschutz jederzeit gewahrt werden muss. Die Daten sollen deshalb dezentral gespeichert, Standortdaten keine erfasst und der App-Quellcode öffentlich zugänglich gemacht werden. Das Parlament muss das Gesetz in der Sommersession bewilligen.
Die Kirchen dürfen ab Pfingsten wieder öffnen. Der Bundesrat hat gestern Mittwoch entschieden, dass Glaubensgemeinschaften ihre Gottesdienste und Feiern ab dem 28. Mai unter Einhaltung eines Schutzkonzeptes wieder abhalten dürfen. Zuvor hat der Bischof von Basel eine solche Öffnung in einem Brief an den Bundesrat verlangt.
Bisher haben etwa 190’000 Unternehmen Kurzarbeitsentschädigung beantragt, das sind rund 37 Prozent aller angestellten Personen in der Schweiz. Die Arbeitslosenversicherung wird dadurch stark belastet. Bis Ende 2020 würden sich die Schulden ohne zusätzliche Finanzierung auf über 16 Milliarden Franken anhäufen, schätzt die Regierung. Sie will die Kassen nun mit zusätzlichen 14,2 Milliarden unterstützen, damit die Lohnabgaben nicht angehoben werden müssen. Das Parlament muss dies bewilligen.
Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit sagte am Montag an der Medienkonferenz, dass Demonstrationen von bis zu 5 Personen nun nicht mehr als Veranstaltung gelten und deshalb wieder erlaubt sind. Hintergrund: Am Wochenende sind in mehreren Schweizer Städten Hunderte Menschen verbotenerweise auf die Strasse gegangen und haben gegen die Corona-Massnahmen des Bundes demonstriert.
Die Schweizerischen Bundesbahnen betreiben nicht nur das Bahnnetz, sie sind auch eine grosse Immobilienbesitzerin. Nun haben die SBB entschieden, dass Laden- und Gastrobetriebe für die Dauer des Lockdown keine Miete bezahlen müssen, sofern sie von den Schliessungen betroffen waren.
Seit dem Wochenende sind die Grenzen für binationale Paare aus der Schweiz, aus Deutschland oder Österreich wieder offen. Das gilt auch für Personen, die im Nachbarland ihre Familie besuchen wollen, eine Zweitwohnung besitzen oder Tiere versorgen müssen.
Anders als anfänglich befürchtet, haben nur wenige Unternehmen die Corona-Kredite missbraucht. Es bestehe nur bei 36 von 123’000 ausbezahlten Krediten ein Missbrauchsverdacht, teilte das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) am vergangenen Freitag mit.
Und damit zum – coronafreien – Briefing aus Bern.
Terrorismus: Sicherheitspolitische Kommission will Präventivhaft
Darum geht es: Der Bundesrat legt dem Parlament zwei neue Anti-Terror-Gesetze vor. Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats will die Vorlagen nun verschärfen und fordert eine Präventivhaft für sogenannte Gefährder. Personen sollen selbst dann eingesperrt werden dürfen, wenn sie keine Straftat verübt haben.
Warum das wichtig ist: Die Kommission hat sich nur hauchdünn für die Präventivhaft ausgesprochen. Eine Minderheit beklagte, dass diese Regelung mit dem Rechtsstaat unvereinbar sei und zudem gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstosse. Auch Wissenschaftler haben dieses Instrument bereits kritisch beurteilt. Rechtsprofessor Andreas Donatsch meinte in einem im Vorfeld verfassten Gutachten, dass man eine Person als gefährlich einschätze, reiche nicht, um sie einzusperren.
Wie es weitergeht: In der Sommersession wird der Nationalrat über die Vorlage abstimmen.
Amtsenthebungsverfahren gegen Bundesanwalt Lauber
Darum geht es: Nach zweistündiger Anhörung von Michael Lauber hat die Gerichtskommission von National- und Ständerat gestern ein Amtsenthebungsverfahren gegen den amtierenden Bundesanwalt eingeleitet. Das bedeutet, dass sie den begründeten Verdacht hat, dass Lauber seine Amtspflichten vorsätzlich oder grobfahrlässig schwer verletzt hat. Der Entscheid fiel mit 13 zu 4 Stimmen.
Warum das wichtig ist: Die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft wirft Lauber mehrere schwerwiegende Amtspflichtverletzungen vor. Er selber bestreitet die Vorwürfe. Zuletzt hat er dem Bundesverwaltungsgericht eine 70-seitige Beschwerdeschrift gegen die Verfügung der Aufsichtsbehörde vorgelegt, in der er dieser Befangenheit, Verfahrensfehler und Kompetenzüberschreitungen vorwirft. Das von der Gerichtskommission eingeleitete Amtsenthebungsverfahren soll nun den genauen Sachverhalt abklären und alle betroffenen Personen anhören. Vor den Medien erklärte der die Kommission präsidierende FDP-Ständerat Andrea Caroni gestern Abend, man werde das Verfahren nun «mit Hochdruck» vorantreiben. Es handelt sich um eine Premiere: Erstmals in der Schweizer Geschichte wird ein Amtsenthebungsverfahren durchgeführt.
Wie es weitergeht: Das Verfahren kann sich über mehrere Monate hinziehen. Erhärten sich die Vorwürfe gegen Lauber, unterbreitet die Gerichtskommission dem Parlament einen begründeten Antrag auf Amtsenthebung. Über diesen würde die Vereinigte Bundesversammlung frühestens im September, eher aber im Dezember abstimmen. Gegen einen allfälligen Amtsenthebungsentscheid könnte sich Lauber juristisch wehren, letztinstanzlich am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Operation Libero: Flavia Kleiner tritt aus Präsidium zurück
Darum geht es: Nach sechs Jahren an der Spitze tritt Flavia Kleiner vom Co-Präsidium der Operation Libero zurück. Die politische Bewegung, die für eine offene, progressive Schweiz einstehen will, wurde vor sechs Jahren nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative von Kleiner mitbegründet. Seit 2014 hat die Operation Libero unter ihrer Führung an sechs Abstimmungskampagnen mitgewirkt – und sechsmal gewonnen. Im vergangenen Jahr engagierte sie sich zudem im eidgenössischen Wahlkampf.
Warum das wichtig ist: Der Operation Libero steht dieses Jahr mit der Begrenzungsinitiative der SVP eine der wichtigsten Abstimmungskampagnen erst noch bevor. Die Initiative wäre eigentlich am 17. Mai, am Tag von Kleiners Rücktrittsankündigung, zur Abstimmung gekommen, wurde wegen der Covid-19-Krise aber auf den 27. September verschoben. Wenige Monate vor der Abstimmung erfährt die Operation Libero nun nicht nur einen Wechsel an der Spitze, sondern gleichzeitig den Abgang einer ihrer prominentesten und prägendsten Führungsfiguren.
Wie es weitergeht: An der Generalversammlung vom 20. Juni wird Kleiner ihr Amt offiziell niederlegen. Die Operation Libero will weiterhin auf ein Co-Präsidium setzen. Wer die Organisation künftig zusammen mit Laura Zimmermann leiten wird, steht noch nicht fest.
Medien: Kleine Auflage = hohe Zustell-Ermässigung?
Darum geht es: Bei der Medienförderung drückt die Politik seit einigen Wochen aufs Tempo. Das tut nun auch die zuständige Kommission des Ständerats: Deutlich hiess sie am vergangenen Freitag das vom Bundesrat geschnürte Massnahmenpaket zugunsten der Medien gut, das den Ausbau der indirekten Presseförderung und eine Unterstützung von Onlinemedien vorsieht. Eine gewichtige Änderung aber beantragt die Kommission ihrem Rat: Die Zustell-Ermässigung von Printzeitungen und -zeitschriften soll an die Auflage gekoppelt werden.
Warum das wichtig ist: Den Vorschlag, Zustell-Ermässigungen an die Auflage zu koppeln, verabschiedete die Kommission einstimmig. «Je höher die Auflage einer Zeitung oder einer Zeitschrift ist, desto tiefer sollen die Ermässigungen sein», erklärt Kommissionspräsident Stefan Engler auf Anfrage. Richtet sich der Entscheid gegen die Grossen der Branche wie etwa den TX-Group-Chef Pietro Supino, der jüngst wegen der Ausschüttung von Dividenden kritisiert wurde? «Wir fällten den Entscheid primär zugunsten der kleinen und mittleren Regionalzeitungen», sagt der Bündner CVP-Ständerat Engler. Während die Kommission die Beratung der Änderungen im Postgesetz und im Radio- und Fernsehgesetz erst am 27. Mai abschliesst – offen ist insbesondere noch die Frage, ob auch die Frühzustellung von Zeitungen gefördert werden soll –, hat sie das Bundesgesetz über die Förderung von Onlinemedien bereits zu Ende diskutiert. Mit 9 zu 3 Stimmen unterstützt sie den Grundsatz der bundesrätlichen Vorlage, dass nur jene Onlinemedien unterstützt werden sollen, die ihr Angebot auch über Gegenleistungen ihrer Nutzerinnen finanzieren. Dieser Passus dürfte im Juni auch im Ständerat viel zu reden geben.
Wie es weitergeht: In der Sommersession kommt das Massnahmenpaket zugunsten der Medien in die kleine Parlamentskammer. Im September ist dann der Nationalrat dran. Einigen sich die beiden Räte und wird kein Referendum ergriffen, könnte das Paket schon Anfang 2021 in Kraft treten.
Gesundheitskosten: Bundesrat lehnt Volksinitiativen ab
Worum es geht: Der Bundesrat hat sich gestern mit Volksinitiativen der SP und der CVP befasst, die mit unterschiedlichen Mitteln die ausufernden Kosten im Gesundheitswesen in den Griff kriegen wollen. Er empfiehlt beide Initiativen zur Ablehnung, stellt ihnen aber jeweils einen indirekten Gegenvorschlag entgegen.
Warum das wichtig ist: Die SP-Initiative verlangt, dass die Prämien der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nicht mehr als 10 Prozent des verfügbaren Einkommens betragen dürfen. Um das zu ermöglichen, soll die individuelle Prämienverbilligung zu mindestens zwei Dritteln durch den Bund und der verbleibende Betrag durch die Kantone finanziert werden. Der Bundesrat lehnt die Initiative ab, weil sie sich nur auf die Finanzierung der Hilfsgelder konzentriere und keinen Anreiz schaffe, die Kosten im Gesundheitswesen zu senken. Zudem stört ihn, dass der Bund mehr bezahlen müsste als die Kantone. Stattdessen schlägt er eine Gesetzesänderung vor, bei der die kantonalen Prämienverbilligungsbeiträge an die Bruttokosten im Gesundheitswesen des jeweiligen Kantons geknüpft werden. Die Kostenbremse-Initiative der CVP wiederum verlangt, dass der Bund zusammen mit Kantonen, Krankenversicherern und den Leistungserbringern Kostensenkungen durchsetzen muss, wenn die Kosten in einem Jahr stärker steigen als die Löhne. Diese Regelung hält der Bundesrat für zu starr und zu undifferenziert. Als Alternative schlägt er vor, eine Zielvorgabe einzuführen und zusammen mit den Kantonen und mit Einbezug der Akteure im Gesundheitswesen festzulegen, wie stark die Kosten in den einzelnen Bereichen pro Jahr steigen dürfen. Die Hoffnung: So sollen medizinisch unnötige Leistungen reduziert werden.
Wie es weitergeht: Sowohl die SP als auch die CVP wollen an ihren Volksinitiativen festhalten, da sie die bundesrätlichen Gegenvorschläge für unbrauchbar halten. Urnenabstimmungen sind somit wahrscheinlich. Zuerst aber werden beide Initiativen im National- und im Ständerat diskutiert.
Lebensmittel der Woche
Die Butter wird knapp. Weil von Jahr zu Jahr immer mehr Milch in die lukrativere Käseproduktion fliesst, bleibt zu wenig übrig für die Butterproduktion. 2019 seien die Lagerbestände an Schweizer Butter komplett aufgebraucht worden, schrieb die Branchenorganisation Butter Mitte April. Man sei deshalb ohne Reserven ins neue Jahr gestartet. Damit wir 2020 nicht auch noch eine Gipfeli-Krise, eine Zopf-Knappheit oder einen Fondant-Potatoes-Engpass erleben müssen, hat das Bundesamt für Landwirtschaft nun kurzfristig das Importkontingent für Butter um 1000 Tonnen erhöht (das entspricht etwa 167 ausgewachsenen männlichen Elefanten). Die Corona-Pandemie ist schon schlimm genug. Aber obendrauf noch eine Butterkrise? Um Gottes willen.
Illustration: Till Lauer