«Man muss der Vorstellungs­kraft erlauben, lebendig zu bleiben. Das rettet einen als Menschen»

Büchernarr und Autor Alberto Manguel ist überzeugt, dass uns unter Extrembedingungen nur die Literatur davor retten kann, zu Zombies zu werden. Ein Gespräch über Dante, Borges und Glücks­erfahrungen im Lockdown.

Von Sieglinde Geisel, 14.05.2020

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«Lesen ist ein Gespräch», schreibt Alberto Manguel im Vorwort von «Tagebuch eines Lesers». Der 1948 in Buenos Aires geborene Schrift­steller und Universal­gelehrte führt ein nie enden wollendes Gespräch mit den unzähligen Büchern, die er gelesen hat, und den Autoren, die sie schrieben. Und mit uns allen. Die «Zeit» nannte Alberto Manguel «König der Leser», doch das trifft es nicht ganz. Denn der Autor thront nicht über der Literatur, er ist einer von uns. So viel man in seinen Essays auch über die Literatur erfährt, nie fühlt man sich belehrt. Der Autor des Welt-Bestsellers «Geschichte des Lesens» hat nie das Bedürfnis verspürt, der Welt zu sagen, welche Bücher sie zu lesen habe. Ranglisten sind seine Sache nicht, Lieblings­bücher dagegen schon.

1969 machte sich Manguel auf nach Europa, schlug sich als prekär beschäftigter Lektor und Kritiker in Paris, London und Tahiti durch, bis er 1982 nach Toronto zog und die kanadische Staats­bürgerschaft annahm. Von 2000 bis 2015 lebte er mit seinem Partner Craig Stephenson in einem abgelegenen französischen Dorf: Sie hatten ein mittel­alterliches Pfarrhaus gekauft und in der wieder aufgebauten Scheune Manguels aus 40’000 Bänden bestehende Bibliothek eingerichtet. 2009 widmete Manguel dieser Bibliothek den Band «Die Bibliothek bei Nacht», und mit «Die verborgene Bibliothek» (2018) setzte er ihr ein literarisches Denkmal, denn 2015 musste er sein französisches Anwesen verkaufen und sein Refugium wieder aufgeben. Heute lebt er in New York, im Lockdown, aber mit seinen Büchern: Seit fast zwei Monaten hat er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Die Republik hat per Skype ein Gespräch mit ihm geführt.

Wie geht es Ihnen?
Eigentlich bin ich nicht abergläubisch, zumindest nicht mehr als andere Leute. Aber immer wieder gibt es Momente in meinem Leben, wo ich mir sage: Es muss sich etwas ändern! Ich fürchte mich ein wenig, wenn sich diese Gedanken melden, denn dann geschieht immer etwas, was ich nicht erwartet habe.

Und diesmal haben Sie sich gesagt, es muss sich etwas ändern, und dann kam Corona?
Vor zwei Jahren bin ich aus Argentinien nach New York zurück­gekommen, nachdem ich dort zwei Jahre lang die National­bibliothek geleitet hatte, und ich dachte, ich würde nach dem intensiven gesellschaftlichen Leben in Buenos Aires nun ein viel ruhigeres Leben führen. Doch da man vom Bücher­schreiben nicht leben kann, habe ich angefangen, Seminare zu geben und Vorträge zu halten. Deshalb war ich in den letzten beiden Jahren mehr unterwegs als je zuvor – allein diesen Monat hätte ich in Portugal, Paris, Kiew, Mailand und Turin sein sollen. Ich war ständig auf Reisen – und um ehrlich zu sein, ich hatte die Warterei an den Flug­häfen und die ganze Unbequemlichkeit fürchterlich satt. Carl Gustav Jung erzählt, als Kind habe ihn ein Onkel einmal gefragt: «Weisst du, womit der Teufel die Seelen in der Hölle quält? Er lässt sie warten.» Immer wenn ich in einem Flug­hafen warten musste, wünschte ich mir, ich könnte zu Hause bei meinen Büchern bleiben und schreiben. Und dann kam die Coronavirus-Epidemie.

Sie haben sich ein anderes Leben gewünscht, und nun ist es eingetroffen. Aber das Leben, so wie es jetzt ist, haben Sie sich wohl kaum gewünscht?
Ich wage es kaum zuzugeben, aber eigentlich bin ich glücklich. Als ich noch in Frankreich auf dem Land lebte, stand ich jeden Tag um 5 Uhr auf, machte mir eine Tasse Tee und ging mit meinem Hund in den Garten. Dort sass ich und schaute zu, wie die Sonne aufging. Dann ging ich in mein Arbeits­zimmer und begann zu arbeiten. Hier in New York habe ich keinen Hund, aber ich stehe immer noch früh auf und mache mir meinen Tee. Dann gehe ich am Fluss spazieren, wir wohnen am Broadway, nur zwei Blocks vom Hudson River entfernt. Das geht jetzt allerdings nicht mehr, ich habe Asthma, Diabetes und einiges andere, es wäre zu riskant. Seit meinem Geburtstag am 13. März habe ich das Haus nicht mehr verlassen.

Aber dieses Eingesperrt­sein hat Ihnen eine neue Kontrolle über Ihr Leben verschafft?
Das ist ein gutes Wort dafür, es geht vor allem um ein neues Verhältnis zur Zeit. Ich habe Bücher gelesen, die von Epidemien handeln oder von Situationen, in denen Menschen an einem Ort bleiben mussten, zum Beispiel Xavier de Maistres «Reise um mein Zimmer», Daniel Defoes «Die Pest zu London» oder Alessandro Manzonis «Die Brautleute». In all diesen Büchern hat sich die Zeit verändert. In Jorge Luis Borges’ Erzählung «Das geheime Wunder» wird ein tschechischer Dramatiker von den Nazis verhaftet. Er soll erschossen werden, doch er hat sein Theater­stück noch nicht fertig­geschrieben. Als er in den Hof geführt wird, wo das Erschiessungs­kommando auf ihn wartet, bittet er Gott, ihm genug Zeit zu geben, um sein Stück fertig­zuschreiben. Dann erblickt er die Soldaten, die ihn erschiessen sollen, und er bemerkt, wie sie erstarren – Gott gewährt ihm die Zeit. Er schreibt sein Stück im Kopf weiter, das Gesicht von einem der Soldaten, die ihn erschiessen sollen, wird sogar zum Gesicht einer Figur, und erst, als er das letzte Wort in seinem Kopf geschrieben hat, erreicht ihn die Kugel. Die Idee, dass man sich, gezwungen durch die Umstände, einen Raum für sich selbst und eine eigene Zeit­erfahrung erschafft, taucht auch in Daniel Defoes Tagebuch über die Pest in London auf. So unter­schiedlich diese Bücher sind, in allen geschieht dieses geheime Wunder der Zeit.

Und auch Sie erleben jetzt dieses geheime Wunder der Zeit?
Natürlich! Das Seltsame ist ja, dass es sich gerade unter widrigen Umständen ereignen kann. Selbst im Konzentrations­lager gibt es diese Geschichten. Simone Weil war mit ihren Eltern in einem Flüchtlings­lager ausserhalb von Casablanca. Sie sass von morgens bis abends auf einem der wenigen Stühle, um zu schreiben, in der übrigen Zeit besetzten ihre Eltern den Stuhl abwechselnd, damit sie ihren Schreib­platz nicht verlor. Sie war Gefangene in einem Lager, aber sie fand zu höchster Sammlung und Konzentration.

Wie erklären Sie sich das?
Ich glaube, was uns in den schlimmsten Momenten retten kann, ist das Vertrauen in den eigenen Intellekt. Man muss der Vorstellungs­kraft erlauben, lebendig zu bleiben. Das wird einen nicht physisch retten, aber als Menschen. Das Schlimmste, was einem KZ-Häftling geschehen konnte, war der Verlust seiner Identität als Mensch; diejenigen, denen das geschah, nannte man Musel­manen, sie waren wie Zombies. Wie kann man Widerstand leisten gegen diesen Verlust? Primo Levi brachte einem jungen Franzosen Italienisch bei, mithilfe von Dantes «Göttlicher Komödie». Dante begegnet in der Hölle Odysseus, der seinen Gefährten sagt: «Brüder, bedenkt, wozu dies Dasein euch gegeben; / Nicht um dem Viehe gleich zu brüten, nein, / Um Wissenschaft und Jugend zu erstreben.»

Aber das Konzentrations­lager ist eine Situation, die sich mit heute nicht vergleichen lässt.
Absolut, keine Frage. Aber immer, wenn etwas Ausser­ordentliches geschieht, glauben wir, es geschehe zum ersten Mal. Doch schreckliche Dinge geschehen die ganze Zeit. In Texas gibt es, an der Grenze zu Mexiko, ein Konzentrations­lager für Kinder, errichtet von Trump. Was geschieht mit diesen Kindern? Was geschieht mit den syrischen Flüchtlingen an der türkischen Grenze und auf den griechischen Inseln?

Das beschäftigt mich auch. Wir sind beide privilegiert: Wir sind zu Hause und in Sicherheit, während es für andere eine entsetzliche Zeit ist. Wie geht man damit um?
Wie gehen Sie damit um, dass Sie ein Stück Brot essen, während es Kinder gibt, die hungern? Angesichts der weltweiten Katastrophe stellt sich uns diese Frage heute viel dringlicher als sonst, aber sie gehört zur conditio humana. Es hat mich schon als Kind gequält: Wenn in einem Märchen ein armer Schneider vorkam, fragte ich mich immer, wie ich ihm helfen könnte. Es war nur ein Märchen, doch ich stellte mir die Frage: Wie könnte die Welt gerechter werden? Ich habe immer noch keine Antwort darauf. In Platons «Republik» geht Sokrates alle Gesellschaften seiner Zeit durch, doch er findet keine, die ideal ist. Seitdem wir als Höhlen­menschen zum ersten Mal beschlossen, als Menschen zusammen­zuleben, haben wir es nicht geschafft, eine Gesellschaft zu erfinden, die für alle gerecht ist oder wenigstens für die Mehrheit.

Aber seit dem Steinzeitalter und auch seit Sokrates hat die Menschheit doch ein paar Fortschritte gemacht.
Wir haben heute Kranken­häuser und das Internet, aber das heisst offensichtlich nicht, dass unsere Gesellschaft fair geworden ist. Die privilegierten Klassen können das Zuhause­bleiben geniessen, und wenn es dereinst Medikamente gibt, werden sie sie bezahlen können. Neunzig Prozent der Welt­bevölkerung haben diese Privilegien nicht. Doch wo soll man anfangen? Wenn man in den Flüchtlings­lagern Social Distancing und regelmässiges Hände­waschen anmahnt, sagen die Menschen dort: Was soll das – wir haben nicht einmal Wasser.

Warum gelingt es uns nicht, eine gerechte Gesellschaft zu erschaffen?
Wir mögen den Frieden nicht. Ich weiss nicht, warum das so ist, aber es ist so. Der italienische Autor Alessandro Baricco hat die «Ilias» für die Bühne in Dialogen nacherzählt, und dabei zeigte sich: Die Gewalt hört nur dann auf, wenn Frauen sprechen. In seiner Einführung stellt Baricco fest: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir als menschliche Spezies den Krieg lieben, ob es die Zirkus­spiele im alten Rom sind, Box­kämpfe oder Action­filme: Wir lieben die Gewalt, das Blut.

Auch als Leser lieben wir die Gewalt. Die Literatur lebt vom Konflikt.
In der Tat ist es schwierig, gute Romane mit einem Happy End zu finden. Wie heisst es bei Homer: Die Götter geben uns das Unglück, damit wir etwas haben, worüber wir schreiben können.

«C’est avec les beaux sentiments qu’on fait de la mauvaise littérature», sagt André Gide.
Exactement. Aber es stimmt nicht immer. Ich habe einmal eine Liste angefertigt von glücklichen Romanen, die nicht tragisch enden, und ich habe ein paar Romane gefunden, die beweisen, dass es solche Bücher gibt.

Zum Beispiel?
«
Tristram Shandy» von Laurence Sterne. In Colm Tóibíns Roman «Brooklyn» denkt man ständig, es geht schlecht aus, doch jedes Mal gibt es eine Wendung zum Guten, als wäre der Roman gezielt darauf hingeschrieben. Auch William Saroyans «Menschliche Komödie» ist ein gutes und glückliches Buch. Aber zugegeben: Viel mehr gibt es nicht.

Die Märchen, die man uns als Kinder erzählt hat, gehen auch immer gut aus.
Ein Kind, dem man «Dornröschen» erzählt, glaubt nicht an das Happy End. Es weiss, wie die Geschichte wirklich endet, auch wenn es das noch nicht in Worte fassen kann: Wenn Dornröschen nach all den Jahren aufwacht, ist ihre Haut faltig und die Zähne fallen ihr aus, sie ist eine alte Frau, und der Prinz wird sie betrügen. Die Märchen sprechen von tief sitzenden Ängsten. Sie erlauben uns, dunkle Dinge zu erfahren, ohne sie leibhaftig erleben zu müssen.

Aber wir ertragen diese dunklen Dinge nur, weil das Märchen gut ausgeht! Nach Joseph Campbell endet die mythische Helden­reise mit der Transformation des Helden, der zu seiner Gesellschaft zurück­kehrt, um sie zu erneuern, es gibt also eine Veränderung zum Guten.
Ich glaube nicht, dass Joseph Campbell recht hat. Schauen wir uns das Gilgamesch-Epos an: Es ist die Geschichte eines schlechten Königs, der sich mit einem Natur­menschen anfreundet, mit ihm auf Abenteuer auszieht, den Freund dann verliert und versucht, die Unsterblichkeit zu erringen. Aber ob Gilgamesch nach seiner Rückkehr ein guter König ist, erfahren wir nicht. Joseph Campbells Behauptung wurde nie bewiesen. Was fehlt, ist der Wille der Gesellschaft, aus der Erfahrung des Helden zu lernen. Wir haben nur die Literatur als vorgestellte Erfahrung. Jedes Mal, wenn wir es vergessen haben, wird es uns wieder gezeigt. Und jedes Mal, wenn wir das Buch zuklappen, vergessen wir es von neuem.

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