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Hey, That’s No Way to Say Goodbye

14.05.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Allein sein während des Lockdown? Für die meisten Menschen keine schöne Vorstellung. Noch schwieriger wird es, wenn man kurz vorher verlassen worden ist und mit einem gebrochenen Herzen allein zu Hause sitzt – ohne die Möglichkeit, in einer Bar Ablenkung zu suchen, ohne Freunde, die zum Trost vorbeikommen.

Die Journalistin Charlotte Theile, die einen Podcast zum Thema Trennungen produziert, hat mit Verlassenen gesprochen:

Es gibt diese Wochen im Jahr, in denen man nochmals und nochmals in die Badi geht, Unmengen von Glace isst und jeden Abend zum Freiluftbier abmacht. Alles in der Angst, dass es in Kürze vorbei ist mit dem Sommer und man sich, wenn man morgens durch Laub und Nebel zur Arbeit pendelt, das Hirn zermartert über all das, was man verpasst hat. Gerade als Single. Es ist schliesslich auch die Zeit, in der sich immer jemand findet, der Rilke zitiert. Der Dichter mahnte schon 1902: «Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.»

Heute stimmt diese Prophezeiung zum Glück nicht mehr. Tinder, Parship und Co. laufen im Herbst besonders gut – und in den Bars finden sich auch im November noch Menschen, die keine Lust haben, lange allein zu bleiben.

In diesem Jahr aber gab es einige Tage, in denen das Rilke-Zitat besser gepasst hat als je zuvor: Mitte März, kurz vor dem Lockdown. Wer da allein war, wusste zwar immerhin, dass er auch mit wenigen Rollen WC-Papier über die Zeit kommen würde, ansonsten aber wurde vielen erst langsam bewusst, dass hier ein Ernstfall eingetreten war, auf den sie sich nicht vorbereiten konnten.

Wer allein in einem Haushalt lebt, hatte in vielen Ländern Europas keine Möglichkeit, etwas gegen die körperliche Einsamkeit zu unternehmen. Dating war plötzlich strafbar. Und auch in der Schweiz entschieden sich die meisten Singles, erst mal niemanden mehr zu treffen – schliesslich wusste man, dass niemand da sein würde, um einen zu pflegen, falls man nach einem Date plötzlich mit trockenem Husten im Bett läge.

Eine traurige Perspektive. Noch trauriger war die E-Mail von Daniel, die mich Anfang April erreichte. Daniel war kurz vor dem Lockdown verlassen worden, sehr überraschend und nachdem seine Freundin ihn durch eine lange Krankheit begleitet hatte. Nun versuchte er, sich wieder aufzurichten. «Ein paar Tage habe ich noch versucht, Bier trinken zu gehen – da waren die Bars aber schon ziemlich leer. Kurz darauf war dann alles geschlossen, und ich war einfach nur drinnen und konnte es nicht fassen.» So hat es mir Daniel im Podcast «Breakup» erzählt, den ich seit einigen Monaten produziere. Daniel ist nicht der Einzige, dem es so geht. Bald darauf schrieben Kevin, Annkathrin, Steffi, Claudia und Farzad. «Nun sitz ich ganz allein in meiner Wohnung und kann mich nicht trösten», hiess es da, oder: «Ich hatte immer Angst, allein zu sein, deshalb bin ich so lange geblieben. Aber dass es so was wie den Lockdown überhaupt geben kann, hätte ich mir nicht mal in meinen schlimmsten Albträumen vorgestellt.»

Wir wissen, dass Trennungen zu den schlimmsten psychischen Belastungen gehören, die es gibt. Seit 1991 kennt man das Tako-Tsubo-Syndrom, auch Broken-Heart-Syndrom, das an einen Herzinfarkt erinnert und in schweren Fällen sogar zum Tod führen kann.

Was also tun? Manchmal hilft es nur schon zu wissen, dass es anderen ähnlich geht. Einige Personen schrieben mir denn auch, dass die Trennungsgeschichten, die im Podcast erzählt werden, sie zumindest ein bisschen getröstet hätten. Zwei Hörer, die in der gleichen Stadt wohnen, habe ich einander als Telefonfreunde vermittelt.

Die grösste Hilfe aber war der Frühling. «Wenn ich nicht den ganzen Tag draussen rumrennen könnte, wüsste ich nicht, was passiert wäre», hat es Daniel zusammengefasst. Da musste ich wieder an Rilke denken. Ich bin sicher: Wir sollten mit aller Kraft versuchen, einen Lockdown im Herbst zu vermeiden. Auch aus Solidarität mit allen, die schon viel zu lange allein sind.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen 30’463 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 50 Fälle mehr. Bis Mitte April kamen täglich neue Fälle in einem dreistelligen Bereich dazu.

Swiss fliegt wieder mehr: Im Juni will die Swiss wieder 41 europäische Ziele anfliegen – vor allem Destinationen im Mittelmeerraum und in Skandinavien. Die Wiederaufnahme des Flugbetriebs soll schrittweise erfolgen. Im April verzeichnete der Flughafen Zürich 99 Prozent weniger Passagiere als noch im Vormonat.

Weniger Lehrstellen wegen Corona: Laut einem neuen Bericht der ETH Zürich und der Lehrstellenbörse Yousty werden als Folge der Pandemie vermutlich 5,5 Prozent aller Lehrstellen verloren gehen; 92 Prozent der Lehrstellenangebote für den Herbst 2020 bestehen aber immer noch. Die Bildungsforscher befragen für ihre Prognosen zweimal pro Jahr eine repräsentative Zahl von Jugendlichen und Firmen.

Rekruten müssen einrücken: Wenn sich die epidemiologische Lage nicht gravierend verändert, beginnt die Sommer-RS wie geplant am 29. Juni. Das hat die Armee heute bekannt gegeben. Dabei müssen sich die 12’000 eingezogenen Rekruten und Kader an ein Schutzkonzept mit Verhaltens- und Hygieneregeln halten. Ab dem 25. Mai finden zudem wieder Rekrutierungen statt.

Nur wenige Kredite überwiesen: Ende März haben Tausende Unternehmen vom Bund gedeckte Kredite beantragt. 120’000 solche Covid-Kredite wurden gesprochen. Nun zeigt sich aber, dass viele Firmen von diesem Geld noch gar keinen Gebrauch gemacht haben. Bei der UBS sei eine «überwiegende Mehrheit» der Kredite noch nicht angerührt worden, während die Zürcher Kantonalbank erst 20 Prozent der gesprochenen Kredite ausgezahlt hat.

Uno warnt vor psychischen Erkrankungen: Regierungen müssten sich dringend der psychischen Gesundheit widmen, fordert UN-Generalsekretär António Guterres. Die Krise betreffe ältere Menschen besonders hart sowie Jugendliche, junge Erwachsene und Menschen mit psychischen Vorerkrankungen. Diese gelte es im Moment besonders zu schützen.

Die besten Tipps und interessantesten Artikel

  • Seltsame Symptome: Bisher sind nur wenige Kinder an Covid-19 erkrankt – und die meisten davon hatten nur milde Symptome. Aber in den USA und in Europa tauchen immer mehr (wenn auch weiterhin insgesamt wenige) Fälle von jungen Covid-19-Patientinnen auf, die an mysteriösen Symptomen leiden. Die «New York Times» hat zusammengefasst, was dazu bisher bekannt ist (Bezahlschranke).

  • Kleine Flucht: Normalerweise liest Katie Parker ihrem Sohn eine Gutenachtgeschichte vor. Aber jetzt, während der Corona-Quarantäne, sitzen die beiden in ihrer Wohnung in Fairfield, im US-Bundesstaat Connecticut, abends jeweils ein paar Minuten am Computer und geben vor, Ameisen zu sein. In einer Onlinegruppe mit 1,7 Millionen anderen Menschen, die Ameisen sind. Der Erfinder der Gruppe sagt, für viele sei das eine wohltuende Flucht vom Corona-Alltag.

  • Grenzenlose Liebe: Es ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass die Schweiz ihre Grenzen geschlossen hat. Überquert werden darf sie seither nur wegen einer «dringlichen Notwendigkeit». Weil Liebe da nicht dazugezählt wird, konnten sich Tausende von Paaren in den letzten Wochen nicht mehr treffen. Trotzdem finden sie Wege, wie sie sich an der Grenze begegnen können, wie eine berührende Bildstrecke der NZZ zeigt.

Zum Schluss ein Blick nach Berlin, wo sich ein Stadtführer etwas Besonderes ausgedacht hat

Gewisse Jobs kann man einfach nicht im Homeoffice erledigen. Das wissen auch Guides, die normalerweise in Städten Touristen die besten Sehenswürdigkeiten erklären. Doch weil die Touristen fehlen, haben die meisten Stadtführer zurzeit keine Arbeit. Eine Ausnahme ist Sebastian Bonfiglioli in Berlin: Er führt nach wie vor durch seine Stadt. Doch die rund drei Dutzend Zuschauer, die ihm dabei folgen, sitzen zu Hause vor ihren Bildschirmen und schauen sich den Instagram-Livestream des 31-Jährigen an. Für eine einstündige Führung durch Berlin-Mitte bekommt Bonfiglioli 40 Euro Pauschale des Anbieters, für den er die Onlinetouren macht. Zudem können die Zuschauer Trinkgeld geben. Davon leben könne man nicht, aber es sei immer noch besser, als sich zu Hause zu langweilen, findet Bonfiglioli.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Elia Blülle, Bettina Hamilton-Irvine und Charlotte Theile

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Wie sprechen führende Politiker miteinander, wenn die Grenzen geschlossen und Besuche unmöglich sind? Ganz ähnlich wie Sie und wir – nur dass das Büro etwas grösser ist.

PPPPS: Eigentlich meint es Twitter gut: Der Kurznachrichtendienst möchte Nutzer, die Verschwörungstheorien verbreiten, darauf hinweisen, dass es dafür keine wissenschaftliche Grundlage gibt. Nur funktioniert das Ganze so mässig. Aber sehen Sie selbst.

PPPPPS: Multimilliardär Bill Gates hat die Veröffentlichung der neuen Covid-Version angekündigt. Covid-20 «soll zahlreiche neue Funktionen bieten und einige Fehler der aktuellen Version beseitigen». Schreibt das Satiremagazin «Der Postillon», und die werden es ja wohl wissen.

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