
Richter und Denker
Hat der betrunkene Raser, der ein Rotlicht überfährt und einen schweren Unfall verursacht, Tote in Kauf genommen? Was er als Richter praktisch anwendet, beschäftigt Christopher Geth auch als Strafrechtsprofessor: die Gesetzgebung gegen Raser.
Von Daria Wild, 13.05.2020
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Seit das gesetzliche Massnahmenpaket Via sicura am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist, müssen gravierende Geschwindigkeitsüberschreitungen innerhalb des Raser-Tatbestands strenger geahndet werden. Wer rast, wird mit mindestens einem Jahr Freiheitsentzug bestraft, und der Fahrausweis muss für zwei Jahre abgegeben werden – im Wiederholungsfall für immer.
Die Stiftung Roadcross, die mit ihrer später zurückgezogenen Raser-Initiative die Verschärfungen anstiess, jubelte. Die harte Linie gegen Raser hatte in der Bevölkerung viel Rückhalt. Doch nun soll der Raser-Straftatbestand gelockert werden. Noch in diesem Jahr will der Bundesrat dem Parlament einen Vorschlag zur Anpassung von Via sicura unterbreiten. Dabei geht es vor allem um die vorgegebene Mindeststrafe. Selbst Politiker, die das Via-sicura-Paket damals ausgearbeitet haben, fordern hier mehr Spielraum für die Richterinnen.
Christopher Geth, Strafrechtsprofessor und Richter, beschäftigt sich mit dem Zustandekommen und allfälligen Revisionen von Gesetzen – und wendet sie in der Praxis an. Als Wissenschaftler kann er Stellung beziehen, Gesetze und Entscheide kritisieren. Im Gerichtssaal hingegen hat er konkrete Fälle zu beurteilen, mit den Gesetzen, die in Kraft sind. Die beiden Rollen ergänzen sich – und sind doch scharf voneinander abzugrenzen. Und sie machen ihn zum interessanten Gesprächspartner über den Wandel der Raser-Gesetze.
Ort: Strafgericht Basel-Stadt
Zeit: 23. April 2020
Fall-Nr.: SG2020.15
Thema: Verkehrsunfall mit Verletzten
Sieht man sich die Polizeifotos des Unfalls an, muss man von Glück reden, dass niemand gestorben ist. Ein Foto zeigt einen dunklen Wagen mit zertrümmerter Front, ein zweites ein komplett zerknautschtes Taxi. Zu verantworten hat das ein 37-jähriger Mann. Er wird beschuldigt, in einer Oktobernacht 2018 mit rund 1,1 Promille im Blut und 100 km/h über ein Rotlicht gefahren und mit dem Taxi kollidiert zu sein. Der Taxifahrer und sein Gast wurden schwer verletzt. Der Taxifahrer war längere Zeit arbeitsunfähig, der Fahrgast musste monatelang stationär behandelt werden und leidet noch immer unter Hüftschmerzen.
Ende April steht der Mann vor dem Strafgericht Basel-Stadt. Er ist wegen mehrfacher versuchter vorsätzlicher Tötung, wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand, wegen Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit und wegen Fahrerflucht angeklagt.
Die Staatsanwaltschaft fordert knapp sechs Jahre Freiheitsentzug, der Verteidiger 12 Monate bedingt. Der Beschuldigte ist seit Anfang Jahr inhaftiert, die Untersuchungshaft wurde während des Verfahrens wegen Fluchtgefahr angeordnet. Der Staatsanwalt erachtet den Straftatbestand der mehrfachen versuchten vorsätzlichen Tötung als erfüllt. Der Verteidiger plädiert dafür, den Mann «nur» für mehrfache fahrlässige Körperverletzung zu bestrafen.
Die geheime Beratung findet am Ende des ersten Verhandlungstags statt. Über das Schicksal des Mannes entscheiden vier Richterinnen und ein Richter unter dem Vorsitz von Gerichtspräsidentin Susanne Nese. Der Statthalter in diesem Fall, also jener, der an der Beratung als Erster spricht, ist der Strafrechtsprofessor und Richter Christopher Geth.
Das Urteil erfolgt am nächsten Morgen: Für das Gericht liegt kein Eventualvorsatz vor. Das Strafmass bewegt sich dennoch im oberen Feld: 36 Monate Freiheitsentzug, davon 18 Monate unbedingt, wegen fahrlässiger Körperverletzung, grober Verkehrsregelverletzung und anderer Strassenverkehrsdelikte. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Eine Bilderbuchkarriere
Wenige Tage später in Riehen BS, Tramhaltestelle Weilstrasse. Wiesensalbei blüht an der unter normalen Umständen rege befahrenen Lörracherstrasse, die nach wenigen hundert Metern über die deutsche Grenze führt. Die Wolken sind noch regenschwer vom ersten niederschlagsreichen Morgen seit Wochen, die Sonne drückt. Vereinzelt begeben sich Spaziergänger auf die Wege durch die grenznahen Wiesen und Wälder. Es ist das Naherholungsgebiet Lange Erlen: Die grüne Ebene umschliesst einen Nebenfluss des Rheins, verläuft mit ihm entlang der Grenze, die Basel an drei Seiten von Deutschland trennt. Christopher Geth kommt mit dem Fahrrad.
Durchschnittlich einmal pro Monat beurteilt Geth einen Prozess am Basler Strafgericht, ansonsten forscht er am Institut für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern. Er hält Vorlesungen, gibt Seminare, betreut Studierende oder nimmt, Corona-bedingt, Podcasts auf. Mitte April wurde bekannt, dass er von der Universität Basel zum Strafrechtsprofessor berufen worden ist. Es ist schweizweit eine von wenigen Stellen für Strafrechtsprofessoren in der Akademie.
Geth, 40 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Südbaden, Deutschland, hat einen geradlinigen Weg in der Wissenschaft hinter sich. 2009 promoviert er an der Universität Basel, wird Lehrbeauftragter und wechselt 2013 als Assistenzprofessor an die Universität Bern. Und jetzt die Berufung an die Universität Basel, eine Stelle auf Lebenszeit. Ein Erfolg, den Geth mit Bescheidenheit bemisst: Dazu gehöre schliesslich auch viel Glück. Überhaupt zeigt er sich zurückhaltend: Man wolle ihn in einem Text porträtieren? Er habe doch bisher noch gar nicht viel geleistet. 2017 wird Geth zum ordentlichen Richter in Basel-Stadt ernannt, vorgeschlagen vom Grünen Bündnis.
Die Berufung an die Universität Basel ist eine Heimkehr; Basel ist sein Lebensmittelpunkt. Seit 13 Jahren lebt Geth mit seiner Familie in Riehen, seine Frau ist Ärztin am Universitätsspital Basel, die Kinder sind 14 und 9 Jahre alt, die Grosseltern wohnen in der Nähe. Sein Alltag ist zurzeit geprägt von Homeoffice und Homeschooling. Das sei schön, sagt er, und dass der tägliche Weg an die Universität Bern, wo er noch dieses und nächstes Semester lehrt, wegfalle, eine Entlastung. Corona-bedingt findet dieses Gespräch auf einem Spaziergang statt.
Vom Wissen und Willen
Geth, grauweiss meliertes Haar, in Jeans und Hemd, einen kleinen Regenschirm in der Hand und sonst nichts dabei, ist ein leidenschaftlicher Wissenschaftler, Professor und Jurist. «Herzfeuer», sagt er selber, habe er bei seiner Arbeit. Seine Positionen vermittelt er wohlüberlegt und pointiert.
Die Sprache ist deutlich, präzise, zügig, akademisch. Spricht er über die Verhandlung, die hinter ihm liegt, den «Raserfall», steht rasch «die juristisch interessante Frage» im Zentrum. Sie lautet: «Hat der Beschuldigte in der Phase des Fahrens und beim Übertreten des Rotlichts billigend in Kauf genommen, dass es zu einem Unfall kommt, bei dem jemand stirbt? Erfüllte er also den Dolus eventualis hinsichtlich eines Tötungsdelikts?»
Es bleibt nicht verborgen, dass Geth solche Fragen begeistern, dass er sie gern erörtert, gern die Spielräume auslotet, die Schwierigkeiten benennt und die grossen Bögen mit Leichtigkeit schlägt. Das Bundesgericht habe den Vorsatz bei Raserfällen «grosszügig angenommen», sagt er, «eine mitunter von der Literatur kritisierte Rechtsprechung». Bei «ihrem» Fall sei es zwar nicht um ein vollendetes Tötungsdelikt gegangen, doch die Grundsatzfrage sei die gleiche gewesen: War die Verkehrsregelverletzung so grob, dass das Gericht darauf schliessen konnte, dass der Fahrer «mit Wissen und Willen» handelte?
«Wenn man den Beschuldigten fragt, ob er einen Tod in Kauf genommen hat, sagt er natürlich Nein», fährt Geth fort. «In seiner Wahrnehmung hat er sich risikohaft verhalten, aber darauf vertraut, dass der Erfolg eines Tötungsdelikts ausbleibt. Die Rechtsprechung verlangt in solchen Fällen, in denen nur das Wissen um das Risiko vorliegt, ein besonders krasses verkehrswidriges Verhalten, um daraus auch auf den Willen zu schliessen.» Der Wille werde in diesen Fällen aus der Wissenskomponente konstruiert.
Der Entscheid des Gerichts, dass der Mann zwar mit Wissen, aber ohne Willen handelte – «eine Interpretationsfrage», sagt Geth.
Gesellschaft und Gesetze
Das Raser-Gesetz, gegen das der Mann verstossen hat, war und ist umstritten. Seinem Inkrafttreten 2013 gingen wenige spektakuläre Raser-Delikte und ein hitziger Abstimmungskampf voraus. Die Gesetzgebung ist streng – und lässt den Richtern wenig Spielraum: So gilt etwa ein Mindeststrafmass von einem Jahr Freiheitsstrafe.
2018 forderte das Parlament vom Bundesrat, das Gesetz aufzuweichen, der Bundesrat wird dem Parlament dieses Jahr einen Vorschlag unterbreiten. Selbst Parlamentarier, die einst an der Ausarbeitung beteiligt waren, sind inzwischen für eine Lockerung.
Auch solche Fragen treiben Geth um: Wann und wie soll der Gesetzgeber auf Sorgen, Stimmungen, Entwicklungen in der Gesellschaft reagieren? Wann und warum wird ein Gesetz beschlossen oder aufgeweicht?
«Die Haltung gegenüber einem Straftatbestand hat viel damit zu tun, ob es einen mit einbezieht. Bei Via sicura hat man plötzlich gemerkt: Das ist eine Straftat, die ich selber begehen kann, wenn ich mal zu schnell fahre. Ich bin von der Ausgestaltung des Gesetzes betroffen. Auf der anderen Seite gibt es Straftatbestände, die nicht für alle gelten und für die deshalb unverhältnismässig hohe Strafen drohen und auch verhängt werden. Straftatbestände zum Beispiel, die nur Ausländer erfüllen können.»
Es sind politische Fragen. Zwischen seinen Funktionen als Richter und Wissenschaftler zieht Geth klare Grenzen: «Im Gerichtssaal geht es darum, vor dem Hintergrund des Rahmens, den der Gesetzgeber und die Gerichte stecken, ein Urteil zu fällen. Auch wenn ich akademisch oder als Bürger mit einem Gesetz nicht einverstanden bin, akzeptiere ich es. In der Akademie bin ich freier, ich kann den Gesetzgeber kritisieren, und ich kann die Gerichte kritisieren. Aber auch da steht immer das juristische Argument im Vordergrund, nicht das politische.»
Theorie und Praxis
Geth schreckt nicht davor zurück, als Strafrechtsprofessor Position zu beziehen. So gehörte er zu den 22 Strafrechtlerinnen, die sich 2019 mit einem Gastbeitrag im «Tages-Anzeiger» hinter Amnesty International stellten. Die Menschenrechtsorganisation fordert eine Revision des Sexualstrafrechts und die Umsetzung der Istanbul-Konvention.
Es sei, sagt Geth, Teil seines Jobs, sich öffentlich zu äussern, seine Expertise weiterzugeben. «Ich bin schliesslich öffentlich-rechtlich angestellt, der Steuerzahler bezahlt meinen Lohn.»
Die Universitäten stehen unter einem ständigen Legitimationsdruck, sowohl gegenüber den Geldgebern als auch gegenüber der Öffentlichkeit. Es sei richtig, sagt Geth, dass die Universität sich mit Entwicklungen in der Gesellschaft auseinandersetze. Aber sie dürfe nicht vergessen, wo ihr Kerngebiet liege. In der Generierung und der Vermittlung von Wissen und in der Ausbildung der Studierenden. Besonders die Lehre liege ihm am Herzen. «In der Justiz oder im Anwaltsberuf geht es ja nicht um Papiere und Stempel, sondern um Menschen.»
Und doch: Er könne sich kaum mehr vorstellen, nur an der Universität zu sein. Die Richtertätigkeit sieht er als wichtige Ergänzung, als Arbeit an der Basis: «Viele Fallkonstellationen, die sich in Wirklichkeit stellen, sieht man erst, wenn man am Gericht arbeitet, und zwar vor allem bei den unteren Instanzen.» Die Erfahrungen als Richter fliessen in seine Arbeit an der Universität. Und umgekehrt bringt er akademisches Wissen ins Gerichtskollegium ein.
Scharfe Kritik
Der Weg führt auf eine Hauptstrasse, Basel, Stadtrand. Geths Tempo ist hoch. Je länger der Spaziergang dauert, desto mehr kommen die grundlegenden, die philosophischen Fragen zur Sprache. Was ist Sinn und Zweck des Strafens? Was legitimiert den Staat, seine Bürger zu bestrafen, und welches Verhalten soll sinnvollerweise unter Strafe stehen? In welche Richtung entwickelt sich das Strafrecht, wenn immer mehr die Prävention im Vordergrund steht?
Geth sass in der Jury, die für das Justizmagazin «Plädoyer» das Fehlurteil des Jahres kürte; ein Bundesgerichtsentscheid über eine ambulante Massnahme. Das Gericht war bei der Beurteilung der – potenziellen – Gefährlichkeit des Beschuldigten weitergegangen als die Gutachter. Die «Plädoyer»-Jury betitelte ihren Entscheid mit «Unbegrenzte Pathologisierung von Kriminalität». Die Entwicklung in Richtung eines Präventionsstrafrechts kritisiert Geth scharf. «Menschen können relativ niederschwellig eingesperrt werden, nicht weil sie etwas getan haben, sondern weil sie etwas tun könnten.»
Geths eigentliches Kernthema ist aber die Strafprozessordnung, die seit 2011 in Kraft ist. Christopher Geth spricht bei diesem Thema mit grossem Eifer, manches stört ihn.
Die Entscheidungsmacht der Staatsanwaltschaft sei zu gross, ihre Doppelfunktion als Untersuchungsbehörde und quasirichterliche Behörde im Strafbefehlsverfahren hochproblematisch. Ohne eine griffige Ausgestaltung von Mitwirkungsrechten und insbesondere Teilnahmerechten könne man diese Machtfülle und die Verlagerung des Strafverfahrens auf das Vorverfahren kaum legitimieren. Es sei bedauerlich, dass der Bundesrat mit der aktuell laufenden Revision der Strafprozessordnung den Staatsanwaltschaften noch mehr Möglichkeiten für die Einschränkung von Parteirechten einräume, «anstatt die bestehenden rechtsstaatlichen Bedenken zu beseitigen».
Vielleicht ist es das Thema, das gewissermassen Geths Mission definiert, seine Rollen als Strafrechtsprofessor, Richter und Bürger vereint: «Mir geht es darum, ein möglichst sinnvolles, gerechtes Strafverfahren zu haben», sagt Geth.
Die Strasse führt unter einer metallenen Skulptur zurück in Richtung Tramlinie. Haltestelle Eglisee, einen See gibt es nicht, dafür ein Freibad. Geth verabschiedet sich ins Homeoffice. Der Regen ist ausgeblieben.
Illustration: Till Lauer