Es gibt gute Gründe, weshalb die Corona-App später kommt
Das Parlament verzögert die Lancierung der Contact-Tracing-App. Das stärkt das Vertrauen der Bürgerinnen – doch die Schweiz wird ihre Pionierrolle wohl verlieren.
Von Adrienne Fichter, 09.05.2020
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Bis jetzt hat die Schweiz im Rennen um eine Contact-Tracing-App technisch brilliert. Die App also, mit der nachträglich nachverfolgt werden kann, mit wem Corona-Infizierte engen Kontakt hatten. Die Schweiz hat sich für eine Lösung entschieden, die weltweit von Datenschützerinnen, Technologen und Epidemiologinnen als datensparsamste Lösung empfohlen und von vielen europäischen Ländern, unter anderen Österreich oder Lettland, kopiert wird. Auch hochrangige Vertreter von Google und Apple lobten die Schweizer Lösung und bauten ihre Schnittstelle auf dem Vorbild des DP3T-Protokolls auf, entwickelt von der EPFL und der ETH. Das BAG legte sogar einen richtigen Turbostart hin, die App wurde für den 11. Mai angekündigt.
So weit, so erfreulich.
Doch nun wurden der Bundesrat und auch das Forscherteam von EPFL und ETH Zürich ausgebremst. Vom Parlament, das seit dieser Woche wieder tagt. Es besteht darauf, dass der Bundesrat erst einen Gesetzesentwurf vorlegt und das Parlament diesen in der Sommersession gutheisst, bevor die Bürger auch in der Schweiz die App herunterladen und nutzen können.
Die Schweizer DP3T-App wird wegen des Parlamentsentscheids bis zum Sommer nicht in den App-Stores zur Verfügung stehen, wie BAG-Mediensprecherin Katrin Holenstein auf Anfrage der Republik bestätigt. Stattdessen läuft wohl länger als geplant eine Testphase, während der nur ausgewählte Fachleute die DP3T-App nutzen können. Erste Anleitungen für die Kantonsärzte sind bereits aufgeschaltet.
Für den Parlamentsentscheid gibt es gute Argumente, und eine politische Debatte ist notwendig. Doch die Schweiz wird ihre Rolle des technischen Pioniers in Europa wohl verlieren.
Offene ethische Fragen
Tatsächlich wirft die Einführung einer digitalen Contact-Tracing-App – obwohl sie für die Bevölkerung freiwillig sein wird – eine Reihe von politischen, rechtlichen und ethischen Fragen auf.
Bereits am 22. April reichte die Staatspolitische Kommission des Nationalrats eine Motion ein für eine gesetzliche Grundlage einer Contact-Tracing-App. Sie nannte darin insbesondere das technisch dezentrale App-Design, das es gesetzlich zu verankern gelte. Doch genau das ist mit der Wahl des dezentralen Modells der DP3T-Forschungsgruppe bereits sichergestellt. Deshalb, und weil das Epidemiengesetz die Bundeskompetenz und die Grundlagen für den Umgang mit Personendaten bereits festhält, hielt der Bundesrat eine zusätzliche gesetzliche Grundlage für unnötig.
Doch es gibt über den technischen Datenschutz hinaus eine Reihe von ethischen Fragen, die noch nicht zu Ende gedacht sind. Ungeregelt sind zum Beispiel folgende durchaus realistische Szenarien:
Was passiert …
… wenn eine Krankenkasse einen Covid-19-Test nicht bezahlen möchte, wenn die App nicht auf dem Smartphone installiert ist?
… wenn Unternehmen bei Vorweisen der App Rabatt auf medizinische Leistungen oder Bahnreisen gewähren?
… wenn Arbeitnehmende für die bessere Planungssicherheit der Unternehmen (wie in Indien) die App obligatorisch installieren müssen, damit Ausfälle (Verordnung von Quarantäne) genauer einkalkuliert werden können?
Kritiker befürchten genau solche «Nudging-Praktiken» durch Privatunternehmen, also das Ausüben eines subtilen indirekten Zwangs, indem App-Nutzerinnen handfeste Vorteile gegenüber Nichtnutzern haben. Es geht also um ethische Fragen, auf die das Epidemiengesetz keine Antworten hat. Auch der eidgenössische Datenschützer Adrian Lobsiger besteht darum auf einer spezifischen gesetzlichen Grundlage und darüber hinaus auf vollständiger Transparenz aller Dokumentationen.
Koppelungsverbot und Diskriminierungsverbot
Die wichtigste Baustelle: Die Schweiz kennt bislang kein Koppelungsverbot und keinen Diskriminierungsschutz bei Privatunternehmen. Es wäre also theoretisch möglich, dass Unternehmen die App-Installation als zwingende Vorbedingung für eine Dienstleistung einforderten.
Der grüne Nationalrat Balthasar Glättli, Mitglied der Staatspolitischen Kommission, argumentierte denn auch mit genau diesen Punkten – und dem verbindlichen Schutz der Freiwilligkeit – für ein spezifisches Gesetz.
National- und Ständerat sind dieser Argumentation gefolgt und haben die Motion deswegen angenommen. Das Parlament wird in der Sommersession die Details beraten und ein Gesetz verabschieden. Als Vorbild könnte Australien dienen, das in einem Gesetzesentwurf obige Ausgrenzungsrisiken regelt.
Wird die Schweiz nun in ihrem ambitionierten Fahrplan aufgehalten? Jein.
Frustrierende User-Erfahrung für Schweizerinnen
Zunächst: Die Entwicklung der App kommt trotzdem voran. Der Bundesrat kann bereits jetzt gestützt auf Artikel 17a des Datenschutzgesetzes eine Verordnung ausarbeiten und am 11. Mai den Testbetrieb der App für einen ausgewählten Nutzerkreis eröffnen.
Gleichzeitig drücken auch Google und Apple aufs Tempo. Die von ihnen angekündigte Schnittstelle soll noch im Mai ausgerollt werden, und das direkt auf Betriebssystemebene. Apple- und Android-Smartphone-Nutzer können demnächst ihre Begegnungen auf ihrem Gerät protokollieren und sammeln, indem sie in ihren Einstellungen bei der entsprechenden Covid-19-Schnittstelle den Regler auf On schieben und dem Tracing zustimmen.
Doch für Schweizerinnen wird das nächste Software-Update eine frustrierende Erfahrung bedeuten: Sie werden die neue Funktion auf ihrem Smartphone zwar sehen, aber nichts damit anfangen können. Denn die Aktivierung des Exposure Logging wird nur mit einer offiziell lancierten nationalen Contact-Tracing-Applikation möglich sein, wie Apple gegenüber dem Magazin «9to5Mac» nun klarstellte. Ebenso können Benachrichtigungen aller Kontaktpersonen nur mit einer nationalen Contact-Tracing-App erfolgen.
Das bedeutet: Apple und Google dürften bald so weit sein – und die Schweiz wird wegen des ausgeweiteten Testbetriebs ihre Pionierrolle wohl verlieren.
Im Moment ist noch unklar, ob auch die angedachte Test-App mit den Schnittstellen der Tech-Unternehmen funktionieren wird, wie ein Apple-Insider gegenüber der Republik sagt: «Ob die Schweizer Test-App alle Funktionen wie im Echtbetrieb ermöglichen wird, kann man aus momentaner Sicht kaum beurteilen.»
Die Entwickler selber sind vorsichtig optimistisch. ETH-Professor Kenneth Paterson, Mitglied der DP3T-Gruppe, meinte, dass das parlamentarische Verdikt den Masterplan zwar ein wenig verlangsamen werde. Aber es habe auch Vorteile: «Wir haben mehr Zeit für die Entwicklung und ausreichendes Testen.» Man stehe in ständigem Austausch mit den Tech-Unternehmen.
Vorerst ist die Schweiz noch in guter Gesellschaft. Denn auch einige andere europäische Länder werden ihre Contact-Tracing-Fahrpläne nicht einhalten, aus unterschiedlichsten Gründen. Italien hat seine zentralisierte App Immuni vor paar Wochen wieder über Bord geworfen und setzt nun auf eine dezentrale Lösung, Deutschland machte dieselbe 180-Grad-Kehrtwende. Die englische Tracing-App der NHS und auch die französische PEPP-PT-Anwendung setzen beide auf einen zentralisierten Ansatz und sorgen deswegen schon seit Tagen für negative Schlagzeilen, wegen des grossen Batterieverbrauchs, nicht funktionierender Bluetooth-Übertragung und des teils grossen Eingriffs in die Privatsphäre ihrer Nutzerinnen.
Fazit: Das Parlament hat berechtigte digital-ethische Fragen angesprochen, und es wird das Vertrauen in die App steigern, sie zu beantworten. Offen bleibt allerdings die Frage, wie die geplante Contact-Tracing-Strategie des Bundesrats bis dahin ohne griffiges digitales Tool gelingen soll.