13 Tage zwangsfixiert – Brians Ärzte vor Gericht

Der Jugendstraftäter, der später unter dem Pseudonym «Carlos» bekannt werden sollte, verbrachte seinen 16. Geburtstag gefesselt ans Psychiatriebett, sediert mit einem Medikamenten­cocktail. Fast neun Jahre später hat der Staatsanwalt Anklage gegen drei Ärzte erhoben.

Von Brigitte Hürlimann (Text) und Alexandra Compain-Tissier (Illustration), 05.05.2020

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Unterstützen auch Sie die Republik mit einem Abo: Einstiegsangebot nur bis 31. März 2024.

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr
Brian, zwangsfixiert in der Psychiatrie: Illustration nach einem Foto.

Wir nannten ihn Mike, als wir im Juni letzten Jahres in einer vierteiligen Serie seine Odyssee durch die schweizerische Strafjustiz schilderten. Eine Leidens­geschichte für alle Beteiligten, eine never ending story mit nur wenigen Lichtblicken.

Auf Wunsch seiner Familie wählten wir damals statt «Carlos» ein neues Pseudonym und entschieden uns für «Mike» – nach seinem grossen sportlichen Vorbild Mike Tyson. Der heute 24-Jährige befindet sich seit über zwei Jahren in Untersuchungs- und Sicherheits­haft, und zwar in einem ausser­gewöhnlich rigiden Haftregime, und wartet auf den zweit­instanzlichen Prozess vor dem Zürcher Obergericht.

Zur Serie

Alle kennen ihn als Täter. Kaum jemand hat ihn je als Opfer gesehen. Dabei ist sein Fall beispiellos für die Schweiz. Wie ein junger Intensiv­täter den Strafvollzug an seine Grenzen bringt – und darüber hinaus. Sie lesen es in der vierteiligen Serie «Am Limit».

Dem jungen Mann werden Dutzende von Vorfällen in diversen Gefängnissen vorgeworfen. Das Bezirks­gericht Dielsdorf verurteilte ihn im November letzten Jahres zu einer Freiheits­strafe von 4 Jahren und 9 Monaten – und zur kleinen Verwahrung. Der junge Mann akzeptiert das Verdikt nicht.

Und er will auch nicht mehr als Pseudonym durch die Medien geistern. Das macht er bei einem langen Telefon­gespräch mit der Republik Anfang April klar. Er sei weder «Carlos», noch sei er «Mike». Er bedanke sich für die Rücksicht­nahme auf die Familie und die Reverenz an sein Vorbild. Aber: Er sei nun erwachsen und wolle über die Namens­nennung selber entscheiden.

Er heisse Brian, das sei sein richtiger Vorname, und so wolle er auch genannt werden.

Der 24-Jährige versteht sein Outing als Akt der Entkriminalisierung. Er wolle allen zeigen, dass er ein Mensch sei, kein Monster, ein Mensch mit Träumen und Hoffnungen. Und eben: ein Mensch mit einem richtigen Namen.

«Und bitte», betont er beim Telefon­gespräch, «nennt mich nicht Brian K. Das macht man nur mit Schwer­verbrechern. Ich bin kein Tobias K., Jeton G. oder Thomas N. Die haben alle Leute umgebracht. Bitte akzeptiert meinen Wunsch, es ist mir ernst. Und wichtig.»

Bedingte Freiheitsstrafen gefordert

Während Brian in der Sicherheits­abteilung der Straf­anstalt Pöschwies einsame, unendlich lange Tage in strenger Isolation verbringt, hat sich die Strafjustiz in einer Sache bewegt, die sich vor bald neun Jahren abspielte – und in der er die Rolle des Opfers einnimmt. Für Brian und seine Familie ist es ein kleiner Lichtblick. Endlich sollen die Vorgänge in der Psychiatrischen Universitäts­klinik Zürich (PUK) von 2011 gerichtlich beurteilt werden: eine Zwangs­fixierung, kombiniert mit einer Zwangs­medikation, die 13 Tage dauerte.

Staatsanwalt Hans Maurer hat Ende März beim Bezirks­gericht Zürich eine Anklage­schrift gegen drei PUK-Ärzte eingereicht: gegen den Arzt, der den Jugendlichen damals behandelte, und gegen zwei Vorgesetzte, die dieses Handeln unterstützten, es als angemessen und verhältnis­mässig einstuften. Es handelt sich dabei um den Klinik­direktor und seinen damaligen Stellvertreter.

Der Ankläger verlangt für den behandelnden Arzt eine bedingte Freiheits­strafe von 14 Monaten wegen Freiheits­beraubung – und er geht von einem schweren Fall aus; die beiden Vorgesetzten sollen ebenfalls wegen Freiheits­beraubung schuldig gesprochen werden, allenfalls als Gehilfen.

Für den Klinik­direktor und seinen inzwischen pensionierten Stellvertreter fordert Maurer je eine bedingte Freiheits­strafe von 7 Monaten. Für Ersttäter sind dies empfindliche Strafandrohungen. Ursprünglich hätten sich die drei Ärzte auch noch wegen einfacher Körper­verletzung verantworten müssen, doch diese Delikte sind längst verjährt.

In der Anklageschrift wird umschrieben, was Thema des bevorstehenden Straf­prozesses ist, der noch diesen Sommer stattfinden könnte. Die 9. Abteilung des Bezirks­gerichts Zürich – und damit jene, die sich um die grossen Brocken kümmert – wird den Fall behandeln.

Brian war 15 Jahre alt, als er im Juni 2011 sein schwerstes Delikt begann. Nach einer verbalen Auseinander­setzung verletzte er einen 18-Jährigen in Zürich-Schwamendingen mit einem Messer und wurde wegen schwerer Körper­verletzung verurteilt, unter Anwendung des Jugend­strafrechts. Im Gefängnis versuchte er danach zweimal, sich umzubringen. Nach dem zweiten Versuch wurde der Jugendliche in die psychiatrische Klinik eingeliefert – und noch am gleichen Tag mit einer 7-Punkte-Fixierung ans Bett gefesselt. Zusätzlich verabreichte ihm der Arzt einen Medikamenten­cocktail.

Die Fixierung wurde 13 Tage lang aufrecht­erhalten. Erst ab dem 9. Tag durfte der Jugendliche gefesselt und unter polizeilicher Begleitung eine Stunde lang spazieren gehen; gemäss Anklage­schrift dauerte diese «Lockerung» drei Tage lang. Nach den Spazier­gängen wurde er jeweils wieder ans Bett gefesselt. Brian habe während der ganzen Zeit nicht die Toilette aufsuchen oder duschen dürfen, erinnert sich sein Vater. Ausserdem sei die Familie nie von den Ärzten informiert oder involviert worden – während und nach der Zwangs­massnahme nicht. Derart ans Bett gefesselt und beduselt von den Medikamenten, verbrachte Brian seinen 16. Geburtstag. Die Familie stand fassungslos an seinem Bett.

Es war Brians Schwester, die Ende September 2011 Straf­anzeige gegen die verantwortlichen Ärzte einreichte.

Ein erschütternd klares Gutachten

Doch warum wird erst diesen März Anklage erhoben? So spät, dass eine allfällige einfache Körper­verletzung bereits verjährt ist?

Die Zürcher Staats­anwaltschaft wollte die Untersuchung anfänglich nicht führen. Im Dezember 2015, über vier Jahre nach der Anzeige­erstattung, stellte sie die Unter­suchung gegen die drei PUK-Ärzte ein. Brians Familie zog die Einstellungs­verfügung vor Obergericht und hatte Erfolg. Das Gericht hiess die Straf­verfolger an, die Ereignisse in der Universitäts­klinik zu untersuchen.

Der Fall landete auf dem Pult des erfahrenen Staats­anwalts Hans Maurer. Und dieser tat auf Geheiss des Obergerichts, was bereits vor Jahren hätte geschehen müssen: Er gab ein Gutachten über die Behandlung in der PUK in Auftrag. Der Berliner Forensiker Werner Platz studierte im Auftrag des Staats­anwalts die Akten und kommt zu einem erschütternd klaren Ergebnis.

Noch nie, schreibt Platz in seinem Gutachten, habe er eine Fixierungs­dauer von 13 Tagen erlebt. Das Verhalten des Patienten habe seiner Meinung nach weder eine Fixierung noch eine parallel erfolgte Zwangs­medikation gerechtfertigt.

Bei einem der insgesamt zehn Medikamente, die Brian während der Zwangs­fixierung verabreicht worden sind, stellt Platz eine Verdreifachung der üblichen Maximal­dosierung fest. Und er erwähnt – was wichtig ist –, dass der Jugendliche bei der Einlieferung «bewusstseinsklar und voll orientiert» gewesen sei.

Der Berliner Psychiater verweist auf die Regeln des europäischen Antifolterausschusses (CPT), der eine tagelange mechanische Fixierung grundsätzlich ablehnt: Eine solche Praxis komme einer Misshandlung gleich. Und er erwähnt ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das im Juli 2018 die grundrechtlichen Grenzen der Fixierung von Patienten festhielt. Zu den wichtigsten Schluss­folgerungen der deutschen Verfassungs­richter gehört: Jede Fixierung, die sämtliche Gliedmassen betrifft – wie bei Brian – und länger als eine halbe Stunde dauert, braucht eine richterliche Genehmigung.

Staatsanwalt Hans Maurer stützt sich in seiner Anklage­schrift ebenfalls auf den europäischen Antifolter­ausschuss, und er erwähnt ausführlich die Richt­linien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Die vom Bund unterstützte, 1943 gegründete Organisation versteht sich als «Brücken­bauerin zwischen Wissenschaft und Gesellschaft». In einer 44-seitigen Broschüre setzt sie sich mit den «Zwangs­massnahmen in der Medizin» auseinander.

«Autonomie», so heisst es in der Präambel, «ist ein zentraler Begriff der medizinischen Ethik. Jede Anwendung von Zwang steht in einem Widerspruch zum Prinzip der Achtung der Autonomie.» Zwangs­massnahmen stellten einen gravierenden Eingriff in grundrechtlich verankerte Persönlichkeits­rechte dar und bedürften einer ethischen Rechtfertigung – selbst dann, wenn sämtliche Regeln eingehalten werden: was im Fall des 15-jährigen Patienten umstritten ist.

«Bei der Durchführung von Zwangs­massnahmen sind die Verhältnis­mässigkeit und die Subsidiarität besonders zu achten», schreibt die Akademie. Und sie erwähnt drohende somatische und psychische Schäden: zum Beispiel Infektionen, aber auch eine psychische Traumatisierung. Und die Akademie betont, dass die «Kommunikation mit dem betroffenen Patienten vor, während und nach einer Zwangs­massnahme» von entscheidender Bedeutung sei. Das trage wesentlich dazu bei, die Dauer der Zwangs­massnahme so kurz wie möglich zu halten – im Idealfall könne diese dadurch sogar verhindert oder durch weniger eingreifende Massnahmen ersetzt werden.

Ebenso sei das Gespräch mit Angehörigen und anderen wichtigen Bezugs­personen zu suchen. Brians Eltern beteuern, das sei nie geschehen. Sie seien im Gegenteil telefonisch abgewimmelt worden, als sie ihren Sohn in der psychiatrischen Klinik hätten besuchen wollen. Erst sieben Tage nach seiner Klinik­einlieferung hätten sie Brian zusammen mit Rechts­anwalt Stephan Bernard sehen dürfen – an seinem Geburtstag. Der Anwalt habe danach Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um der Fixierung und Sedierung ein Ende zu bereiten. Auch er habe zuvor nichts über die Zwangs­behandlung seines jugendlichen Mandanten gewusst.

Staatsanwalt Maurer zitiert in der Anklage­schrift aus der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung der Richtlinien: «Isolierungen und Fixationen sollten in der Regel höchstens Stunden dauern.»

Für Brians Vater steht fest, dass sein Sohn spätestens nach dieser Erfahrung in der PUK sein Misstrauen der Psychiatrie gegenüber verstärkt hat. Während des Sonder­settings habe er sich nochmals alle Mühe gegeben, habe kooperiert – doch dann sei diese Massnahme ohne jegliches Verschulden Brians abrupt abgebrochen worden. Und aus Brian wurde «Carlos». Er wurde ins Gefängnis gesteckt, ungerecht­fertigter­weise, wie das Bundes­gericht später festhielt.

«Ein extremer Fall», sagen die Ärzte

Ob die PUK-Ärzte die Anforderungen und Regeln beim jugendlichen Brian eingehalten haben und ob eine 13-tägige Zwangs­fixierung, kombiniert mit einer massiven Zwangs­medikation, zulässig war (mit oder ohne Einhaltung der Regeln), darüber wird nun das Bezirks­gericht Zürich zu befinden haben.

Im Beschluss des Obergerichts vom 27. September 2016, mit dem die Staats­anwaltschaft angewiesen wurde, den Fall doch noch zu untersuchen, werden die drei beschuldigten Ärzte zitiert. Sie sagen, es sei nicht nötig, eine Untersuchung gegen sie zu führen, da mit Freisprüchen zu rechnen sei. Sie hätten nicht vorsätzlich gehandelt, und es sei ein «extremer Fall» gewesen: eine neue und ausser­gewöhnliche Situation. Der Patient habe wegen seiner Gefährlichkeit so lange fixiert werden müssen. Und wegen der Suizid­gefahr. Die drei Verteidiger sagten am Dienstag gegenüber der Republik, sie würden vor Gericht darlegen, dass alles korrekt verlaufen sei.

Auch die parallel erfolgte Medikation sei notwendig gewesen, und Brian habe davon profitiert. Er sei durch die Medikamente ruhiger und stabiler geworden. Es sei auch darum gegangen, allfällige körperliche Auswirkungen der Fixierung zu verhindern.

Rechtsanwalt Markus Bischoff nimmt als Geschädigten­vertreter für Brian am Verfahren teil. Er wird vor dem Bezirks­gericht Zürich einen Schuld­spruch für die drei Ärzte und eine Genugtuung für seinen Mandanten verlangen. Es gehe um ein Grundsatz­urteil zu einem schwer­wiegenden Vorfall, sagt Bischoff. Und dass es der Staats­anwalt ernst meine, ergebe sich aus den beantragten Strafen.

Ob auch Brian am Prozess teilnehmen kann?

Es sieht schlecht aus. Die Staats­anwaltschaft fordert regelmässig eine Verlängerung der Sicherheits­haft, und die Verhandlung vor Ober­gericht dürfte frühestens im Herbst stattfinden. Dort nimmt Brian dann wieder die Rolle des Beschuldigten und Berufungs­klägers ein.

Kampagnen-Logo

Unabhängiger Journalismus lebt vom Einsatz vieler

Artikel wie diesen gibt es nur, wenn genügend Menschen die Republik mit einem Abo unterstützen. Kommen Sie bis zum 31. März an Bord!

Wählen Sie Ihren Einstiegspreis
Ab CHF 120 für ein Jahr