13 Tage zwangsfixiert – Brians Ärzte vor Gericht
Der Jugendstraftäter, der später unter dem Pseudonym «Carlos» bekannt werden sollte, verbrachte seinen 16. Geburtstag gefesselt ans Psychiatriebett, sediert mit einem Medikamentencocktail. Fast neun Jahre später hat der Staatsanwalt Anklage gegen drei Ärzte erhoben.
Von Brigitte Hürlimann (Text) und Alexandra Compain-Tissier (Illustration), 05.05.2020
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Wir nannten ihn Mike, als wir im Juni letzten Jahres in einer vierteiligen Serie seine Odyssee durch die schweizerische Strafjustiz schilderten. Eine Leidensgeschichte für alle Beteiligten, eine never ending story mit nur wenigen Lichtblicken.
Auf Wunsch seiner Familie wählten wir damals statt «Carlos» ein neues Pseudonym und entschieden uns für «Mike» – nach seinem grossen sportlichen Vorbild Mike Tyson. Der heute 24-Jährige befindet sich seit über zwei Jahren in Untersuchungs- und Sicherheitshaft, und zwar in einem aussergewöhnlich rigiden Haftregime, und wartet auf den zweitinstanzlichen Prozess vor dem Zürcher Obergericht.
Alle kennen ihn als Täter. Kaum jemand hat ihn je als Opfer gesehen. Dabei ist sein Fall beispiellos für die Schweiz. Wie ein junger Intensivtäter den Strafvollzug an seine Grenzen bringt – und darüber hinaus. Sie lesen es in der vierteiligen Serie «Am Limit».
Dem jungen Mann werden Dutzende von Vorfällen in diversen Gefängnissen vorgeworfen. Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilte ihn im November letzten Jahres zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten – und zur kleinen Verwahrung. Der junge Mann akzeptiert das Verdikt nicht.
Und er will auch nicht mehr als Pseudonym durch die Medien geistern. Das macht er bei einem langen Telefongespräch mit der Republik Anfang April klar. Er sei weder «Carlos», noch sei er «Mike». Er bedanke sich für die Rücksichtnahme auf die Familie und die Reverenz an sein Vorbild. Aber: Er sei nun erwachsen und wolle über die Namensnennung selber entscheiden.
Er heisse Brian, das sei sein richtiger Vorname, und so wolle er auch genannt werden.
Der 24-Jährige versteht sein Outing als Akt der Entkriminalisierung. Er wolle allen zeigen, dass er ein Mensch sei, kein Monster, ein Mensch mit Träumen und Hoffnungen. Und eben: ein Mensch mit einem richtigen Namen.
«Und bitte», betont er beim Telefongespräch, «nennt mich nicht Brian K. Das macht man nur mit Schwerverbrechern. Ich bin kein Tobias K., Jeton G. oder Thomas N. Die haben alle Leute umgebracht. Bitte akzeptiert meinen Wunsch, es ist mir ernst. Und wichtig.»
Bedingte Freiheitsstrafen gefordert
Während Brian in der Sicherheitsabteilung der Strafanstalt Pöschwies einsame, unendlich lange Tage in strenger Isolation verbringt, hat sich die Strafjustiz in einer Sache bewegt, die sich vor bald neun Jahren abspielte – und in der er die Rolle des Opfers einnimmt. Für Brian und seine Familie ist es ein kleiner Lichtblick. Endlich sollen die Vorgänge in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) von 2011 gerichtlich beurteilt werden: eine Zwangsfixierung, kombiniert mit einer Zwangsmedikation, die 13 Tage dauerte.
Staatsanwalt Hans Maurer hat Ende März beim Bezirksgericht Zürich eine Anklageschrift gegen drei PUK-Ärzte eingereicht: gegen den Arzt, der den Jugendlichen damals behandelte, und gegen zwei Vorgesetzte, die dieses Handeln unterstützten, es als angemessen und verhältnismässig einstuften. Es handelt sich dabei um den Klinikdirektor und seinen damaligen Stellvertreter.
Der Ankläger verlangt für den behandelnden Arzt eine bedingte Freiheitsstrafe von 14 Monaten wegen Freiheitsberaubung – und er geht von einem schweren Fall aus; die beiden Vorgesetzten sollen ebenfalls wegen Freiheitsberaubung schuldig gesprochen werden, allenfalls als Gehilfen.
Für den Klinikdirektor und seinen inzwischen pensionierten Stellvertreter fordert Maurer je eine bedingte Freiheitsstrafe von 7 Monaten. Für Ersttäter sind dies empfindliche Strafandrohungen. Ursprünglich hätten sich die drei Ärzte auch noch wegen einfacher Körperverletzung verantworten müssen, doch diese Delikte sind längst verjährt.
In der Anklageschrift wird umschrieben, was Thema des bevorstehenden Strafprozesses ist, der noch diesen Sommer stattfinden könnte. Die 9. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich – und damit jene, die sich um die grossen Brocken kümmert – wird den Fall behandeln.
Brian war 15 Jahre alt, als er im Juni 2011 sein schwerstes Delikt begann. Nach einer verbalen Auseinandersetzung verletzte er einen 18-Jährigen in Zürich-Schwamendingen mit einem Messer und wurde wegen schwerer Körperverletzung verurteilt, unter Anwendung des Jugendstrafrechts. Im Gefängnis versuchte er danach zweimal, sich umzubringen. Nach dem zweiten Versuch wurde der Jugendliche in die psychiatrische Klinik eingeliefert – und noch am gleichen Tag mit einer 7-Punkte-Fixierung ans Bett gefesselt. Zusätzlich verabreichte ihm der Arzt einen Medikamentencocktail.
Die Fixierung wurde 13 Tage lang aufrechterhalten. Erst ab dem 9. Tag durfte der Jugendliche gefesselt und unter polizeilicher Begleitung eine Stunde lang spazieren gehen; gemäss Anklageschrift dauerte diese «Lockerung» drei Tage lang. Nach den Spaziergängen wurde er jeweils wieder ans Bett gefesselt. Brian habe während der ganzen Zeit nicht die Toilette aufsuchen oder duschen dürfen, erinnert sich sein Vater. Ausserdem sei die Familie nie von den Ärzten informiert oder involviert worden – während und nach der Zwangsmassnahme nicht. Derart ans Bett gefesselt und beduselt von den Medikamenten, verbrachte Brian seinen 16. Geburtstag. Die Familie stand fassungslos an seinem Bett.
Es war Brians Schwester, die Ende September 2011 Strafanzeige gegen die verantwortlichen Ärzte einreichte.
Ein erschütternd klares Gutachten
Doch warum wird erst diesen März Anklage erhoben? So spät, dass eine allfällige einfache Körperverletzung bereits verjährt ist?
Die Zürcher Staatsanwaltschaft wollte die Untersuchung anfänglich nicht führen. Im Dezember 2015, über vier Jahre nach der Anzeigeerstattung, stellte sie die Untersuchung gegen die drei PUK-Ärzte ein. Brians Familie zog die Einstellungsverfügung vor Obergericht und hatte Erfolg. Das Gericht hiess die Strafverfolger an, die Ereignisse in der Universitätsklinik zu untersuchen.
Der Fall landete auf dem Pult des erfahrenen Staatsanwalts Hans Maurer. Und dieser tat auf Geheiss des Obergerichts, was bereits vor Jahren hätte geschehen müssen: Er gab ein Gutachten über die Behandlung in der PUK in Auftrag. Der Berliner Forensiker Werner Platz studierte im Auftrag des Staatsanwalts die Akten und kommt zu einem erschütternd klaren Ergebnis.
Noch nie, schreibt Platz in seinem Gutachten, habe er eine Fixierungsdauer von 13 Tagen erlebt. Das Verhalten des Patienten habe seiner Meinung nach weder eine Fixierung noch eine parallel erfolgte Zwangsmedikation gerechtfertigt.
Bei einem der insgesamt zehn Medikamente, die Brian während der Zwangsfixierung verabreicht worden sind, stellt Platz eine Verdreifachung der üblichen Maximaldosierung fest. Und er erwähnt – was wichtig ist –, dass der Jugendliche bei der Einlieferung «bewusstseinsklar und voll orientiert» gewesen sei.
Der Berliner Psychiater verweist auf die Regeln des europäischen Antifolterausschusses (CPT), der eine tagelange mechanische Fixierung grundsätzlich ablehnt: Eine solche Praxis komme einer Misshandlung gleich. Und er erwähnt ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das im Juli 2018 die grundrechtlichen Grenzen der Fixierung von Patienten festhielt. Zu den wichtigsten Schlussfolgerungen der deutschen Verfassungsrichter gehört: Jede Fixierung, die sämtliche Gliedmassen betrifft – wie bei Brian – und länger als eine halbe Stunde dauert, braucht eine richterliche Genehmigung.
Staatsanwalt Hans Maurer stützt sich in seiner Anklageschrift ebenfalls auf den europäischen Antifolterausschuss, und er erwähnt ausführlich die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Die vom Bund unterstützte, 1943 gegründete Organisation versteht sich als «Brückenbauerin zwischen Wissenschaft und Gesellschaft». In einer 44-seitigen Broschüre setzt sie sich mit den «Zwangsmassnahmen in der Medizin» auseinander.
«Autonomie», so heisst es in der Präambel, «ist ein zentraler Begriff der medizinischen Ethik. Jede Anwendung von Zwang steht in einem Widerspruch zum Prinzip der Achtung der Autonomie.» Zwangsmassnahmen stellten einen gravierenden Eingriff in grundrechtlich verankerte Persönlichkeitsrechte dar und bedürften einer ethischen Rechtfertigung – selbst dann, wenn sämtliche Regeln eingehalten werden: was im Fall des 15-jährigen Patienten umstritten ist.
«Bei der Durchführung von Zwangsmassnahmen sind die Verhältnismässigkeit und die Subsidiarität besonders zu achten», schreibt die Akademie. Und sie erwähnt drohende somatische und psychische Schäden: zum Beispiel Infektionen, aber auch eine psychische Traumatisierung. Und die Akademie betont, dass die «Kommunikation mit dem betroffenen Patienten vor, während und nach einer Zwangsmassnahme» von entscheidender Bedeutung sei. Das trage wesentlich dazu bei, die Dauer der Zwangsmassnahme so kurz wie möglich zu halten – im Idealfall könne diese dadurch sogar verhindert oder durch weniger eingreifende Massnahmen ersetzt werden.
Ebenso sei das Gespräch mit Angehörigen und anderen wichtigen Bezugspersonen zu suchen. Brians Eltern beteuern, das sei nie geschehen. Sie seien im Gegenteil telefonisch abgewimmelt worden, als sie ihren Sohn in der psychiatrischen Klinik hätten besuchen wollen. Erst sieben Tage nach seiner Klinikeinlieferung hätten sie Brian zusammen mit Rechtsanwalt Stephan Bernard sehen dürfen – an seinem Geburtstag. Der Anwalt habe danach Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um der Fixierung und Sedierung ein Ende zu bereiten. Auch er habe zuvor nichts über die Zwangsbehandlung seines jugendlichen Mandanten gewusst.
Staatsanwalt Maurer zitiert in der Anklageschrift aus der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung der Richtlinien: «Isolierungen und Fixationen sollten in der Regel höchstens Stunden dauern.»
Für Brians Vater steht fest, dass sein Sohn spätestens nach dieser Erfahrung in der PUK sein Misstrauen der Psychiatrie gegenüber verstärkt hat. Während des Sondersettings habe er sich nochmals alle Mühe gegeben, habe kooperiert – doch dann sei diese Massnahme ohne jegliches Verschulden Brians abrupt abgebrochen worden. Und aus Brian wurde «Carlos». Er wurde ins Gefängnis gesteckt, ungerechtfertigterweise, wie das Bundesgericht später festhielt.
«Ein extremer Fall», sagen die Ärzte
Ob die PUK-Ärzte die Anforderungen und Regeln beim jugendlichen Brian eingehalten haben und ob eine 13-tägige Zwangsfixierung, kombiniert mit einer massiven Zwangsmedikation, zulässig war (mit oder ohne Einhaltung der Regeln), darüber wird nun das Bezirksgericht Zürich zu befinden haben.
Im Beschluss des Obergerichts vom 27. September 2016, mit dem die Staatsanwaltschaft angewiesen wurde, den Fall doch noch zu untersuchen, werden die drei beschuldigten Ärzte zitiert. Sie sagen, es sei nicht nötig, eine Untersuchung gegen sie zu führen, da mit Freisprüchen zu rechnen sei. Sie hätten nicht vorsätzlich gehandelt, und es sei ein «extremer Fall» gewesen: eine neue und aussergewöhnliche Situation. Der Patient habe wegen seiner Gefährlichkeit so lange fixiert werden müssen. Und wegen der Suizidgefahr. Die drei Verteidiger sagten am Dienstag gegenüber der Republik, sie würden vor Gericht darlegen, dass alles korrekt verlaufen sei.
Auch die parallel erfolgte Medikation sei notwendig gewesen, und Brian habe davon profitiert. Er sei durch die Medikamente ruhiger und stabiler geworden. Es sei auch darum gegangen, allfällige körperliche Auswirkungen der Fixierung zu verhindern.
Rechtsanwalt Markus Bischoff nimmt als Geschädigtenvertreter für Brian am Verfahren teil. Er wird vor dem Bezirksgericht Zürich einen Schuldspruch für die drei Ärzte und eine Genugtuung für seinen Mandanten verlangen. Es gehe um ein Grundsatzurteil zu einem schwerwiegenden Vorfall, sagt Bischoff. Und dass es der Staatsanwalt ernst meine, ergebe sich aus den beantragten Strafen.
Ob auch Brian am Prozess teilnehmen kann?
Es sieht schlecht aus. Die Staatsanwaltschaft fordert regelmässig eine Verlängerung der Sicherheitshaft, und die Verhandlung vor Obergericht dürfte frühestens im Herbst stattfinden. Dort nimmt Brian dann wieder die Rolle des Beschuldigten und Berufungsklägers ein.