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Niederkunft und Niedertracht

04.05.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Was haben Schwangerschaftsabbrüche mit der Pandemie zu tun?

Vielerorts ist mit Corona auch die ewige Debatte um das Abtreibungsrecht wieder ausgebrochen. Besonders heftig – wen wunderts – in den USA. Dort fordern konservative Politiker ein Moratorium für alle Schwangerschaftsabbrüche. Ihr Argument: Das Gesundheitssystem ist am Anschlag, nicht notwendige Eingriffe sollen ausgesetzt werden.

In Texas verbot der republikanische Gouverneur Greg Abbott bereits am 23. März alle Schwangerschaftsabbrüche während der Corona-Krise – es sei denn, das Leben der Mutter ist in Gefahr. Für Verstösse waren bis zu 180 Tage Gefängnis angedroht. In fünf weiteren Bundesstaaten wurden die Eingriffe eingeschränkt.

Nur: Ein Schwangerschaftsabbruch lässt sich meist nicht so einfach verschieben wie eine Nasenkorrektur oder eine Darmspiegelung. Wartet man zu lange, ist es zu spät oder illegal – und meist gleich beides.

Frauenrechtlerinnen werfen den Politikern vor, sie würden die Pandemie für ihre eigene politische Agenda missbrauchen. Die Präsidentin der grössten US-Ärzteorganisation, der AMA, schrieb, es sei bedauerlich, dass gewählte Amtsträger in einigen Staaten diesen Moment ausnutzten, um die reproduktive Gesundheitsversorgung von Frauen zu verbieten oder dramatisch einzuschränken.

Nachdem in Texas diverse Kliniken gegen das Ad-hoc-Gesetz des Gouverneurs protestiert hatten, hob der Generalstaatsanwalt das Verbot am 22. April nach einem mehrwöchigen juristischen Hickhack schliesslich wieder auf. Schwangerschaftsabbrüche sind in Texas auch während der Pandemie wieder erlaubt.

Auch in Europa nutzen Politiker und Aktivistinnen die Pandemie, um ein generelles Abtreibungsverbot voranzutreiben. Abtreibungsgegner versuchen auch in Italien und Grossbritannien, das Recht auf den selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch auszuhebeln. Auch hier mit dem Argument, die Spitäler hätten jetzt Dringenderes zu tun.

In Polen versuchte die nationalistische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bereits vor vier Jahren, den Schwangerschaftsabbruch auch für die Opfer von Vergewaltigungen zu verbieten. Doch der Widerstand war zu gross. 2016 gingen über 22’000 Polinnen auf die Strasse, und in verschiedenen anderen europäischen Städten kam es ebenfalls zu Protesten. Das Parlament krebste zurück.

Nun witterten die PiS-Politiker eine zweite Chance: Mitte April wollten sie das ohnehin schon sehr restriktive Abtreibungsgesetz verschärfen und forderten ein generelles Verbot aller Schwangerschaftsabbrüche. Die Opposition warf den regierenden Nationalisten vor, sie würden das Demonstrationsverbot ausnutzen, um ihre frauenfeindliche Politik durchzusetzen.

Trotz des pandemiebedingten Demonstrationsverbots gingen die Polinnen auf die Strasse – unter Einhaltung des gesetzeskonformen Sicherheitsabstandes. Dieser Widerstand zeigte Wirkung: Die Parlamentarierinnen schickten die Vorlage in einer zweiten Lesung zurück in den Ausschuss.

In der Schweiz sind die Spitäler gesetzlich dazu verpflichtet, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen – trotz Pandemie. Für mehr Informationen oder bei Fragen zu Schwangerschaftsabbrüchen wenden Sie sich am besten an die anerkannten Beratungsstellen. Sie stehen übrigens auch Männern offen.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen 29’981 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 76 Fälle mehr. Die Fallzahl sinkt kontinuierlich. Bis Mitte April kamen täglich neue Fälle in einem hohen dreistelligen Bereich dazu.

Das Parlament tagt wieder: Heute Morgen hat Nationalratspräsidentin Isabelle Moret die Sondersession mit einer Schweigeminute eröffnet. Die eidgenössischen Räte beraten in den nächsten Tagen die Nachtragskredite in Höhe von fast 58 Milliarden Franken zur Unterstützung der Privatwirtschaft sowie die vorgesehene Milliardenzahlung an die Luftfahrt. Zudem müssen sie nachträglich den Armee-Einsatz bewilligen. Die ausserordentliche Session dauert voraussichtlich bis zum Mittwochabend und findet in der Berner Messehalle Bernexpo statt.

Düstere Aussichten auf dem Arbeitsmarkt: Die Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich geht davon aus, dass es in der Schweiz zu vielen Entlassungen kommen wird. Ausser in der Versicherungsbranche haben sich die Beschäftigungserwartungen in fast allen Sektoren stark verschlechtert. Viele der befragten Unternehmen würden eine Reduktion ihres Personalbestandes in den nächsten drei Monaten planen, schreiben die ETH-Wissenschaftler. Am schlechtesten sind die Prognosen für das Gastgewerbe.

Lockerungen in Europa: Heute haben viele europäische Länder gewisse Corona-Beschränkungen aufgehoben. Die Italienerinnen dürfen nach zwei Monaten Ausgangssperre wieder raus; in Österreich öffnen die Schulen für die Abschlussklassen; in Belgien fahren wieder mehr öffentliche Verkehrsmittel; in Ungarn und Serbien dürfen Restaurants unter Auflagen wieder Gäste empfangen, die griechische Regierung hat bis auf die Reisebeschränkungen fast alle Lockdown-Massnahmen aufgehoben. Und die Spanier durften bereits am Wochenende erstmals wieder nach draussen, um Sport zu treiben oder spazieren zu gehen.

Die besten Artikel und Tipps

Unsere Datenjournalistin Marie-José Kolly hat sich gefragt, nach welchem Muster die Pandemie in unterschiedlichen Staaten verläuft. Wichtig: Die Zahl der bestätigten Fälle ist zwischen Ländern (und auch innerhalb davon) nicht ohne weiteres vergleichbar. Es wird unterschiedlich häufig getestet, und Testkriterien werden über die Zeit angepasst. Deshalb konzentriert sich Kolly in ihrer Analyse auf die Todesfallzahlen. Weshalb auch das keine perfekte Messgrösse ist, erklärt sie in der Analyse – und auch, warum sie zumindest einen Vergleich der Kurvenformen erlaubt.

  • Wo die Todesfälle pro Tag deutlich zurückgehen: In vielen zentral- und südeuropäischen Ländern gehen die coronabedingten Todesfälle zurück. So sterben heute in Italien, Frankreich, Österreich, Deutschland und der Schweiz deutlich weniger Covid-19-Patienten pro Tag als noch Anfang April.

  • Wo sich Hoffnung abzeichnet: In den USA und in Grossbritannien haben die Regierungen lange zugewartet, bevor sie strikte Massnahmen ergriffen. Dort ist die Zahl der Todesfälle im April rapide angestiegen. Nachdem die Politik nun in beiden Ländern einen Lockdown beschlossen hat, sinken die Zahlen wieder. Die Basler Epidemiologin Emma Hodcroft sagt: Einerseits habe am Anfang der Pandemie niemand genau gewusst, welche Massnahmen am besten wirken würden. Andererseits habe man aber gewusst, dass sich die Pandemie exponentiell ausbreite und mit jedem Tag schwieriger einzudämmen sein würde. «In solchen Fällen ist es besser, schnell zu agieren und später allenfalls zurückzukrebsen.»

  • Wo man den Sonderfall versucht: Schweden hat vergleichsweise wenig befohlen. Das Land bezahlt dafür mit bedeutend mehr Todesfällen als Nachbarstaaten mit vergleichbaren Bevölkerungsdichten.

  • Wo die Kurve steigt und steigt: In Russland, Indien, Mexiko und Brasilien will die Kurve partout nicht abflachen. Epidemiologin Hodcroft sagt: «Auch hier sieht man: Je länger ein Staat mit Massnahmen wartet, desto schwieriger wird es, die Pandemie wieder einzudämmen.»

  • Wo die Kurve ein zweites Mal steigt: In Südkorea, Taiwan, Singapur und Japan nehmen die Todeszahlen pro Tag wieder zu. Die zweite Welle in asiatischen Staaten zeigt, wie schwer das Virus unter Kontrolle zu bringen ist.

Ausserdem empfehlen wir:

Frage aus der Community: Kann meine Partnerin aus Schweden im Juni in die Schweiz einreisen?

Um das ein bisschen allgemeiner zu fassen: Wann werden die Grenzen in Europa wieder öffnen? So viel vorweg: Für Ihre Freundin aus Schweden sieht es im Juni leider eher schlecht aus.

Momentan gilt bis auf weiteres: Wer keine Grenzgänger-Bescheinigung hat oder einen dringenden Grund angeben kann, darf die Schweizer Grenze nicht passieren.

Mit den Lockdown-Lockerungen, wie sie viele Staaten inzwischen getroffen haben, werden die Forderungen nach Grenzöffnungen immer lauter. Besonders Österreich pocht auf eine schnelle Lösung. Eine Sitzung der Schengen-Innenminister zur Grenzfrage endete vergangene Woche ohne Entscheid. Die EU-Kommission ist sich jedoch einig: Die Grenzöffnungen müssen koordiniert vonstattengehen, Einzellösungen der Staaten sollen verhindert werden.

Eine Idee ist, bilaterale Öffnungen zwischen jenen Staaten zu erlauben, deren Fallzahlen kontinuierlich sinken. Käme es zu einer solchen Lösung, zeigte sich mit Schweden ein besonderes Problem: Sie lesen es in der bereits erwähnten Analyse von Marie-José Kolly.

Zum Schluss eine Geschichte aus Grossbritannien: Wie ein alter Corona-Patient entschied, zu Hause zu sterben – und dank seinem Sohn überlebte

«Wenn ich sterben muss, will ich hier sterben», sagte der 81-jährige Suryakant «Suri» Nathwani zu seinem dreissig Jahre jüngeren Sohn Raj. «Ich will nicht zurück in das Spital.»

Die Familie lebt in der Agglomeration von London. Als Suri positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurde und sich sein Zustand zunehmend verschlechterte, entschied sich Raj, seinen Vater selber zu pflegen. Mit einem Thermometer, einem Pulsoximeter und einem Blutdruckmessgerät überwachte Raj den Gesundheitszustand seines Vaters, indem er die Messdaten in eine Excel-Tabelle eintrug. Ein befreundeter Arzt zeigte ihm, wie er die Zahlen analysieren musste, und konnte ihn aus der Ferne beraten. Mit einem Sauerstoffgerät unterstützte und regulierte Raj die Luftzufuhr. Suri konnte sich langsam wieder erholen und wurde gesund. Gegenüber dem Fernsehsender CNN sagte Raj, er habe gewusst, dass es seinem Vater wieder besser gehe, als der wieder angefangen habe rumzunörgeln: «Er meinte, ich hätte seinen Tee schlecht gebraut – und verlangte nach einer Pizza und Chips.»

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Elia Blülle, Andrea Arežina, Oliver Fuchs und Ronja Beck

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Im US-Bundesstaat Florida haben vergangene Woche die Strände wieder geöffnet. Die Menschen gingen schwimmen, joggen und bräunten sich in der Sonne. Doch das passt nicht allen. Mit einer ungewöhnlichen Aktion protestierte ein Rechtsanwalt gegen die frühzeitigen Lockerungen: In eine schwarze Kutte gehüllt und mit einer Sense über der Schulter schlenderte er den Strand entlang, erschreckte die Strandgänger und gab einem Lokalfernsehen ein Interview.

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