Covid-19-Uhr-Newsletter

Coronakratie

01.05.2020

Teilen

Liebe Leserinnen und Leser

Bundesrat Alain Berset kriegt die Reform der Altersvorsorge nicht gebacken? Kanzlerin Angela Merkel hat ihren Rücktritt verpasst und lähmt die deutsche Politik? Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die Unterstützung seiner dauerstreikenden Franzosen verloren?

Alles vergessen – Corona sei Dank.

Jede Krise ist auch eine Chance: Für niemanden gilt diese Binsenweisheit mehr als für Politiker. Die Pandemie hat alle anderen Nachrichten aus der medialen Öffentlichkeit verdrängt. Und die regierenden Politikerinnen dürfen sich über sprunghaft gestiegene Zustimmungsraten freuen.

Was müssen Amtsinhaber in der Krise tun, um in der Gunst der Bürgerinnen aufzusteigen? Können sie ihre Wiederwahlchancen nachhaltig verbessern? Und was heisst das alles für die kommenden US-Präsidentschaftswahlen im November? Diese Fragen haben wir Louis Perron gestellt. Der Schweizer Politikwissenschaftler hat in den USA gelebt und geforscht und ist als Politberater bei Wahl- und Abstimmungskämpfen international im Einsatz.

Seine Antwort: «In der Praxis ist Krisenmanagement sehr herausfordernd, weil Journalistinnen und Bürger in Ausnahmesituationen jeden Fehler registrieren. In der Theorie aber ist das Drehbuch denkbar einfach: Ein Präsident, Premierminister oder für die Krisenbewältigung zuständiger Bundesrat muss schnell handeln; er muss stets topinformiert wirken und unkompliziert finanzielle Hilfe sprechen; er muss seine Entscheidungen auf gesicherte Fakten und die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse stützen – und er muss den richtigen Ton finden, damit er als Landesvater wahrgenommen wird, der losgelöst von Parteiinteressen das Beste für die gesamte Bevölkerung anstrebt.

Gelingt das, können selbst angeschlagene Politiker ihr Image in kürzester Zeit aufpolieren: Rudy Giuliani, der bei den New Yorkern bis dahin umstrittene Bürgermeister, wurde nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 für sein anpackendes und empathisches Krisenmanagement gefeiert; Gerhard Schröder schaffte im Herbst 2002 wider Erwarten die Wiederwahl als Bundeskanzler, nachdem er sich in den Wochen zuvor beim Elbhochwasser geschickt als Helfer in der Not inszeniert hatte; und Barack Obama besiegte seinen Herausforderer Mitt Romney 2012 wohl nur deshalb so klar, weil er bei der Bewältigung der Verwüstungen durch den Hurrikan «Sandy» wenige Tage zuvor einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen hatte.

In aller Regel hängt der Ausgang von Wahlen, bei denen der Amtsinhaber antritt, vor allem davon ab, wie die Bevölkerung mit ihm zufrieden ist. Es ist dann fast nebensächlich, wer der Herausforderer ist. Das gilt auch in diesem Jahr, in dem die Corona-Krise alle anderen Politikfelder von der Agenda verdrängt hat. Überall, wo im Herbst gewählt wird – in den USA genauso wie in Rumänien, Serbien oder Wien –, lautet die alles entscheidende Frage: Glauben die Wählerinnen und Wähler, dass der Amtsinhaber angesichts der Umstände den bestmöglichen Job gemacht hat? Wahlen im Jahr 2020 werden auch zu einer Bewertung des Krisenmanagements.

Für US-Präsident Donald Trump ist das eine schlechte Nachricht. Seit Beginn der Pandemie fehlt es ihm an einer kohärenten Strategie. Erst spielte er die Gefahr wochenlang herunter und behauptete noch Mitte Februar, das Virus werde «wie ein Wunder» einfach wieder verschwinden. Dann schaltete er erst Mitte März – viel zu spät – plötzlich doch noch in den Krisenmodus. Glaubwürdig ist das nicht. Im Gegenteil.

Auf den ersten Blick mag erstaunen, dass Trumps Zustimmungsraten im März und im April trotz miserablem Krisenmanagement nicht markant gesunken sind. Doch darf er sich wirklich darüber freuen? Nein!

Hätte Trump ein besseres Krisenmanagement hingelegt, wäre seine Beliebtheit nämlich in die Höhe geschnellt. Denn wann immer Gefahr von aussen droht, scharen sich Bevölkerungen eigentlich hinter ihren Präsidenten – in den USA gilt das noch mehr als anderswo.

Bis Ende 2019 waren Trumps Wiederwahlchancen gar nicht so schlecht: Die ständigen Skandale schienen ihm erstaunlich wenig zu schaden – und die Wirtschaft brummte. Nun ist alles anders. Wegen Corona rutschen die USA in eine Rezession, womit der Präsident sein wichtigstes Argument verliert.

Dennoch ist bei Prognosen Vorsicht geboten: Trump wurde immer wieder unterschätzt.»

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählten die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen 29’705 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 119 Fälle mehr. Bis Anfang April kamen täglich neue Fälle im vierstelligen Bereich dazu.

Corona-App sammelt keine persönlichen Daten: Am heutigen Point de Presse des Bundes hat der Epidemiologe Marcel Salathé die Funktionsweise der Contact-Tracing-App vorgestellt. Die App des Bundes wird von der ETH entwickelt und soll am 11. Mai fertiggestellt sein. Salathé hat heute bestätigt, dass die App keine persönlichen Daten und keine Standortdaten sammeln wird. Zudem werde die Datenerfassung dezentral erfolgen. Marcel Salathé leitet die vom Bundesrat eingesetzte Expertengruppe «Digital epidemiology».

Trump wiederholt Labor-Vorwurf: US-Präsident Donald Trump hat laut eigenen Angaben Hinweise darauf, dass die Corona-Pandemie einem chinesischen Labor entsprungen sei. Damit widerspricht er den eigenen Behörden: US-Aussenminister Mike Pompeo sagte in einem Radiointerview, man wisse nicht, woher das Virus stamme. Geheimdienstdirektor Richard Grenell erklärte gestern Donnerstag, man stimme dem wissenschaftlichen Konsens zu, dass das Corona­virus «nicht menschengemacht oder genetisch verändert» sei.

Was diese Woche neben Corona sonst noch wichtig war: Am Montag hat sich der selbst ernannte Generalfeldmarschall Khalifa Haftar zum Machthaber über Libyen ausgerufen. Dabei hat er auch verkündet, das Uno-Abkommen von 2015 sei «eine Sache der Vergangenheit». Im Land herrscht ein unerbittlicher Bürgerkrieg. Haftar bekämpft die von der Uno anerkannte Einheitsregierung. Russland und die USA versuchen zu schlichten, doch Haftar hat in seiner Ansprache am Montag keine Zweifel darüber gelassen, dass er keine Verhandlungslösung mit der Regierung in Tripolis anstrebt.

Weitere wichtige Nachrichten der auslaufenden Woche finden Sie im Briefing aus der Republik-Redaktion.

Die besten Kochtipps für Nichtköche

Wohl in keinem Abschnitt der jüngeren Schweizer Geschichte stiess das Kochen auf so hohes Interesse wie seit Anbeginn des Lockdown. Jede Redaktion, die etwas auf sich hält, veröffentlichte spätestens nach zwei Wochen dieser aussergewöhnlichen Lage einen flammenden Essay über die hehre Küchenarbeit. Doch was, wenn Sie zur geschmähten Gattung der Nichtköche gehören? Wir haben für Sie ein paar vom Youtube-Algorithmus inspirierte Food-Tipps zusammengestellt:

Ausserdem. Eine Veranstaltungsempfehlung.

  • Auf der Website des Zürcher Opernhauses kann man ab heute bis zum 3. Mai per Stream das Verdi-Stück «Nabucco» schauen. (Republik-Journalist Michael Rüegg hat 2019 die Proben begleitet und in der Serie «Operation Nabucco» unter anderem darüber geschrieben, wie sich 42 Chormitglieder innert 4 Minuten umziehen.)

Frage aus der Community: Warum heisst es immer wieder, dass die zweite Welle schlimmer sein wird als die erste Welle?

Eine zweite Welle bricht aus, wenn der Reproduktionsfaktor wieder über 1 steigt – wenn also jede infizierte Person mehr als eine andere ansteckt. Das hätte einen unmittelbaren Anstieg der Infektionszahlen zur Folge und würde unter Umständen neue Lockdown-Massnahmen erfordern, um einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. In seinem Podcast hat der deutsche Virologe Christian Drosten folgende zwei Aspekte aufgeführt, wieso eine zweite Welle schlimmer ausfallen könnte als die erste:

  • Geografische Verteilung: Als die Pandemie ausbrach, haben sich Corona-Hotspots gebildet, die viel stärker betroffen waren als andere Gebiete. Durch Einschränkungen konnte die geografische Verbreitung verlangsamt werden. Würden die Infektionen in ein paar Wochen wieder ansteigen, wäre das laut Drosten anders. Wenn der Lockdown aufgehoben wird, könnten unerkannte Infizierte das Virus unter dem Radar unbemerkt weiterverbreiten – verstreut über alle Gebiete. Es droht eine wuchtige Infektionswelle. Für die Spitäler ein Horrorszenario.

  • Neue Ansteckungskette: Anfänglich haben vor allem junge Menschen das Virus verbreitet. Mit Lockdown-Massnahmen konnte verhindert werden, dass sich alte Menschen im gleichen Masse gegenseitig anstecken. Sobald die Massnahmen gelockert werden, könnte sich das ändern, wodurch mehr ältere Menschen infiziert würden. Und da sie zur Risikogruppe gehören und bei einer Erkrankung eher auf Intensivpflege angewiesen sind, hätte das eine stärkere Belastung der Spitäler zur Folge.

Ausserdem:

  • Grippewelle: Die US-Seuchenschutzbehörde befürchtet, dass eine zweite Welle mit der Grippesaison im Herbst oder Winter zusammenfallen könnte. Neben den Corona-Patienten müssten sich die Spitäler in einem solchen Fall zusätzlich um Grippekranke kümmern. Es droht eine Überlastung des Gesundheitssystems.

Zum Schluss ein Blick nach Südafrika, wo gerade eines der weltweit härtesten Lockdown-Regimes aufgehoben wird

Die südafrikanische Regierung hat so schnell und restriktiv auf den Pandemieausbruch reagiert wie kein anderes Land: Nachdem im März der erste Corona-Fall bekannt geworden war, verhängten sie eine Ausgangssperre, verboten auch Jogging und Hundespaziergänge, schlossen Parks und untersagten Alkohol- und Zigarettenverkauf. Um die Massnahmen durchzusetzen, rollten die militärischen Streitkräfte in der Hauptstadt Kapstadt sogar mit Panzern ein. Die Behörden gingen teilweise mit totalitärer Härte vor. Seit die Regierung den Lockdown Ende März verhängt hatte, häuften sich die Meldungen von exzessiver Polizeigewalt.

Die strengen Restriktionen wurden unter anderem damit begründet, dass rund 13 Prozent der Bevölkerung HIV-positiv sind; über 8 Millionen Menschen haben damit wegen der Immunkrankheit stark geschwächte Abwehrkräfte. Gemäss offiziellen Angaben verzeichnete Südafrika trotzdem nur wenige Todesfälle und knapp 5350 Ansteckungen. Aufgrund der tiefen Zahlen hat nun die südafrikanische Regierung den nationalen Lockdown wieder gelockert. Ab heute Freitag kehren Mineure in die wirtschaftlich bedeutenden Bergwerke zurück, und Tabakprodukte dürfen wieder verkauft werden. Unter strikten Auflagen ist auch Sport in der Öffentlichkeit erlaubt.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Ein schönes Wochenende und bis Montag

Elia Blülle, Dennis Bühler und Patrick Venetz

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Eine Ergänzung zu den Kochtipps. Wie reicht man sich in Pandemiezeiten Salz und Pfeffer, ohne die Social-Distancing-Regeln zu brechen? Joseph Herscher hat sich dazu Gedanken gemacht und eine Maschine gebaut, die das Problem lösen soll. Aber Achtung: sehr hohe Materialkosten.

PPPPS: Hat rein gar nichts mit der Pandemie zu tun. Aber wussten Sie, wie man einen Baby-Koala wiegt? Wir auch nicht. Schönes Wochenende!

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!