Überbordendes Polizeirecht – höchstes Gericht stutzt Berner Gesetz zurecht
Wenn kantonale Polizeigesetze vom Bundesgericht überprüft werden, bleibt fast immer etwas hängen. Beim neuen Berner Erlass hebt das höchste Gericht gleich vier Regelungen in drei Bereichen auf – unter anderem zu weitreichende Überwachungsbefugnisse.
Von Brigitte Hürlimann, 30.04.2020
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2009 war es das neue Polizeigesetz des Kantons Zürich, 2017 jenes aus Luzern – und dieses Jahr folgt die Totalrevision aus dem Kanton Bern. Die Vorgeschichte ist in allen drei Fällen gleich: Der kantonale Gesetzgeber überarbeitet sein Polizeigesetz, gegen die Neufassung wird das Referendum erhoben, es kommt zu einer Abstimmung, die stets mit einer überdeutlichen Annahme des neuen Gesetzes endet.
Das ist nicht überraschend, denn das Schweizervolk hat grundsätzlich Vertrauen in die Polizei und steht den Anliegen nach Law and Order recht wohlwollend gegenüber. Das zeigt sich auch jetzt, während der Pandemie, im Notrechtsregime, in dem so manche zum Telefon greifen, um der Polizei Ansammlungen von mehr als fünf Leuten zu melden. Oder ähnliche Ungeheuerlichkeiten.
Es sind in der Regel linke Kreise, Menschenrechts- und Anwaltsorganisationen oder Vertreter von Minderheiten, die besonders genau hinschauen, wenn die Polizei vom Gesetzgeber neue Instrumentarien in die Hand gedrückt bekommt. Die Argumente der Skeptischen gehen im politischen Diskurs allerdings unter, denn das Bedürfnis nach Sicherheit übertüncht allfällige Bedenken. In den Fällen von Zürich, Luzern und Bern haben Kritikerinnen nach den Volksabstimmungen das Bundesgericht angerufen. Sie legten dem höchsten Gericht einzelne Artikel vor und machten eine Verletzung des übergeordneten Rechts geltend: der Bundesverfassung, aber auch des Völkerrechts. Abstrakte Normenkontrolle nennt man dieses Prozedere.
Die Korrekturen in Zürich und Luzern
Was das Polizeigesetz des Kantons Zürich betrifft, beschloss das Bundesgericht 2009 die Aufhebung jener Paragrafen, welche die Überwachung allgemein zugänglicher Orte mit technischen Mitteln sowie den ungenügenden Rechtsschutz für Personen in Polizeigewahrsam regelten. Diese Bestimmungen mussten überarbeitet werden.
2017 hob das Bundesgericht im Polizeigesetz des Kantons Luzern die Regelung auf, die eine Kostenübertragung an Demonstrationsteilnehmer betraf. Im Falle von Gewaltausschreitungen hätten die Kosten des Polizeieinsatzes sowohl auf die Veranstalter als auch auf «an der Gewaltausübung beteiligte Personen» überwälzt werden können. Das war dem Bundesgericht zu schematisch, weil Leute zur Kasse hätten gebeten werden können, die nur an der Kundgebung, nicht aber an den Ausschreitungen teilnahmen.
Eine solche Kostenübertragung war am Mittwoch auch Thema an der Urteilsberatung der Ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung am Bundesgericht. Gegen zwanzig Organisationen und Einzelpersonen hatten gegen diverse Bestimmungen im totalrevidierten Kantonalberner Polizeigesetz Beschwerde erhoben. Der Erlass war im März 2018 vom Grossen Rat gutgeheissen und im Februar 2019 vom Stimmvolk in der Referendumsabstimmung angenommen worden – mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 76 Prozent.
Das Berner Verdikt
Die Beschwerdeführerinnen verlangten vom Bundesgericht die Aufhebung jener Bestimmungen, die folgende vier Themenbereiche regeln:
Die bereits erwähnte Kostenübertragung bei Kundgebungen, an denen es zu Gewalttätigkeiten kommt.
Die spezifisch für Fahrende konzipierten Vorschriften.
Die Observation mit technischen Überwachungsgeräten.
Die automatische Strafandrohung bei Wegweisungen.
Um es gleich vorwegzunehmen: Sie obsiegen mit ihren Bedenken, was die Fahrenden, die Observation und die automatische Strafandrohung betrifft. Doch sie finden vor dem höchsten Gericht kein Gehör in Bezug auf die Kostenübertragung bei gewalttätigen Kundgebungen. Da stünde den Beschwerdeführern noch der Weg an den Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg offen.
Die Beschwerdeführer befürchten, dass die Angst vor den Kosten zahlreiche Leute daran hindern könnte, an einer Kundgebung teilzunehmen – und damit ihre in der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Rechte wahrzunehmen. Die Rede ist von einem unzulässigen Abschreckungseffekt, dem chilling effect: Wegen befürchteter Nachteile werden die Grundrechte nicht mehr ausgeübt – obwohl man über diese Rechte verfügen würde.
Das fünfköpfige Bundesgerichtsgremium erachtet die Berner Lösung jedoch einhellig als akzeptabel. Im Gegensatz zur aufgehobenen Luzerner Norm sei sie differenzierter und könne verfassungskonform angewendet und ausgelegt werden, so Instruktionsrichter Lorenz Kneubühler in seinem einleitenden Referat. Die Kundgebungsteilnehmer hätten es in der Hand, eine Kostenpflicht zu vermeiden, indem sie auf die polizeiliche Aufforderung hin die Veranstaltung verliessen: «Sie müssen die Aufforderung aber gehört und verstanden haben, das ist eine Voraussetzung.» Auch an den festgelegten Kosten mag das Bundesgericht nicht rütteln: höchstens 10’000 Franken für Veranstalter oder beteiligte Personen, höchstens 30’000 Franken «in besonders schweren Fällen», wie es im Gesetzestext heisst.
Keine «Lex Fahrende»
Viel mehr zu diskutieren gaben an der Urteilsberatung die neuen Sonderregelungen für Fahrende. Der Kantonalberner Gesetzgeber hat sich für eine hinterlistige Regelung entschieden. Er nennt im betreffenden Artikel ein Wegweisungsrecht der Polizei, wenn «auf einem privaten Grundstück oder auf einem Grundstück eines Gemeinwesens ohne Erlaubnis des Eigentümers oder des Besitzers campiert wird».
Dass damit einzig und allein die Fahrenden gemeint sind, erschliesst sich erst, weil im darauffolgenden Artikel das Prozedere der Wegweisung geschildert wird. Das übrigens knallhart ist. Die Betroffenen müssen den Platz innert 24 Stunden verlassen, sonst darf die Kantonspolizei eine Räumung durchführen; von Rechtsweg und Beschwerdemöglichkeit ist keine Rede. Dafür taucht im Zusammenhang mit der Zwangsräumung plötzlich der Begriff des Transitplatzes auf – ein Ort, der vor allem von ausländischen Fahrenden benutzt wird.
Bundesrichter Kneubühler stellt fest, die Entstehungsgeschichte der Norm und die Diskussionen im Parlament zeigten eindeutig, dass entgegen dem Wortlaut nur die Fahrenden gemeint seien: keine wilden Campierer oder Aussteiger. Die Regelungen stellten für die Fahrenden einen schweren Eingriff in ihre Grundrechte dar; tangiert ist vor allem das Privat- und Familienleben. Und sie stünden im Widerspruch zum Engagement der Schweiz, sich für die Minderheit der Fahrenden einzusetzen. Dieser Auffassung schloss sich eine Mehrheit des Gremiums an. Mit drei zu zwei Stimmen entschied das Bundesgericht, die Berner «Lex Fahrende» sei aufzuheben. Sie sei sowohl für die einheimischen als auch für die ausländischen Fahrenden unhaltbar.
Bundesrichter Thomas Müller, der nur die harten Vollzugsregelungen aufheben wollte, nicht aber das sogenannte «illegale Campieren», hatte seine Bundesrichterkollegen vergeblich um Verständnis für den Kanton Bern gebeten. Dieser habe halt schlechte Erfahrungen mit ausländischen Fahrenden gemacht und sich deshalb für die Spezialregelung im Polizeigesetz entschieden: «Es ist eine Reaktion auf einzelne Zwischenfälle. Die einheimischen Fahrenden sind nicht gemeint.»
Observationsbefugnisse gehen zu weit
In grosser Einhelligkeit wiederum versenkte die Erste öffentlich-rechtliche Abteilung die ausufernden Observationsgelüste des Kantons Bern. Dieser wollte seiner Polizei mehr Befugnisse einräumen, als in der eidgenössischen Strafprozessordnung und im Nachrichtendienstgesetz festgehalten sind.
Jeder Berner Polizist hätte eine Überwachung (auch mit technischen Geräten) durchführen dürfen: Ernsthafte Anzeichen für ein Verbrechen oder ein Vergehen hätten genügt, und eine gerichtliche Genehmigung war nicht vorgesehen, weder vor noch nach der Überwachung. Wäre diese Regelung in Kraft getreten, dann hätten die Staatsanwälte mit deutlich mehr Restriktionen gearbeitet als ihre Kollegen bei der Polizei – und dies, obwohl polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungen Hand in Hand gehen.
Eine solch weitgehende Observationsregelung, so Bundesrichter Kneubühler, sei mit einer freiheitlich-demokratischen Ordnung nicht zu vereinbaren. Bundesrichter Stephan Haag ergänzte, die Strafprozessordnung und das Nachrichtendienstgesetz hätten einen Standard geschaffen, der von den Kantonen eingehalten werden müsse – auch wenn sie über die Polizeihoheit verfügten.
Unnötige Strafandrohung
Bundesgerichtlich aufgehoben wird zu guter Letzt noch eine Idee, die ebenfalls die Wegweisungen betrifft. Sie klingt technisch und abstrakt, könnte aber böse Folgen haben.
Neu hätten die Berner Polizisten jedes Mal, wenn sie eine Wegweisung oder eine Fernhaltung verfügen, auf die Drohung von Artikel 292 des Strafgesetzbuches hinweisen müssen – dass also eine Busse von bis zu 10’000 Franken droht, wenn man sich den behördlichen Anweisungen widersetzt. Kommt Artikel 292 ins Spiel, stehen die Betroffenen mit einem Fuss in einem Strafverfahren, auch in leichten Fällen. Dieser Automatismus geht dem Bundesgericht zu weit, weshalb es die entsprechende Norm aufhebt.
Fazit für die über zwanzig Beschwerdeführerinnen: Bei drei von vier kritisierten Themen vor Bundesgericht gewonnen, ein wichtiges Anliegen verloren.
Fazit für den Kanton Bern: Die Trickserei mit der «Lex Fahrende» hat nicht funktioniert, und die Observation muss auf eidgenössisches Niveau angehoben werden. Freuen wird man sich in den Berner Amtsstuben über die neue Möglichkeit der Kostenübertragung bei gewalttätigen Kundgebungen. Es sei denn, es käme noch ein Machtwort aus Strassburg.
Urteil 1C_181/2019 vom 29. April 2020