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Schnitt für Schnitt

30.04.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Stirbt ein Corona-positiver Mensch, schneidet ihn Professor Alexandar Tzankov vom Universitätsspital Basel acht Stunden später auf. Als einen der «mutigen Pathologen» hatte ihn die «Süddeutsche Zeitung» beschrieben. Mutig seien er und seine Kollegen deshalb, schrieb die Zeitung, weil das Robert-Koch-Institut in Berlin eigentlich von Obduktionen an Corona-Toten abgeraten hatte. Zu gross sei das Risiko einer Ansteckung durch Aerosole, also Luftpartikel, die sich beim Öffnen der Leiche ausbreiten.

Diese Empfehlung ist auf Druck der Deutschen Gesellschaft für Pathologie zwar mittlerweile relativiert worden. Doch bis zu diesem Zeitpunkt hatte Tzankov als Abteilungsleiter der Histopathologie und Autopsie in einem Kooperationsprojekt der beiden Basel schon Leiche um Leiche obduziert.

Warum er trotz anderslautender Ratschläge obduziert habe? Weil die Schweiz «doch ein liberaler Staat sei», sagt Tzankov trocken. Er habe selber für sich das Risiko abgeschätzt. Zudem habe er die Obduziertechnik angepasst und sich meist allein ans Werk gemacht: «Ohne Angst, aber mit Respekt.»

Mit Leichen hat Tzankov zu normalen Zeiten seltener zu tun, als man sich das als Laie vorstellt. Eine Leiche öffnen und herausfinden, woran ein Mensch starb, ist nur noch ein kleiner Teil seiner Arbeit. Heutzutage untersuchen Pathologen vor allem Gewebeproben und diagnostizieren, ob ein Tumor gut- oder bösartig ist. Corona hat aber auch das verändert.

21 Leichen hatten der 46-jährige Österreicher und seine Kollegen in den letzten Wochen auf dem Tisch. «Das ist bisher die herausforderndste Zeit meines Berufslebens», sagt er. Von einer «sehr dichten» FFP3-Maske geschützt, in Spezialstiefeln und Umhängen, ausgerüstet mit Skalpell und Mikroskop, geht er einer der drängendsten medizinischen Fragen nach:

Sterben die Patienten an oder mit einer Corona-Infektion?

Bevor Tzankov sich im Gespräch mit der Republik in medizinische Details vertieft – in denen ein Laie auch ziemlich schnell verloren ist –, hat er eine Herzensbotschaft: «Wir dürfen nicht mit dem Finger auf die Menschen zeigen, die einer Risikogruppe angehören. Sie können nichts dafür.» Und er wählt ein Bild: «Wenn ich im Endstadium Krebs habe und ein Autoraser mich totfährt, schmälert das nicht die Schuld des Rasers.»

Der Raser ist aktuell das Coronavirus.

Alle Menschen, die Alexandar Tzankov bisher auf dem Seziertisch hatte, waren vorbelastet: Bluthochdruck, Übergewicht, Gefässverengungen. «Ohne Corona hätten diese Menschen teilweise aber noch einiges an Lebenszeit vor sich gehabt», ist der Fachmann überzeugt.

Woran sind sie denn verstorben? Überraschend: Die wenigsten hatten eine Lungenentzündung. Vielmehr hat Tzankov unter dem Mikroskop eine schwere Störung der Mikrozirkulation in der Lunge festgestellt. Der Fluss der roten Blutkörperchen in die Lunge funktioniert nicht mehr; die Sauerstoffversorgung kollabiert. Tzankovs Vermutung: Gewissen Patienten könne man so viel Sauerstoff geben, «wie man will». Sie sterben trotzdem.

Alexandar Tzankov und seine Berufskollegen sezieren die Leichen in der Hoffnung, dass ihre Erkenntnisse zu Behandlungserfolgen auf den Intensivstationen führen – und sie am Ende weniger Tote vor sich haben. Bis Mitte Jahr will die Schweizer Fachgesellschaft der Pathologen ein Register aller Corona-Obduktionen aufgebaut haben, um die Ergebnisse kollektiv zu sammeln und analysieren zu können. Man sei da übrigens einiges schneller als die deutschen Kollegen, sagt Tzankov.

«Ich danke allen Angehörigen, die uns den Körper ihrer Liebsten zur Obduktion freigaben, obwohl sie trauern.» Das sei alles andere als selbstverständlich. «Menschen verschiedenster Religionsgemeinschaften haben uns ihr Einverständnis gegeben, ihre Angehörigen zu obduzieren.»

Tzankov legt sich nach einer mehrstündigen Obduktion – nur er und die Leiche – auch mal auf den Boden für ein Schläfchen. «Meine Kinder merken, dass ich ziemlich angespannt und müde bin. Aber ich und mein Team wollen unseren Beitrag leisten», sagt er. «Die Menschheit hat beschlossen, diesem Virus die Stirn zu bieten. Und wir Pathologen helfen Schnitt für Schnitt mit.»

Dann hält Alexandar Tzankov kurz inne – und sagt: «Das Virus schädigt nicht nur unsere Endothelien, welche die Blutgefässe auskleiden – es hat sich in der Gesellschaft eingenistet. Und es darf nun nicht auch noch unsere Menschlichkeit befallen.»

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit zählen die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein heute Morgen 29’586 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Im Vergleich zu gestern sind das 179 Fälle mehr. Bis Anfang April kamen täglich neue Fälle im vierstelligen Bereich dazu.

  • 400 Millionen für internationale Hilfe: Der Bundesrat will die weltweiten Bemühungen im Kampf gegen die Corona-Pandemie unterstützen. Daher soll dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz ein zinsloses Darlehen in Höhe von 200 Millionen Franken gewährt werden. 25 Millionen sollen zudem in den Internationalen Währungsfonds fliessen. Über weitere Beiträge an internationale Organisationen in Höhe von 175 Millionen will die Landesregierung im Mai entscheiden. Alle Unterstützungsgelder müssen in der Sommersession noch vom Parlament abgesegnet werden.

  • Coronavirus im Abwasser: ETH-Forschern ist es gelungen, Sars-CoV-2 in Abwasserproben aus Zürich, Lugano und Lausanne nachzuweisen. Gemäss den Wissenschaftlern gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass sich das Virus über das Trink- oder das Abwasser verbreitet. Anhand der Konzentration des Virus im Abwasser wollen die Forscher nun die reale Infektionskurve rekonstruieren und längerfristig ein Frühwarnsystem aufbauen, um einen allfälligen Anstieg der Neuansteckungen schneller zu erkennen. Über die Kläranlagen können sie gemäss eigenen Angaben das Abwasser von rund 2,5 Millionen Leuten überwachen.

  • Keine Maskenpflicht in Zügen: SBB-Chef Vincent Ducrot hat heute das Schutzkonzept für den öffentlichen Verkehr vorgestellt. Dieses soll ab dem 11. Mai für die ganze Schweiz gelten. Die SBB empfehlen, im ÖV Masken zu tragen, verzichten aber auf eine Maskenpflicht; Ducrot appelliert an die Selbstverantwortung der Kunden. Ebenfalls wollen die SBB ab dem 11. Mai etappenweise wieder zum Normalfahrplan zurückkehren. Informationen dazu sollen ab morgen Freitag im Online-Fahrplan aufgeschaltet werden.

  • Arbeitslosigkeit steigt und steigt: Gemäss dem US-Arbeitsministerium haben in der vergangenen Woche weitere 3,9 Millionen Menschen neu Arbeitslosengelder beantragt. Damit haben in den Vereinigten Staaten binnen eineinhalb Monaten über 30 Millionen Menschen ihren Job verloren. Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass diese Zahl noch deutlich höher liegen dürfte.

Die besten Tipps und interessantesten Beiträge

Heute möchten wir Ihnen drei Leseempfehlungen für das anstehende Wochenende mitgeben:

  • Bisher haben wir in diesem Newsletter alle Corona-Texte des «Atlantic»-Journalisten Ed Yong empfohlen. Aus Gründen: Sie sind sehr gut. Auch seinen neusten Beitrag mit dem Titel «Wieso das Coronavirus so verwirrend ist» sollten Sie unbedingt lesen – es ist eine Anleitung, wie Sie sich den komplexen Fragen, die sich rund um diese Pandemie stellen, am besten annähern können (auf Englisch).

  • Die «Wochenzeitung» hat recherchiert, wie das Schweizer Parlament am 15. März die laufende Frühjahrssession abgebrochen und sich so selber aus dem Spiel genommen hat – und wieso der Abbruch demokratiepolitisch äusserst fragwürdig war.

  • Die Medien spielen im Moment eine wichtige Rolle. Sie informieren, erklären, recherchieren – und kommentieren wegweisende politische Entscheidungen. So auch viele Schweizer Journalisten. In den letzten Wochen gingen Beiträge viral, in denen ein sofortiges Lockdown-Ende gefordert oder die Einschränkung als unverhältnismässig deklariert wurde. Die «Medienwoche» hat einige dieser pointierten Kommentare auf ihre Plausibilität und Argumentationslogik untersucht. Ihr Fazit: «Je lauter die Forderungen und je schriller die Rhetorik, desto dürftiger die argumentative Unterfütterung

Ausserdem. Ein Doku-Tipp für den 1. Mai:

  • Haben Sie morgen Zeit und noch nichts vor? Der Fernsehsender Arte hat eine vierteilige Dokumentationsreihe zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Europa produziert. Gut erzählt und lehrreich.

Frage aus der Community: Was gibt es Neues zur Kinderfrage?

Schülerinnen und ihre Lehrer kehren am 11. Mai in die Klassenzimmer zurück. Grosseltern sollen ihre Kinder wieder kurz umarmen dürfen. Und Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit hat mehrmals gesagt, dass Kinder bei der Verbreitung des Virus keine grosse Rolle spielen. Sie erkrankten nicht nur seltener an Covid-19, sie seien auch nicht gross ansteckend. Doch nach wie vor fragen uns Grosseltern und Lehrkräfte: Wie sicher ist der Kontakt zu Grosskindern, zu Schülern?

Folgende Faktoren spielen hierbei eine Rolle:

  1. Wie häufig sich Kinder infizieren.

  2. Wie infektiös sie sind.

  3. Und wie krank sie werden.

Restlos geklärt sind diese Fragen nach wie vor nicht. Doch gibt es neue Erkenntnisse.

  1. Ein Artikel, auf dessen vorläufige Resultate wir in diesem Newsletter schon verwiesen haben, ist nun begutachtet worden und in der medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet» erschienen. Eines der Hauptresultate: Unter Kindern gibt es nicht weniger Infizierte als unter Erwachsenen. Das Fazit des Autorenteams: «Das Infektionsrisiko ist bei Kindern ähnlich wie bei der Gesamtbevölkerung – es ist aber bei Kindern weniger wahrscheinlich, dass sie schwere Symptome entwickeln.» Man solle also die Verbreitung durch Kinder mitberücksichtigen, wenn man das Virus eindämmen wolle. Auf Anfrage der Republik gab das Bundesamt für Gesundheit an, sich hierbei auf noch nicht publizierte Studien und Expertenaussagen zu stützen. Es ist also noch zu früh für eine gesicherte Antwort aus der Wissenschaft.

  2. Ein neues Experiment aus dem Labor des deutschen Virologen Christian Drosten zeigt, dass sich die Viruslast im Rachen von Kindern nicht signifikant von der im Rachen von Erwachsenen unterscheidet. Die bisher noch nicht wissenschaftlich begutachteten Resultate bestätigen, was andere Wissenschaftler gefunden hatten: Kinder könnten also genauso infektiös sein wie Erwachsene.

  3. Allerdings werden mit dem Virus infizierte Kinder nur selten schwer krank – die meisten haben keine oder nur milde Symptome. Sie niesen und husten also weniger stark und geben so weniger infiziertes Material weiter (dafür haben sie oft engeren Körperkontakt mit ihren Mitmenschen als Erwachsene).

Am Anfang der Epidemie übertrugen vor allem junge Erwachsene das Virus – die Personen, die sich am meisten bewegen. Es waren nicht die Kinder, die das Virus in die Haushalte einschleppten, sagt der deutsche Virologe Christian Drosten im Podcast des Norddeutschen Rundfunks. Aber wenn die Kinder tatsächlich gleich infektiös seien wie Erwachsene, dann könne sich das mit der Wiedereröffnung der Schulen und Kitas durchaus wieder ändern.

Zum Schluss ein Blick nach Ghana, wo Drohnen gerade den Kampf gegen die Pandemie revolutionieren

In den abgelegenen Gebieten Ghanas ist der Transport von Medizinalgütern wie Impfstoffen oder Blutkonserven ein Kraftakt. Mangelhafte Infrastruktur und schlechte Strassen verzögern die Logistik stark. Das kalifornische Start-up Zipline hat deshalb dem ghanaischen Gesundheitsministerium nun Transportdrohnen zur Verfügung gestellt. «Der kontaktlose Transport von Covid-19-Tests wird der Regierung dabei helfen, die Pandemie schneller einzudämmen», sagte der Zipline-CEO Keller Rinaudo der Agentur Reuters. Die US-amerikanische Firma hat bereits zuvor in Ghana, aber auch in Indien und Ruanda eine Drohnenflotte für Medizinalgüter betrieben. Laut eigenen Angaben können die Drohnen über eine Distanz von bis zu 80 Kilometern ein Gewicht von bis zu 1,8 Kilogramm transportieren. Dafür benötigen sie nicht mehr als 30 Minuten.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen.

Elia Blülle, Marie-José Kolly und Cinzia Venafro

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Wir haben noch einen Basteltipp aus China für alle Eltern, deren Kinder bald wieder den Unterricht oder den Kindergarten besuchen müssen. Eine Schule in Hangzhou hat ihre Schüler damit beauftragt, eigene Social-Distancing-Hüte zu designen. Mit Karton, Ballons und Farbe haben sie Kopfbedeckungen gebastelt, die nicht nur an die Abstandsregeln erinnern sollen, sondern auch urkomisch aussehen. Notiz an unsere Chefs: Sobald wir wieder ins Büro dürfen, wollen wir auch solche Hüte!

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