Aus der Redaktion

Wie wir mit Studien und Statistiken zu Corona umgehen

Sonst eher Spezialdisziplin, jetzt gerade Breitensport: Wissenschafts­journalismus. Die Grundsätze der Republik.

Von Ihrem Expeditionsteam, 28.04.2020

Journalismus, der Ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie. Lernen Sie uns jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:

«Diese Woche häuften sich die Meldungen zu einem neuen Krankheits­erreger der Familie Corona­viridae, in den Medien meist nur Corona­virus genannt.» So beginnt das Republik-Nachrichtenbriefing vom 24. Januar 2020.

Es ist die erste Erwähnung in der Republik. Einen Monat später, am 25. Februar, wird der erste Fall in der Schweiz offiziell.

Drei Tage danach erscheint unser erster grosser Beitrag zum Protein­häufchen mit dem holprigen Namen Sars-CoV-2. Ein Erklär­stück, das einige wichtige Grund­sätze auflistet, die wir als Redaktion einhalten:

Was hilft gegen die Unsicherheit, die Sars-CoV-2 mit sich bringt? Ein bisschen mehr Wissen. Ein etwas breiterer Überblick. Pragmatische Antworten auf die wichtigsten Fragen.

[...]

Wir haben noch viele Fragen, die Leute vom Fach ebenso.

Was wir wissen, erzählen wir Ihnen hier – und wir geben es auch zu, wenn wir etwas nicht heraus­gefunden haben; wir zeigen, wo die Grenzen des Wissens von Journalistinnen und Forschenden liegen. Offen und ehrlich.

Aus: «Das Coronavirus geht um. Sollten Sie Angst haben? Und wenn ja: Was dann?», 28.02.2020, mit einem Update vom 04.03.2020.

«Die Wissenschaft» gibt es nicht – wir hören auf Fachexperten

Wir sind keine Epidemiologen, Virologinnen, Ärzte, deshalb lesen wir einschlägige wissenschaftliche Publikationen aus Fach­zeitschriften und sprechen mit Wissenschaft­lerinnen und Wissenschaftlern aus den jeweils relevanten Feldern. Ein Grundsatz ist dabei zentral: Auf Epidemiologen hören wir, wenn es um die Verbreitung des Virus geht, auf Virologinnen, wenn wir etwas über sein Verhalten im menschlichen Körper lernen wollen, auf Ärzte, wenn es um die Behandlung der Infektion geht. Nicht anders­herum. Wir stützen unsere Recherchen auf Spezialistinnen.

Wichtig: Selbstverständlich gibt es wissenschaftliche Debatten – wir haben aufgezeigt, dass diese gerade in ungesehenem Tempo und mit grosser Heftigkeit geführt werden. Aber bei folgendem Grundsatz herrscht international grosse Einigkeit: Sars-CoV-2 ist ein sich pandemisch verbreitendes Virus. Es kann zu sehr schweren Erkrankungen führen. Im Zweifel sollten Massnahmen gewählt werden, die das Risiko von überlasteten Gesundheits­systemen minimieren. Diese grundsätzliche Erkenntnis stellen wir in unserer Bericht­erstattung nicht infrage.

Wir versuchen, Orientierung und Kontext zu geben

Was wir in der Republik vermeiden: Kontroversen um der Kontroverse willen. Trotzdem ist es gerade jetzt zentral, die Arbeit von Regierung und Behörden kritisch und exakt zu begleiten. (Beispiels­weise das Meldewesen im Bundesamt für Gesundheit. Oder die Konzentration der Macht bei der Exekutive.) Aber wir wollen in dieser Zeit nicht grundlos zum Gefühl von Verlorenheit und Über­forderung beitragen. Unser erklärtes Ziel: vernünftige Informationen, damit Sie vernünftige Entscheide fällen können.

Ein gutes Beispiel hierzu ist die Debatte um den Nutzen von Masken und einer Masken­pflicht. Hier ist die Informations­lage wider­sprüchlich. Trotz dieser Unsicherheit haben wir versucht, Ihnen eine konkrete Handlungs­möglichkeit mitzugeben:

Wenn Sie unsicher sind, was Sie […] tun sollen – benutzen Sie am besten den gesunden Menschen­verstand. Das heisst: Befolgen Sie die allgemeinen Verhaltens­regeln – Hände waschen, Abstand halten, den Kontakt zu Risiko­gruppen vermeiden. Und schützen Sie mindestens in Situationen, wo dies partout nicht möglich ist – zum Beispiel in der dicht gedrängten Menge im Tram –, sich und Ihr Umfeld zusätzlich mit einer Hygiene­maske. Notfalls auch mit einer selbst gebastelten.

Aus: «Die Sache mit den Masken», 06.04.2020.

Wir machen Unsicherheit und Nuancen transparent

Die Republik war in der Bericht­erstattung zum Corona­virus besonders vorsichtig, was Berechnungen und Grafiken aufgrund von unsicheren Daten angeht. Auf Visualisierungen haben wir weitgehend verzichtet, die wenigen Grafiken in unseren Artikeln zeigten Unsicherheitsbereiche (statt dass sie visuell eine nicht gegebene Genauigkeit suggeriert hätten) oder waren mit Erläuterungen versehen, die die Aussagekraft der Daten einordneten.

Hier ein Beispiel:

Ein vereinfachtes Modell haben wir bei der Republik gerechnet. Nicht weil wir den Modellen der Wissenschaftler Konkurrenz machen möchten – das könnten wir gar nicht. Sondern:

– Damit wir Schritt für Schritt veranschaulichen können, welche Mechanismen bei der Entwicklung der intuitiv nur schwer fassbaren Zahlen der Angesteckten und Kranken eine Rolle spielen.
– Damit Sie diese Mechanismen interaktiv erleben können. Wie wirkungsvoll müssten etwa Massnahmen wie social distancing sein, damit das Gesundheits­system nicht überlastet wird?

Die Werte, mit denen wir rechnen, sind tendenziell optimistisch – wir wollen keine falsche Alarm­stimmung verbreiten. Und wir haben nicht den Anspruch, Prognosen zu machen.

Für richtige Prognosen sind Wissenschaft­lerinnen zuständig.

Aus: «Reicht der Platz auf den Intensivstationen?», 30.03.2020.

Wie schnell sich Verkürzungen verselbst­ständigen können, zeigt folgendes Beispiel:

Hat der Lockdown in der Schweiz etwas gebracht? Im Dialog der Republik war in den vergangenen Tagen mehrmals zu lesen:

Die Reproduktionsrate [ist] schon vor dem ‹Lockdown› unter 1 [gewesen] gemäss der ETH.

Aus: Dialogbeitrag.

Das würde bedeuten, dass die Ansteckungs­rate bereits vorher stark zurück­ging – und die harten Massnahmen wie die Schliessung aller Bars und Restaurants möglicher­weise gar nicht nötig gewesen wären.

Doch diese Lockdown-Debatte fusst auf einer verzerrten Darstellung der Studie, die sich rasant verbreitet hat, ohne Prüfung der Primärquelle.

Was die ETH tatsächlich geschrieben hat:

«R(t) decreased through time and stabilized below 1 during the lockdown.»

Aus: «Monitoring COVID-19 spread in Switzerland», ETH, 08.04.2020.

Die Professorin, welche die Studie leitet, ordnet das Resultat in einem Artikel des «Tages-Anzeigers» ein, die Passage (siehe unten) ist lesens­wert und wichtig, weil sie unter anderem illustriert, dass man Originalquellen in der Regel en détail anschauen sollte, um keine falschen Schlüsse zu ziehen:

«Das darf nicht überinterpretiert werden», sagt Stadler. Der Trend stimme, doch die ganze Grafik könne in Wahrheit auch um ein paar Tage verschoben sein.

«Es ist aber wohl schon so, dass die Reproduktions­zahl bereits vorher dabei war zu sinken», bestätigt die Wissenschaftlerin. Der Bundesrat hatte schon zuvor grössere Veranstaltungen verboten und zu Social Distancing, Hände­waschen, Selbst­quarantäne bei Symptomen und anderem aufgerufen. Dennoch ist für Stadler klar, dass es ohne die jetzt gültigen harten Massnahmen nicht möglich gewesen wäre, die Reproduktions­raten so stark von rund 3 auf unter 1 zu senken.

Es sei jedoch noch verfrüht, die Vorgaben des Bundes wieder zu lockern, weil dann innert kürzester Zeit das exponentielle Wachstum wieder einsetzen würde. Zuerst müssten die Ansteckungen weiter zurück­gehen, so Stadler. «Wir brauchen jetzt eine Strategie für die Zeit, wenn die Welle abgeflacht ist.» Testen und Contact Tracing mit App könnten dabei erfolgversprechend sein.

Aus: «Ansteckungsraten flachten bereits vor dem Lockdown ab», «Tages-Anzeiger», 10.04.2020.

Verlässlicher Wissenschafts­journalismus ist gerade in dieser Krise von grosser Bedeutung. Das Covid-19-Team der Republik hält sich deshalb an journalistische Grund­sätze, die sich wie folgt zusammen­fassen lassen:

  1. Wir sagen, was wir wissen – und auch, was wir nicht wissen.

  2. Wir befragen ausgewiesene Expertinnen in ihren jeweiligen Fachgebieten.

  3. Wir gehen mit Statistiken vorsichtig um und verzichten auf Grafiken, die Unsicherheits­bereiche nicht ausweisen, oder ordnen die Unsicherheit in Worten ein.

  4. Wir prüfen wissenschaftliche Studien im Original und erwähnen, wenn sie noch nicht peer-reviewed wurden.

  5. Wir führen keine Kontroversen um der Kontroverse willen, um unnötigen Lärm zu vermeiden.

In diesem Sinne: Bleiben Sie kritisch – und bleiben Sie gesund.

Rund 27’000 Menschen machen die Republik heute schon möglich. Lernen Sie uns jetzt auch kennen – 21 Tage lang, kostenlos und unverbindlich: