Strassberg

Über Solidarität

Alle Menschen müssen irgendwann sterben, aber sie wollen trotzdem nicht ein blosser Datenpunkt in einer Wahrscheinlichkeits­verteilung sein. Es ist ihr Tod.

Von Daniel Strassberg, 28.04.2020

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Ich bin schon wieder drauf reingefallen. Über Leute, die Enkel­betrügern auf den Leim gehen, mache ich mich lustig, dabei falle ich selbst immer wieder auf den Solidaritäts­trick rein.

Als die ersten Presse­konferenzen des Bundesrats ausgestrahlt wurden, habe ich tatsächlich geglaubt, es habe sich etwas verändert. Die ernsthafte Ruhe von Alain Berset, die sachlichen, unideologischen, klar verständlichen Erklärungen von Ueli Maurer. Wie Guy Parmelin, das unfähige Seco umgehend, mit Arbeitgebern und Gewerkschaften innert kürzester Zeit ein Massnahmen­paket schnürte. Das alles nötigte Respekt ab. Während einiger Wochen dachte ich tatsächlich, dass der Bundesrat die Solidarität, die er einfordert, auch vorlebt. Und dass davon etwas bleiben wird, dass in Zukunft solidarischer Politik gemacht werden wird. So naiv war ich.

Das schöne Bild bekam schon bald erste Risse, die konnte ich aber noch irgendwie übersehen.

Als ich jedoch dann den Brief eines Juristen las, der in offiziellem Auftrag Mitarbeiter des Gesundheits­wesens auffordert, alten Menschen nahezulegen, keinen Beatmungs­platz zu beanspruchen, weil sie ohnehin nicht gerne leben, da wurde mir speiübel. Euthanasie als Selbstbedienungs­artikel. Nicht, dass man über das richtige Vorgehen nicht unterschiedlicher Meinung sein kann, aber die Kaltschnäuzig­keit, mit der Reiner Eichenberger und Magdalena Martullo-Blocher Menschenleben zur Disposition stellen, und das im Namen der Solidarität, war schon unglaublich bedrückend.

Der Mensch als Maschine

Seither beschäftigt mich die Frage, weshalb wir uns mit Solidarität so schwertun, weshalb sie so kurzlebig ist. In der Flüchtlings­krise 2015 hielt sie gerade mal drei Monate an, und jetzt waren es noch weniger.

Die Antwort ist so einfach wie erschreckend: weil Solidarität unvernünftig ist. Zumindest wenn man den Vernunfts­begriff von Eichenberger und Martullo-Blocher in Anschlag bringt. Überall war zu lesen, wie irrational sich diejenigen verhielten, die Toilettenpapier hamsterten. Falsch. Hamstern ist vernünftig. Niemand hamstert nämlich, weil er fürchtet, die Produktion von Toilettenpapier würde ins Stocken geraten oder es bräche zusätzlich eine Durchfall­pandemie aus. Man fürchtet vielmehr, und das zu Recht, wie wir gesehen haben, dass alle anderen Toilettenpapier hamstern werden. Nicht weil sie Idioten wären, sondern weil sie dieselben Überlegungen wie wir anstellen. Wer hamstert, setzt also seine Vernunft erfolgreich zur Durchsetzung seiner Eigen­interessen durch. Hamstern ist Ausdruck einer ausgesprochen zielorientierten und effizienten Vernunft.

Im Jahre 1740 schrieb der schottische Aufklärer David Hume den folgenschweren Satz nieder: «Die Vernunft ist nur Sklavin der Leidenschaften – und sollte es auch sein.» Mit einem Federstrich landete das alte, letztlich religiös gefärbte Menschenbild, wonach der Mensch zwischen Vernunft und Leidenschaft hin- und hergerissen ist, auf der Müllhalde der Geschichte.

Der Mensch unterscheidet sich von den anderen triebgesteuerten Tieren in nichts – ausser dass er über eine Vernunft verfügt, die ihm hilft, seine Leidenschaften und Begierden, seine Wünsche und Lüste besser durchzusetzen. «Der Mensch ist ein besonders schlaues Tier», schrieb ein anderer Aufklärer, Bernard de Mandeville, einige Jahre vor Hume. Die Vernunft hatte die Seite gewechselt. Sie war nicht mehr die Gegnerin der Leidenschaften, sondern ihre Magd.

Eigene Interessen zu verfolgen – so hiessen die Leidenschaften nun –, war plötzlich nicht mehr verwerflich, sondern legitim, ja für ein von Natur aus triebgesteuertes Tier unumgänglich. Und nichts anderes war der Mensch. Auf eigene Interessen zu verzichten, war demnach für diesen, vor allem in Frankreich beheimateten Zweig der Aufklärung, unvernünftig. Der extremste Vertreter dieser Auffassung war der berüchtigte Marquis de Sade.

Die Umwälzung des Menschenbilds in der Aufklärung war zunächst eine grosse Befreiung: Endlich waren Begehren und Lust nicht mehr anrüchig, sondern legitimer Teil der menschlichen Natur. Für manche waren sie sogar die menschliche Natur selbst. Doch die neu gewonnene Freiheit hatte ihren Preis: Sie war von Anfang an leer. Man kann sich zwar frei entscheiden, aber es spielt absolut keine Rolle, wie man sich entscheidet, denn was der Einzelne tut, ist für den Lauf der Geschichte völlig belanglos. Weil es im Grunde keine Geschichte mehr gibt, sondern nur eine Natur, die ihr Programm wie eine Maschine abschnurrt.

«L’homme machine» hiess denn auch ein weiteres skandal­umwittertes Buch jener Zeit: Der Mensch sei eine Maschine, die nichts anderes kann und nichts anderes will, als Geld, Ruhm und Sex anzuhäufen. Es gibt zwar schlauere Menschen und weniger schlaue, es gibt solche, die schneller arbeiten und solche, die eher ermüden, doch diese Differenzen sind nicht Ausdruck einer individuellen Persönlichkeit, sondern sie sind Abweichungen von einem Mittelwert. Und dass sich Abweichungen letztlich die Waage halten, lehrt uns die Wahrscheinlichkeits­rechnung – die übrigens damals erfunden wurde. Wegen dieser Abweichungen sind Handlungen Einzelner nicht besonders gut vorhersehbar. Das Verhalten von Massen ist es aber wohl.

Ich will gemeint sein

Solidarität appelliert immer an ein Wir, doch es gibt sehr unterschiedliche Arten, wir zu sagen. Wir Christen haben denselben Glauben, wir Sozial­demokraten haben dasselbe politische Ziel, wir Patrioten haben denselben Feind, wir Bauarbeiter haben dieselbe Aufgabe. Häufig konstituiert sich das Wir auch um eine Führerfigur, dann wird es besonders gefährlich: wir Freudianer, wir Stalinisten.

Das Wir, das sich in der Zeit der Aufklärung ausbildete, ist aber von anderer Art, es ist ein statistisches Wir, eine von der Natur gebildete amorphe Masse: Ich gehöre im Moment zum Wir der über 65-Jährigen mit drei Risikofaktoren. Ausser diesen statistischen Grössen haben wir schlechthin nichts gemeinsam. Ich bin ein Eintrag in einer riesigen Datenbank. Oder ein Molekül einer Gaswolke.

Die meisten Menschen haben grosse Widerstände, sich selbst als statistische Grösse zu verstehen. Sie wollen nicht ein Punkt auf der Gauss’schen Verteilkurve, ein Rädchen in der totalen Staats­maschinerie, eine bedeutungslose Abweichung von einem Mittelwert sein. Sie wollen nicht bedeutungslos sein.

Leo Tolstoi brachte diesen Wunsch, nicht ein auswechselbares statistisches Datum zu sein, in der Novelle «Der Tod des Iwan Iljitsch» auf wunderbare Weise auf den Punkt:

In seinem tiefsten Innern wusste Iwan Iljitsch, dass er sterben müsse, allein er wollte sich nicht nur nicht an diesen Gedanken gewöhnen, sondern konnte ihn einfach nicht begreifen, die nackte Tatsache nicht begreifen. Jenes bekannte Beispiel für Syllogismen, das er in der Logik von Kiesewetter gelernt hatte: Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, also ist auch Cajus sterblich, war ihm sein ganzes Leben hindurch rechtmässigerweise lediglich als auf Cajus anwendbar vorgekommen, keinesfalls aber auf ihn, Iwan Iljitsch, selber. Jenes war der Mensch Caius, der Mensch überhaupt, und für diesen war das Gesetz völlig gerechtfertigt; er indes war nicht Cajus und ebensowenig der Mensch an sich, sondern er war ein Wesen völlig für sich und völlig von allen anderen verschieden; er war der Wanja mit seiner Mama und seinem Papa, mit Mitja und Wolodja, mit Spielzeug und einem Kutscher, mit seiner Kinderfrau und späterhin mit Katjenka, kurz, mit allen Freuden, Leiden und Entzückungen der Kinderzeit und Jugend. War denn der Geruch des aus Lederstreif zusammengesetzten Balles, den Wanja so geliebt hat, etwa für Cajus bestimmt gewesen? Und hatte Cajus etwa, wie er, die Hand der Mama geküsst? Und hatte vielleicht für jenen die Seide des Faltenkleides der Mama gerauscht?

Cajus, der war in der Tat sterblich, und wenn er starb, so war es ganz in der Ordnung; ich dagegen, ich, Wanja, ich, Iwan Iljitsch, mit all meinen Gefühlen und Gedanken – bei mir ist es nun einmal eine ganz andere Sache. Und es kann ja gar nicht sein, dass auch ich sterben muss. Das wäre entsetzlich.

Derart waren seine Gefühle.

Leo Tolstoi: «Der Tod des Iwan Iljitsch».

Menschen haben kein statistisches Selbstverhältnis. Darin liegt die Grausamkeit der Aufforderung, auf Beatmung zu verzichten: Es wird verlangt, sich selbst statistisch zu betrachten. Doch auch ältere Menschen wollen in der Welt vorkommen, sie wollen eine Rolle spielen. Es geht ihnen nicht in erster Linie um Anerkennung, auch nicht mehr um Ehre oder Ruhm, es geht ihnen darum, dass es auf sie, genau auf sie ankommt. Tatsächlich verlangt die Solidarität à la Eichenberger von uns, sich selbst auf einen Punkt einer exponentiellen Kurve zu reduzieren. Das geht nicht lange gut. Natürlich will (fast) niemand in eine Welt zurück, in welcher Gott jede unserer Sünden sieht und gleich bestraft. Aber damals spielte das Handeln des Einzelnen wenigstens für das Seelenheil noch eine Rolle.

Allerdings stimmt das alles nicht, wenn es um die Kinder und Eltern, um Freunde und Geschwister geht. Da können wir plötzlich auch über sehr lange Zeit solidarisch sein. Das Gesetz der Solidarität könnte lauten: Je mehr Personen unsere Solidarität gilt, desto kürzer ist ihre Halbwertszeit. David Hume fand die Erklärung für den geringen Radius von Solidarität in der Natur des Menschen: Blut sei dicker als Wasser, meinte er, mit der Familie solidarisch zu sein, sei ein natürlicher Instinkt.

Die nicht naturalistische Erklärung dafür lautet: Mein Sohn ruft mich in der Not an, er zieht mich zur Verantwortung und nicht irgendeinen. Ich bin für ihn nicht ersetzbar, es ist ihm wichtig, dass ich solidarisch bin und nicht irgendein Cajus. Ich spiele eine Rolle.

David Hume schrieb der Vernunft die Fähigkeit zu, die natürlichen Gefühle bewusst so weit auszudehnen, dass sie letzten Endes der ganzen Menschheit gelten. Diese Hoffnung hat sich zerschlagen, wie mir scheint. Solidarität mit der ganzen Menschheit wird so lange versagen, wie die naturalistische Vernunft noch Geltung hat, die den Einzelnen wie ein Gasmolekül behandelt. Oder mit anderen Worten: solange das Universale eine Zahl und keine Idee ist.

Illustration: Alex Solman

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