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So viel dazu. Fragen?

24.04.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Eva Novak berichtet seit über 30 Jahren aus Bern. Wir haben sie gefragt: Wie funktioniert Bundeshausjournalismus in der Krise?

Sie hat geantwortet: Krise gab es immer mal wieder. Etwa im Winter 1988/89. Stundenlange Sitzungen hinter verschlossenen Kommissionstüren. Vor der Tür standen wir Bundeshaus-Journalisten – die Männer in der Mehrzahl, die Frauen waren damals nur mitgemeint. In Gruppen werweissend, auf News wartend. Die kamen oft erst gegen Mitternacht. Dann: Die FDP drängt ihre erste Bundesrätin zum Rücktritt, das Parlament setzt eine parlamentarische Untersuchungskommission zur Kopp-Affäre ein; sie deckt später die Fichenaffäre auf.

Die Bundesräte – die Frauen waren damals nicht mitgemeint – bekamen Journalisten damals kaum zu Gesicht. Ganz anders heute. In normalen Zeiten tritt höchstens ein Bundesrat oder eine Bundesrätin nach der Sitzung der Landesregierung vor die Medien. In diesen Tagen sind es oft zwei, häufig gar drei oder gleich vier. Solch geballte magistrale Kraft gibt es sonst nur selten, etwa vor wichtigen europapolitischen Weichenstellungen. Und sicher nicht ein- bis zweimal pro Woche wie derzeit.

Mehr Bundesräte sprechen vor weniger Journalistinnen. Denn mit den Plätzen im Konferenzsaal des Medienzentrums Bundeshaus ist es wie mit den Intensivbetten: Man dachte, sie würden knapp. Also hat die Bundeskanzlei sie vorsorglich rationiert und für den nötigen sozialen Abstand gesorgt. Nicht mehr als eine Vertretung pro Medium darf vor Ort präsent sein, höchstens eine weitere kann sich telefonisch zuschalten.

Die so selektionierten zwei bis drei Dutzend der rund 150 akkreditierten Bundeshausjournalistinnen finden sich plötzlich im Schaufenster wieder. Wie üblich werden die bundesrätlichen Medienkonferenzen übertragen. Neu aber auf allen Kanälen. Und anstatt nur ein paar Dutzend Zuschauer wie in normalen Zeiten erreichen die Konferenzen Einschaltquoten wie die Spiele von Roger Federer. Und wie bei Federer hat natürlich jeder und jede eine Meinung zur Performance der Journalisten, die den Bundesrat mit Fragen löchern.

Als sich gleich nach dem Lockdown die politischen Reihen lückenlos schlossen, war der leiseste Anflug von Kritik verpönt. Selbst Nachfragen zur Klärung des Sachverhalts oder zur Verlässlichkeit der Zahlenbasis kamen einem Sakrileg gleich. Was uns einfalle, den armen Bundesrat dermassen in die Ecke zu drängen, hiess es. «Peinlich» sei das, «fragwürdig» oder gar «jämmerlich», schreibt ein Mann per Mail. Inzwischen hat die Stimmung gedreht. Die Fragen seien viel zu unkritisch, wird auf Twitter moniert.

Bekannte melden sich nach jahrelanger Funkstille plötzlich und sagen, was wir so alles erfragen sollten. Mitten in der Medienkonferenz erhalten wir SMS oder Mails, in denen Politikerinnen, Verbandsfunktionäre oder Leser ihre Fragen beisteuern – in der Erwartung, dass wir diese (1:1 und unhinterfragt) übernehmen.

Unbekannte kontaktieren uns über Facebook, Twitter oder Linkedin. Sie googeln die Namen und rufen zu Hause an. Letzten Sonntag etwa legte mir ein freundlicher Herr telefonisch ans Herz, unbedingt mal eine Frage zu den Reitschulen zu stellen. Denn die verlören auch sehr viel Geld.

Und dann gibt es noch die Anrufe von Menschen, die das Virus an ihre Grenzen bringt. Sie melden sich weinend und erzählen, dass sie den Briefkasten nur mit Handschuhen zu öffnen wagten und den Inhalt zwecks Desinfektion tagelang ungeöffnet an der Sonne liegen lassen würden. Sie flehen, dem Bundesrat auszurichten, wie sehr sie um ihr Leben fürchten. Solche Anrufe gilt es angemessen zu beantworten, ohne falsche Hoffnungen zu wecken.

Auch Seelsorge gehört neuerdings zum Job.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Die neuesten Fallzahlen: Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zählt die Schweiz heute mindestens 28’677 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Bis Anfang April kamen täglich neue Fälle im vierstelligen Bereich dazu. Mittlerweile liegt die Zahl im niedrigen dreistelligen Bereich. Heute Morgen lag dieser Wert bei 181.

Reisebranche bittet um Hilfe: Der Schweizer Reise-Verband verlangt in einem offenen Brief ein Gespräch mit dem Bundesrat, um ein zusätzliches Hilfspaket zu verhandeln. Das sei nötig geworden, nachdem sich die Regierung letzte Woche nun doch gegen einen vorübergehenden Rechtsstillstand ausgesprochen habe. Dieser hätte den Reisebüros ermöglicht, das Geld für die bereits gebuchten Reisen zwischen März und Mitte Mai nicht sofort an die Kunden zurückzahlen zu müssen. Nun droht vielen der Konkurs, weil sie selber getätigte Zahlungen an Airlines und Hotels nicht in absehbarer Zeit zurückerstattet erhalten.

Gastronomen wehren sich gegen Versicherungskonzerne: Versicherungen, die mit ihren Kunden eine Epidemieversicherung abgeschlossen haben, müssen auch bei einer Pandemie zahlen. Zu diesem Schluss kommt eine Rechtsabklärung, die der Verband Gastrosuisse in Auftrag gegeben hat. Sie wurde nötig, weil mehrere Versicherungen nicht für die durch die Corona-Pandemie verursachten Schäden aufkommen wollten. Laut den beauftragten Anwälten fielen bislang Axa, Helvetia und Generali besonders negativ auf. Gastrosuisse fordert die Versicherungen nun zu Verhandlungen auf.

Uno kritisiert Angriffe auf Journalisten: Die Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, ist alarmiert über den Umgang mehrerer Länder mit der unabhängigen Presse. «Einige Staaten haben den Ausbruch des neuen Coronavirus zum Vorwand genommen, um Informationen einzuschränken und Kritik zu ersticken», kritisiert sie. «Eine glaubwürdige, korrekte Berichterstattung ist eine Lebensader für uns alle.» Einige Politiker würden mit ihren Äusserungen die Sicherheit von Journalisten aufs Spiel setzen. Bachelets Sprecher nannte etwa Donald Trump und Recep Tayyip Erdoğan. Nach Angaben des Internationalen Presseinstituts (IPI) wurden seit Beginn der Krise fast 40 Journalisten festgenommen oder angeklagt, weil sie Regierungsangaben zur Corona-Krise hinterfragten.

Die besten Tipps fürs Wochenende

Vor uns steht das siebte Wochenende ohne Konzerte, Partys, Lesungen oder Theater. Und wie es aussieht, dauert es noch viele Wochenenden, bis wir gemeinsam mit anderen Menschen wieder Livekultur erleben dürfen. Wir haben Ihnen darum für dieses Wochenende vier Events herausgesucht, die immerhin einen Hauch von kulturellem Gemeinschaftsgefühl versprühen.

  • Das PlayOn Fest ist ein Musikfestival auf Youtube, das die künstliche Leere von Streaming-Konzerten mit echten Liveauftritten zu kompensieren versucht. Bis Sonntagabend werden die besten Auftritte der letzten Jahre von Grössen wie Coldplay, Flaming Lips, Korn oder Bruno Mars gezeigt. Es gibt sogar einen Zeitplan, um 18 Uhr ging es los.

  • Bei der Partyreihe «Club Dihei», der Plattform für Schweizer Clubkultur UBWG, kann man DJs im Livestream zuhören und zuschauen. Heute Abend etwa dem Solothurner Duo Kellerkind. Für Sonntag ist gar ein achtstündiger «Great Big Disco Sunday» angekündigt. Unser Lieblingsfeature: Man kann den DJs Drinks spendieren, die ihnen dann live serviert werden.

  • Das Opernhaus Zürich hat einen Online-Spielplan mit kürzlich aufgeführten Stücken zusammengestellt. Die kurzweilig geschnittenen Aufnahmen sind jeweils während eines Wochenendes gratis streambar. Von heute bis Sonntagabend wird E. T. A. Hoffmanns schwarzromantisches Märchen «Nussknacker und Mausekönig» als Ballett gezeigt. Nächstes Wochenende ist dann Verdis Oper «Nabucco» an der Reihe.

  • Passend zum 25-Jahr-Jubiläum von «(What’s the Story) Morning Glory», dem erfolgreichsten Album der Britpop-Grösse Oasis, veranstalten eingefleischte Fans der Band heute Abend ab 20.55 Uhr eine virtuelle House Party. Es werden nur Oasis-Songs gespielt – und davon gibt es bekanntlich genügend gute.

Frage aus der Community: Weiss man, wie viele Personen in der Schweiz infiziert worden sind?

Nein. Aber möglicherweise bald. Die offiziellen Infektionszahlen des Bundesamts für Gesundheit bilden nur die Fälle ab, die mit einem Test bestätigt wurden. Weil viele Menschen sich nicht testen lassen (können), das Virus aber trotzdem tragen und keine oder nur vergleichsweise schwache Symptome zeigen, dürfte die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegen. Um abzuschätzen, wie viele Menschen sich tatsächlich schon mit Sars-CoV-2 angesteckt haben, können Wissenschaftler mit Stichproben arbeiten. Dabei testen die Forscherinnen eine statistisch signifikante Gruppe von Menschen, ermitteln die positiven Fälle und rechnen diese auf die Bevölkerung hoch. Mehrere Kantone haben solche Studien aufgegleist, und Anfang nächste Woche sollen erste Schätzungen für die Gesamtschweiz vorliegen. Seine Resultate bereits publiziert hat das Universitätsspital Genf. Demnach haben sich im stark von der Pandemie betroffenen Kanton Genf schon mindestens 5,5 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infiziert – fast sechsmal mehr Menschen, als bisher positiv getestet wurden. Die Forscher unterstreichen aber in ihrer Mitteilung vom Mittwoch, dass die Ergebnisse noch mit Vorsicht interpretiert werden müssten. Die Schätzung sei mit grossen Unsicherheiten verbunden.

Zum Schluss ein Blick nach Rumänien, wo der Staat gerade Millionen mit Corona-Bussen verdient

Verlassen darf in Rumänien das Haus oder die Wohnung nur, wer triftige Gründe angeben kann, also etwa zur Arbeit fahren oder Lebensmittel einkaufen gehen muss. Wer gegen die Regeln verstösst, wird mit einer drakonischen Busse von bis zu 20’000 Lei belegt – entspricht ungefähr 4400 Franken. Im Durchschnitt verdienen die Rumänen etwa 3000 Lei pro Monat. Nun scheint es, als hätte die rumänische Regierung im Lockdown auch eine lukrative Einkommensquelle verortet. Seit dem 24. März haben die örtlichen Behörden bereits 220’000 Bussen in einer Gesamthöhe von circa 93 Millionen Franken verteilt – gleich viel Geld, wie der Staat im Monat Februar mit der Unternehmensgewinnsteuer eingenommen hat. Zum Vergleich: Grossbritannien hat in derselben Zeitspanne mit einer dreimal grösseren Bevölkerung nur 3500 Bussen verteilt in einer Maximalhöhe von 60 Pfund – also etwa 70 Franken. Funfact: Die Polizei hat sogar einen von Bukarests Bürgermeistern gebüsst. Er musste umgerechnet rund 2000 Franken bezahlen, weil er in der Hauptstadt durch einen öffentlichen Park geradelt ist. Wohl die teuerste Ausfahrt seines Lebens.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis Montag.

Philipp Albrecht, Elia Blülle, Oliver Fuchs und Eva Novak

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Tatsächlich-noch-US-Präsident Donald Trump dachte an der gestrigen Medienkonferenz laut darüber nach, ob man Corona-Erkrankten nicht Desinfektionsmittel spritzen könne, quasi als «Injektion in den Körper, fast wie eine Reinigung». Seine Taskforce-Koordinatorin wäre neben dem Rednerpult am liebsten im Boden versunken. Zum Glück hat jemand daraus ein Video geschnitten und mit passender Musik unterlegt.

PPPPS: Trump ist nicht der Einzige mit bescheuerten Corona-Ideen. In Kenia hat ein Gouverneur «Corona Care Packages» an die Bürger verteilt – und ein Fläschchen Cognac beigelegt. Als «Rachen-Desinfektionsmittel».

PPPPPS: Und nein. Bier, Wein, Schnaps töten das Virus nicht ab. Wirklich nicht. Aber Sie können sich damit aufs Wochenende einstimmen. Zum Beispiel mit einem Negroni, rezipiert von Schauspieler Stanley Tucci? Das geht aus unerfindlichen Gründen gerade viral. Prost!

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