
Machtmissbrauch eines Amtsarztes
Ein St. Galler Gefängnisarzt wird wegen seiner puritanischen Moral verurteilt. Er drückt den Drogenentzug eines Insassen durch, gegen dessen Willen – und damit gegen das Gesetz.
Von Sina Bühler, 22.04.2020
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Einmal im Monat gibt die St. Galler Staatsanwaltschaft auf Verlangen die Liste der aktuellen Strafbefehle heraus. Akkreditierte Journalistinnen blättern sie durch, schauen sich Seite um Seite, Namen um Namen, Delikt um Delikt an. Eine mühselige Fleissarbeit, die aber wichtig ist, wird doch der allergrösste Teil der Straffälle im Strafbefehlsverfahren erledigt.
Manchmal sind es die Straftaten, die auffallen – oder deren Häufung. Und manchmal ist es ein Name. So wie auf dieser Liste: Am 11. März 2020 verurteilte die St. Galler Staatsanwaltschaft Ralph Aschwanden wegen einfacher Körperverletzung. Der Strafbefehl ist rechtskräftig geworden und damit zum Urteil mutiert.
Normalerweise müssen Medien die Namen von Verurteilten anonymisieren, in diesem Fall nicht. Ralph Aschwanden ist erstens ein in der Öffentlichkeit bekannter Mann, und er hat zweitens die Tat in seinem Amt begangen. Der Verurteilte ist einer von 25 Amtsärzten im Kanton St. Gallen, ernannt von der Gesundheitsdirektion.
Ort: Untersuchungsamt Altstätten
Datum: 11. März 2020
Fall-Nr.: ST.2018.30755
Thema: Körperverletzung
Die Gesetzeslage ist eindeutig und unmissverständlich: «Medizinische Behandlungen (…) während eines Straf- oder Massnahmenvollzugs bedürfen der Zustimmung der betroffenen Person», heisst es in Artikel 61 des St. Galler Einführungsgesetzes zur eidgenössischen Strafprozessordnung.
Exakt derselbe Satz steht auch im Handbuch für Amtsärzte des Kantons St. Gallen.
Die Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin wiederum empfiehlt, bestehende substitutionsgestützte Therapien im Gefängnis weiterzuführen und erzwungene Abstinenz zu vermeiden. Und ein Grundsatz des Bundesamts für Gesundheit lautet: «Die informierte Einwilligung der Person in ihre Behandlung ist einzuholen.» Gemeint ist ebenfalls die Situation im Gefängnis. Die Ausgangslage könnte also klarer nicht sein.
Doch Amtsarzt Aschwanden sah Interpretationsspielraum.
Knallharter Entzug
Zu Aschwandens Aufgaben gehört die Tätigkeit als Gefängnisarzt in Gossau. Dorthin wurde Daniel Berger (Name geändert) am 11. Juli 2018 eingeliefert, um eine Reststrafe anzutreten. Der damals 48-jährige Mann kam direkt von einem dreiwöchigen Spitalaufenthalt wegen eines gebrochenen Fusses. Seit er 18 Jahre alt ist, ist Berger drogenabhängig, bezieht aber schon mehr als zehn Jahre Methadon. Wegen der starken Schmerzen im Bein hatte ihm sein Hausarzt das Methadonrezept von 50 auf 90 Milligramm täglich erhöht. Mehr habe er nicht nehmen wollen, wird Berger später der Polizei erzählen, obwohl ihm der Hausarzt zusätzlich eine Reserve von 20 Milligramm verschrieben habe.
Für Gefängnisarzt Aschwanden war die Dosis bereits mit 90 Milligramm zu hoch. Die Abgabe von Betäubungsmitteln widerstrebe ihm, heisst es auf seiner Website unter dem Stichwort «Gefängnisarzt»: «Es ist gegen jegliche moralische Haltung von Dr. Aschwanden, dass er im Gefängnis in Drogendealer-Manier betäubende Medikamente abgibt, nur damit Ruhe im Gefängnis herrscht.» Aschwanden, der in Uzwil SG eine Psychiatriepraxis betreibt, will, «dass sich die Inhaftierten bei klarem Kopf mit ihren Taten auseinandersetzen können».
Und so teilt er Daniel Berger bei dessen Ankunft im Gefängnis Gossau mit, er baue jetzt das Methadon ab. Berger erklärt, er sei nicht einverstanden. Er sei nicht grundsätzlich gegen einen Entzug, aber nicht zu diesem Zeitpunkt, nicht mit dem gebrochenen Fuss.
Bergers Bedenken zum Trotz reduziert Aschwanden die Methadondosis innert zwei Wochen von 90 auf 50 Milligramm. Eine Woche später zieht er weitere 10 Milligramm ab. Immer gegen den Willen des ihm anvertrauten Patienten. Dieser wird später erzählen, er habe an doppelten Schmerzen gelitten, nächtelang nicht mehr geschlafen und versucht, sich mit allen Mitteln gegen die Behandlung zu wehren. Er schreibt Briefe an seinen Anwalt und an die Staatsanwältin, teilt dem Arzt immer wieder mit, er sei nicht einverstanden. Doch Aschwanden zieht den Entzug durch.
Provokationen und Tätlichkeiten
Berger ist bereits fünf Wochen inhaftiert, als er am 16. August 2018 gefragt wird, ob er den Gefängnisarzt sehen wolle. «Auf keinen Fall», antwortet der Insasse, der befürchtet, dass seine Methadondosis noch weiter reduziert werde. Die Polizisten, die das kleine, veraltete Gefängnis beaufsichtigen, fragen mehrmals nach. Berger lehnt jedes Mal ab. Sagt ihnen, er könne den Mann gerade überhaupt nicht «verliide».
Aschwanden besucht ihn trotzdem und droht ihm genau das an, was der Insasse befürchtet hat: Er streiche jetzt auch noch die verbliebenen 40 Milligramm Methadon. Berger wehrt sich erneut. Es kommt zu einem hässlichen Wortgefecht. Der Methadonabhängige sagt dem Gefängnisarzt, er solle verschwinden. Wenn er nochmals komme, haue er ihm die Faust in die Fresse. Er schmeisst ihm seine Krücken nach, die nur die Türe treffen. Kurze Zeit später kommt Aschwanden zurück. Warum ist nicht klar.
Als Berger später dazu befragt wird, meint er, der Arzt habe ihn provozieren wollen, ihm zeigen, dass er mit Leuten im Gefängnis machen könne, was er wolle. Er habe Aschwanden mitgeteilt, eine Anzeige gegen ihn einzureichen, worauf der Arzt nur spöttisch gelacht habe. In dieser Situation sieht Berger rot und versucht seinen Widersacher zu ohrfeigen. Weil Aschwanden viel grösser ist und Berger der gebrochene Fuss wegknickt, erwischt er nur die Brille, die zu Boden fällt. Der Arzt habe ihm dann mit den Händen ein Zeichen gemacht, ihn zu sich gewinkt, er solle nur kommen und weiterschlagen. Ein Polizist geht dazwischen, und Berger wendet sich ab. Weil er den Polizisten gut gemocht habe, wie er später aussagen wird.
Aschwanden reduziert das Methadon tatsächlich um weitere 5 Milligramm und zeigt den Insassen wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte und Behörden an. Dieses Verfahren ist noch hängig.
«Ich dachte, irgendjemand muss den stoppen»
Ralph Aschwanden äussert sich normalerweise gerne in den Medien. Er lässt sich als Experte zu Gerichtsfällen befragen und kritisiert seine Berufskollegen aus der Ferne. Mit Sätzen, wie sie der Boulevard liebt. Auch in der Republik tauchte sein Name schon auf – allerdings nicht als Experte: Aschwanden hatte im Zusammenhang mit dem «Mord auf dem Ricken» ein fragwürdiges psychiatrisches Gutachten erstellt. Dieses hatte zur Folge, dass das Kreisgericht See-Gaster SG einen Mann zu 20 Jahren Freiheitsstrafe und zur Verwahrung verurteilte. Erst ein Zweitgutachten, das jenem von Aschwanden komplett widersprach, führte dazu, dass das Kantonsgericht als zweite Instanz beim Täter eine schwere Schizophrenie und damit dessen Schuldunfähigkeit erkannte.
Für Aschwanden hatte sein scharf kritisiertes Gutachten im Mordfall Ricken keine Konsequenzen. Ausser, dass ihm einige Richterinnen keine Aufträge mehr erteilen, wie es hinter den Kulissen heisst.
«Ich dachte, irgendjemand muss den stoppen. Ich hoffe, er wird in die Schranken gewiesen», sagte Daniel Berger bei einer polizeilichen Befragung zum Vorfall im Gefängnis Gossau. Es sei unmenschlich gewesen, das Leiden, die Schmerzen. Er sei davon ausgegangen, dass ein Arzt da sei, um Schmerzen zu nehmen; nicht, um Schmerzen zu geben.
Der Methadonabhängige zeigte den Gefängnisarzt an. Weil Aschwanden als Behördenmitglied gehandelt hatte, musste die St. Galler Anklagekammer für das Strafverfahren zuerst eine Ermächtigung erteilen. Das tat sie im März 2019. In ihrem Entscheid ist Aschwandens Rechtfertigung für den Zwangsentzug nachzulesen: Er sei zum Schutz des Patienten erforderlich gewesen. In einer Notfallsituation dürften medizinische Massnahmen auch gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt werden. Und Berger sei aufgrund der langjährigen Drogenabhängigkeit urteilsunfähig, was einen Entzug angehe.
Für die Anklagekammer sind diese Argumente nicht überzeugend: Es erschliesse sich nicht ohne Weiteres, schreibt sie, weshalb «bei einem langjährigen Drogenkonsumenten nun genau im Gefängnis Gossau gegen dessen Willen und bei gebrochenem Fuss ein Methadonentzug notfallmässig hat durchgeführt werden müssen». Ausserdem stelle das allfällige Vorenthalten von Methadon gemäss Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine unmenschliche Behandlung dar, die zu einem Strafverfahren führen müsse.
Jetzt geht die Behörde der Sache nach
Ein Jahr später stellt die Leitende St. Galler Staatsanwältin Petra Hutter gegen Aschwanden einen Strafbefehl wegen einfacher Körperverletzung aus. Auffällig ist, dass Hutter von einer Strafe absieht und grosses Verständnis für den Arzt zeigt. Es sei zwar kein leichter Fall von Körperverletzung gewesen, doch Aschwanden habe in bester Absicht gehandelt, «indem er die Zeit, in der sich der Privatkläger noch im Strafvollzug befand, dazu nutzen wollte, ihm zu einem künftig drogenfreien Leben zu verhelfen. Für die Gesundheit des Beschuldigten insgesamt war die Massnahme sogar förderlich, belastete er seinen Organismus doch über mehrere Wochen hinweg weniger mit Drogen.»
Dies entspricht just der Haltung, wie sie Aschwanden auf seiner Website vertritt: Gewisse Leute müssten zur Gesundheit gezwungen werden, so lohne sich ein Gefängnisaufenthalt. Oder: «Dass gewisse ‹Suchtexperten› ausschliesslich freiwillige Entzüge empfehlen, ist eine politische Haltung. Dieselben Leute fordern auch eine Liberalisierung aller Drogen, ebenfalls eine politische Haltung, die beide Dr. Aschwanden nicht teilt.»
Der Amtsarzt und Gerichtspsychiater liess die Fragen der Republik zum Strafbefehl und zu seiner Haltung, was die Zwangsentzüge betrifft, unbeantwortet.
Geantwortet hat hingegen das St. Galler Gesundheitsdepartement auf die Frage, ob Aschwanden als Amtsarzt noch tragbar sei. Weil ihnen erst der Strafbefehl vorliege, sei noch unklar, welche Sachverhaltsumstände dazu geführt hätten, dass die Staatsanwaltschaft von einer Strafe Abstand genommen habe. «Um hier Klarheit zu schaffen, hat das Gesundheitsdepartement bei der Staatsanwaltschaft um umfassende Einsicht in die Strafakten ersucht. Erst nach sorgfältiger Würdigung der Strafakten und nach Anhörung des betroffenen Amtsarztes wird das Gesundheitsdepartement entscheiden, ob der betroffene Arzt weiterhin als Amtsarzt tätig bleiben kann», schreibt Generalsekretär Donat Ledergerber.
Illustration: Till Lauer